Turnen

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Turnen ist ein Teilbereich des Sports. Ursprünglich eine Sammelbezeichnung für sämtliche Arten körperlicher Ertüchtigung, einschließlich etwa des Schwimmens und des Wanderns, findet der Ausdruck heute, sowohl in der wissenschaftlichen Terminologie als auch in der Alltagssprache, nahezu ausschließlich noch für das Boden- und Gerätturnen Verwendung. Hierzu gehören auch etwa das Trampolinturnen oder das Rhönradturnen. Der Turnlehrer wurde zum Sportlehrer, die Turnhalle zur Sporthalle, der Turnschuh zum Sportschuh. Für das organisierte Turnen in Deutschland gilt Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) als Begründer. Turnen entwickelt konditionelle Fähigkeiten (Fitness) und koordinative Fähigkeiten (siehe hierzu die Geschichte des Sports).

Organisation

Der Fachverband in Deutschland ist der Deutsche Turner-Bund (DTB), der zweitgrößte Fachverband nach dem Deutschen Fußball-Bund im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). Auffällig ist der hohe Frauenanteil beim DTB. In der Schweiz ist es der Schweizerische Turnverband, der 1985 nach der Fusion mit dem Frauenturnverein als Nachfolgeverein aus dem Eidgenössischen Turnverein hervorging.

Geschichte

Datei:Turner 1895.jpg
Bilder vom Stiftungsfest des Leipziger Allgemeinen Turnvereins 1895 (nach einer Zeichnung von A. Liebing)
Die Lübecker Hundertjahrfeier des deutschen Turnens in der Hauptturnhalle, Ansprache des Generals von Falk (25. März 1917)

In der (Schul-)Bildung des 18. Jahrhunderts spielte die körperliche Ertüchtigung praktisch keine Rolle. Lediglich in den Ritterakademien wurden Fechten und Tanzen gelehrt. Die Philanthropen der Aufklärung betrachteten dann den Geist und den Körper als eine Einheit,[1] weshalb körperliche Übungen zuerst in den 1770er Jahren am Philanthropinum in Dessau, bald darauf auch in Schnepfenthal eingeführt wurden.

Historisch begründet wurde die Turnbewegung 1807 in Deutschland vom ‚Turnvater‘ Friedrich Ludwig Jahn. Zwar gab es schon vorher verschiedene Formen der Gymnastik, doch fügte er den bis dahin bekannten Geräten zahlreiche weitere hinzu, wie etwa den Barren und das Reck, und verwendete für den Umgang mit ihnen den Ausdruck Turnen.[2] Infolge der Besetzung Europas durch Napoleon wurde das Turnen ab 1811 eine Schule der „patriotischen Erziehung zur Vorbereitung auf den Befreiungskrieg“. Jahn strebte somit nicht, wie die Philanthropen der Aufklärung, die Erziehung des einzelnen Individuums, sondern die geistige Formung einer Nation an. Daher bildeten sich im Zuge des „Erwachens nationaler Identitäten“ (Nationenbildung) ziemlich bald auch Ableger des Jahnschen Turnens in der Schweiz (im Jahr 1802 wurde der Telliring als erster öffentlicher Turnerplatz in der Schweiz angelegt).[3] Die enge Verbindung mit dem frühen Burschenschaftswesen und die nationale Ausrichtung, welche die Überwindung der deutschen Kleinstaaterei anstrebte, führte in den meisten Kleinstaaten Deutschlands von 1820–1842 zum Verbot des Turnwesens, der sogenannten Turnsperre. Die Geschichte des Turnens sowie das Leben und Wirken von Friedrich Ludwig Jahn ist im Friedrich-Ludwig-Jahn-Museum in Freyburg (Unstrut) dargestellt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte sich das Turnen in den Schulen als obligatorisches Schulfach. In Deutschland erweiterte Adolf Spieß das bis dahin übliche Gerätturnen um die Freiübungen.[4] Da es nach der Reichsgründung 1871 zu einer staatlichen „Schulreform von oben“ her kam, entwickelten sich in Deutschland das Vereins- und Schulturnen auf zwei verschiedenen Schienen weiter (siehe auch Schulsport). Anders verlief dieser Prozess in der Schweiz. Durch die erfolgreiche 1848er-Revolution gingen die liberal-national gesinnten Turner den gleichen Weg wie der Bundesstaat. In der Folge konnte sich der Eidgenössischen Turnverein rege in die Diskussion um die Gestaltung des Schulturnens mit einbringen (z. B. bei der Gestaltung des Lehrmittels). Einzelne Exponenten wie der Schweizer Turnvater Johannes Niggeler avancierten dabei zu direkten Beratern des Bundesrates.[5]

Das Turnwesen stand, aufgrund eines unterschiedlichen kulturellen Ursprungs, von Beginn an in Konkurrenz zum Sport (siehe die Geschichte des Sports). Erst im Zuge der „Versportung“ des Turnwesens und der Nationalisierung des Sports kam es nach längeren internen Konflikten (zeitweise zwei nationale Turnerzeitungen)[6] zu einem Abbau der Differenzen. So wurden auf der einen Seite sportliche Wettkämpfe wie die Olympischen Spiele zu einem „Gradmesser nationaler Tüchtigkeit“[7], und auf der anderen Seite hielt der Zeitgeist des Sports (Reglementierung, Spezialisierung, Methodisierung, Rationalisierung) auch im Turnwesen Einzug.[8] Dies führte zu einem veränderten Gebrauch des Begriffes Turnen. Galt er im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch für alle im Turnverein praktizierten Übungen, wird er heute nur noch für das Boden- und Gerätturnen verwendet. Auch für das Schulfach hat sich die Bezeichnung Schulsport bzw. Sport inzwischen allgemein gegenüber der alten Bezeichnung Schulturnen durchgesetzt. Der jahrzehntelang gebräuchliche Begriff Kunstturnen für das leistungsorientierte Turnen an den Geräten ist in Deutschland mittlerweile offiziell durch Gerätturnen, manchmal mit dem Zusatz olympisch, ersetzt. In Österreich wird der Begriff Kunstturnen weiterhin für die Bewerbe im olympischen Sechskampf verwendet.

Turnen in der Zeit des Nationalsozialismus

Nach der Machtübernahme der NSDAP haben die Turner versucht, sich als weitere Kolonne neben NSDAP, SA und SS zu etablieren und die Sportbewegung zu vereinnahmen. Ohne Not trennte man sich von seinen jüdischen und seinen sozialistischen Mitgliedern, führte den Arierparagraphen ein und wollte das Amt des Reichssportführers übernehmen. Edmund Neuendorff war auf nationaler Ebene die treibende Kraft, auf regionaler halfen ihm hierbei aber Turnführer wie Nikolaus Bernett in Oldenburg. Das Deutsche Turnfest 1933 in Stuttgart sollte die Übernahme besiegeln. Die NSDAP hatte jedoch andere Pläne, folgte den italienischen Modellen des Staatssports[9] und gliederte das Turnen als Fachamt (= unselbstständige Abteilung) in den neuen Reichsbund für Leibesübungen ein.[10] Während die Turner zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereit waren, sich von vielen Mitgliedern wegen der Antisemitismusfrage zu trennen, wollten sie nun Teil der NS-Bewegung werden.[11]

Disziplinen des Turnens

Zum Turnen zählen neben den klassischen Disziplinen Gerätturnen und Trampolinturnen im erweiterten Sinne auch die allgemeine Gymnastik, Rhythmische Sportgymnastik, Rhönradturnen, Aerobic, Akrobatik, Seilspringen und Voltigieren sowie verschiedene Turnspiele.

Das klassische Gerätturnen (bzw. Kunstturnen) besteht bei den Männern aus einem Sechskampf an den Geräten Boden, Pauschenpferd, Ringe, Sprung, Barren und Reck. Bei den Frauen werden vier Geräte geturnt: Sprung, Stufenbarren, Schwebebalken und Boden.

In der Schule, aber auch im Freizeit- und Breitensport, werden zunehmend wieder Inhalte, Geräte sowie Übungs- und Organisationsformen des sogenannten „Alternativen Turnens“ (Hindernisturnen, Erlebnis- und Abenteuerturnen, Bewegungslandschaften, geselliges Turnen) angewendet.

International werden das Allgemeine Turnen sowie die Sportarten Gerätturnen, Trampolinturnen, Rhythmische Sportgymnastik, Tumbling, Sportaerobic und Sportakrobatik durch die Fédération Internationale de Gymnastique (FIG, Internationaler Turnverband) und die Union Européenne de Gymnastique (UEG, Europäische Turnunion) vertreten.

Nacktturnen gehörte zu den Nacktsportarten.

Turnergruß

Der Turnergruß lautete „Gut Heil!“ und wurde um 1840 von Otto Leonhard Heubner geprägt. Beim Arbeiter-Turnerbund änderte sich der Gruß 1899 in „Frei Heil“.[12]

Verwandte Themen

Literatur

  • Erhard Hirsch: Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Personen – Strukturen – Wirkungen. Niemeyer, Tübingen 2003, ISBN 3-484-81018-1, S. 324–337.
  • J. Leirich, H.-G. Bernstein, I. Gwizdek: Turnen an Geräten. Praxisideen. Band 29, Hofmann-Verlag 2007, ISBN 978-3-7780-0291-9.
  • Oliver Ohmann: Turnvater Jahn und die Deutschen Turnfeste. Sutton, Erfurt 2008, ISBN 978-3-86680-264-3.
  • Stefan Kern: Turnen für das Vaterland und die Gesundheit. Der Eidgenössische Turnverein und seine Ansichten vom Schulturnen, dem freiwilligen Vorunterricht und dem Vereinsturnen 1900–1930. München 2009, ISBN 978-3-640-46240-7.
  • Julius Bohus: Sportgeschichte. Gesellschaft und Sport von Mykene bis heute. München 1986.

Weblinks

Commons: Turnen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Julius Bohus: Sportgeschichte. 1986, S. 105–118.
  2. Eins-zwei-drei. Ein Rückblick auf zwei Jahrhunderte Turnen und Sport in der Schweiz. DVD zum 175-jährigen Jubiläum des Schweizerischen Turnverbandes. Aarau 2007.
  3. Julius Bohus: Sportgeschichte. 1986, S. 105–118.
  4. Markwart Michler: Aus der Geschichte der Bewegungstherapie. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 24, 2005, S. 218.
  5. Michael Krüger: Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports. Schorndorf 1993; Stefan Kern: Turnen für das Vaterland und die Gesundheit. München 2009, S. 21.
  6. Arnd Krüger: Is there any sense in competition, specialization and the striving for records? The struggle between Turnen, sports and Swedish gymnastics in Germany. In: Guy Bonhomme (Hrsg.): La place du jeu dans l'éducation. Histoire et pédagogie. FFEPGV, Paris 1989, S. 123–140.
  7. Lutz Eichenberger: Die Eidgenössische Sportkommission. Thun 1998, S. 226.
  8. vgl. Julius Bohus: Sportgeschichte. 1986, S. 127.
  9. Arnd Krüger: The influence of the state sport of fascist Italy on Nazi Germany. 1928–1936. In: J. A. Mangan, R. Small (Hrsg.): Sport - Culture - Society. Spon, London 1986, S. 145–165.
  10. Arnd Krüger: „Heute gehört uns Deutschland und morgen…“? Das Ringen um den Sinn der Gleichschaltung im Sport in der ersten Jahreshälfte 1933. In: W. Buss, A. Krüger (Hrsg.): Sportgeschichte: Traditionspflege und Wertewandel. Festschrift zum 75. Geburtstag von Prof. Dr. Wilhelm Henze.(= Schriftenreihe des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte. Band 2). Mecke, Duderstadt 1985, S. 175–196.
  11. Arnd Krüger: How "Goldhagen" was the German System of Physical Education, Turnen and Sport. In: Arnd Krüger, Angela Teja, Else Trangbæk (Hrsg.): Europäische Perspektiven zur Geschichte von Sport, Kultur und Politik. Tischler, Berlin 2001, ISBN 3-922654-49-5, S. 82–92.
  12. Der Turnergruß (PDF; 40 kB) von Harald Braun auf dtb online, abgerufen am 23. Februar 2011.