Venire contra factum proprium
Venire contra factum proprium (lat. für „Zuwiderhandlung gegen das eigene frühere Verhalten“, vereinfacht: widersprüchliches Verhalten) bezeichnet im deutschen Schuldrecht einen Fall des Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben, welcher sich wiederum aus der Generalklausel des § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ergibt.
Inhalt
Grundsätzlich lässt die Rechtsordnung widersprüchliches Verhalten zu. Den Parteien bleibt es unbenommen, wenn sie im Rahmen eingegangener Schuldverhältnisse ihre Rechtsansichten ändern[1] und sich gar auf die Nichtigkeit ihrer eigenen abgegebenen Erklärung berufen.[2] Etwas anderes gilt aber dann, wenn die ursprünglichen Erklärungen für den anderen Teil einen Vertrauenstatbestand geschaffen haben, auf den dieser vertraut hat oder vertrauen durfte, oder wenn besondere Umstände die planwidrige Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen.[3] Gemäß dem Rechtsgrundsatz venire contra factum proprium liegt in diesen Fällen eine unzulässige Rechtsausübung vor, weil das widersprüchliche Verhalten dann rechtsmissbräuchlich ist. Nimmt der andere Teil vermögenswirksame Dispositionen im Vertrauen auf die Erfüllung eines Vertrages vor, oder wurde eine rechtliche Regelung vom Leistenden eine längere Zeit in einem bestimmten Sinn ausgelegt und kehrt der sich dann ab, weil sich sein Gegenüber nicht weiter daran gebunden fühlen möchte, so wird sein Vertrauen regelmäßig schutzwürdig sein. Auf ein Verschulden stellt der BGH in diesem Zusammenhang nicht ab. Dieser Einwand wird heutzutage vor allem im Wettbewerbsrecht auch als Einwand der unclean hands bezeichnet.
Spezialfall des venire contra factum proprium ist die Verwirkung, wonach jemand ein Recht nicht geltend machen kann, wenn der Berechtigte es längere Zeit hindurch nicht geltend gemacht hat und der Verpflichtete sich nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten darauf eingerichtet hat beziehungsweise darauf einrichten durfte, dass es auch in Zukunft nicht mehr geltend gemacht würde.[4] Auch hier liegt eine unzulässige Rechtsausübung aufgrund „widersprüchlichen Verhaltens“ vor, in diesem Fall aufgrund von Untätigkeit, weshalb von „selbstwidersprüchlichem Handel“ gesprochen wird.
Anwendungsfälle
Hat der Berechtigte beispielsweise den anderen Beteiligten ausdrücklich davon abgehalten, die erforderliche Form des Geschäfts einzuhalten, so kann es einen Rechtsmissbrauch darstellen, wenn er sich gleichwohl später auf die Formunwirksamkeit beruft.
Ebenso kann es rechtsmissbräuchlich sein, wenn der Ehemann, der einer künstlichen Befruchtung seiner Ehefrau mit Spendersperma, also einer heterologen Insemination zugestimmt hat, sich später der Unterhaltspflicht unter Berufung auf die fehlende (biologische) Vaterschaft entziehen will.
Ein weiterer Anwendungsbereich ist die Haftungsfreistellung des Schädigers bei besonders gefährlichen Sportarten wie dem Boxen: es würde dem Grundsatz von Treu und Glauben widersprechen, wenn der Geschädigte – der sich mit der Teilnahme selbst dem Risiko einer Verletzung ausgesetzt hat – versucht, den Schaden auf den anderen abzuwälzen, den er bewusst in Kauf genommen hat (Eigengefährdung) und er selbst in die Lage des Schädigers hätte kommen können. Ein analoger Haftungsausschluss auf der Grundlage von venire contra factum proprium gilt bei sportlichen Kampfspielen nicht nur bei Schäden aufgrund von regelgerechtem Verhalten des Gegners, sondern auch für leichte Regelverstöße, z. B. durch sportarttypische Fehleinschätzungen. Von besonderer Bedeutung ist der Grundsatz bei konkludentem Handeln, denn bei einer Einwilligung ergibt sich die Haftungsfreistellung bereits aus dem Grundsatz volenti non fit iniuria, der auch auf das Strafrecht anwendbar ist.
Im Bereich des Arbeitsrechts kann sich ein Unternehmen nicht darauf berufen, dass Arbeitnehmerüberlassung vorlag, wenn Ver- und Entleiher gemeinsam versucht hatten, die tatsächliche Eingliederung eines Arbeitnehmers in den Betrieb des Entleihers durch einen Schein-Werkvertrag zu verschleiern. Das gilt auch, wenn der Entleiher im Besitz der Erlaubnis nach Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ist.[5]
Völkerrecht
Das Venire contra factum proprium hat auch im Völkerrecht Bedeutung und wird dort zumeist als Estoppel bezeichnet. Demnach darf ein Staat von seiner bisherigen Praxis nicht zum Nachteil eines anderen Staates abweichen, der berechtigt auf die frühere Erklärung oder Staatenpraxis des anderen vertraut hat.
Siehe auch
Literatur
- Hans Walter Dette: Venire contra factum proprium nulli conceditur. Zur Konkretisierung eines Rechtssprichworts. Dissertation an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Duncker & Humblot, Berlin 1985, ISBN 3428059026
- Michael Griesbeck: Venire contra factum proprium – Versuch einer systematischen und theoretischen Erfassung. Jur. Diss. Würzburg 1978.
- Lisa Isola: Venire contra factum proprium – nulli conceditur et contra: die Grundlagen eines sprichwörtlichen Rechtsprinzips, dargestellt anhand der legistischen Brocardica aurea Jur. Diss. Wien 2014.
- Roland Kreibich: Der Grundsatz von Treu und Glauben im Steuerrecht. Rechtsdogmatische Untersuchung seiner äußeren Bezüge und inneren Struktur, exemplarisch vertieft an den Grundsätzen der Verwirkung und des venire contra factum proprium. Heidelberg 1992 (zugleich Diss. Augsburg 1991).
- Erwin Riezler: Venire contra factum proprium – Studien im römischen, englischen und deutschen Civilrecht. Duncker & Humblot, Leipzig 1912.
- Reinhard Singer: Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens. München 1993 (Jur. Diss. München 1992).
- Arndt Teichmann: Venire contra factum proprium – ein Teilaspekt rechtsmißbräuchlichen Handelns. In: JA 1985, 497–502.
- Hans Josef Wieling: Venire contra factum proprium und Verschulden gegen sich selbst. AcP 176 (1976), 334–355.