Venus vor dem Spiegel
Venus vor dem Spiegel |
---|
Diego Velázquez, 1647–1651 |
Öl auf Leinwand |
122,5 × 177 cm |
National Gallery (London) |
Venus vor dem Spiegel (spanisch La Venus del Espejo, auch bekannt als die Venus von Rokeby) ist ein Gemälde von Diego Velázquez (1599–1660) aus den Jahren 1647–1651, das heute in der National Gallery in London hängt.
Beschreibung
Velázquez stellt Venus ohne weitere Attribute mit dem Rücken zum Betrachter auf einem Bett liegend dar. Sie blickt in einen Spiegel, der von einem geflügelten Wesen, Amor, gehalten wird. Daran wird der göttliche Zusammenhang erkennbar; das im Spiegel dem Betrachter gezeigte Gesicht wird nur mehr verschwommen sichtbar. Die farbliche Komposition beschränkt sich im Wesentlichen auf Abstufungen von Rottönen vor dem Hintergrund verschiedener Grautöne.
Mögliche Vorbilder
Velázquez’ um 1650 entstandene Darstellung der Venus in Rückenansicht mit Blickreflexion nimmt zwar Bezug auf Rubens’ Venus vor dem Spiegel (ca. 1615), unterscheidet sich aber deutlich durch Merkmale und Haltung des dargestellten Körpers sowie hinsichtlich schmückender Juwelen, einer dienstbaren dunkelhäutigen Zofe und des dort von Cupido gespiegelten klaren Bildes. Hingegen stellt Tizian Venus mit einem Spiegel (ca. 1555) nicht in Rückenansicht dar, und seine wache Venus von Urbino (ca. 1540) wie Giorgiones Schlummernde Venus (ca. 1510) sind wohl Darstellungen nackter Frauen in liegender Position, doch ist deren Körper ebenfalls nicht von hinten zu sehen und ihr Gesicht ist dem Betrachter zugewandt. Ähnlichkeiten bestehen daneben mit der einen schlafenden Hermaphroditen zeigenden Marmorskulptur, die manche Autoren für ein mögliches Vorbild halten.[1]
Detailbetrachtung
Der von der Bildmitte über den geschwungenen Rücken zum Kopf der liegenden Frau schweifende Blick des Betrachters fängt sich, ihrer Kopfwendung und angenommenen Blickrichtung folgend, im Spiegel, der ihr Gesicht zeigt, ihn anblickend. Doch die Unschärfe der Gesichtszüge lässt den Blick des Betrachters wieder zum zentralen Bildmotiv zurückkehren – der Venus Körper. Die Darstellung des Antlitzes der Venus war lange Gegenstand von Diskussionen: technisch recht nachlässig ausgeführt, mehr angedeutet als ausgearbeitet, scheint es im Vergleich zum übrigen Gemälde verschwommen oder verfremdet. Verblüffenderweise erscheint es im Spiegel größer, als zu erwarten wäre. Womöglich könnte der Betrachter es bei korrekter perspektivischer Wiedergabe gar nicht sehen – Amor hält den Spiegel so, dass dem Strahlengang nach nicht der Venus gerötete Wange, sondern ihre Scham dort reflektiert sein dürfte.[2]
Die Annahme, dass Velázquez ursprünglich ein deutlich erkennbares Gesicht gemalt und dieses dann übermalt hätte, wurde inzwischen durch Röntgenaufnahmen der National Gallery widerlegt: Es gibt nur eine Farbschicht im Bereich des Spiegels. Auch die geometrische Position des Spiegels wurde in einem Experiment nachgestellt, um zu zeigen, dass man nicht das Gesicht sähe.[2]
Geschichte
Das Bild ist urkundlich das erste Mal 1651 erwähnt, als es Gaspar Méndez de Haro (1629–1687) gehörte. Es war als Gegenstück zu einem venezianischen Gemälde gedacht, das eine liegende Nymphe darstellt.[3] Sie ist dem Betrachter zugewandt, ihr Kanapee steht im Freien, eine Umkehrung des Venus-Bildes. 1800 ging die Venus in den Besitz von Manuel de Godoy, erster Minister von Karl IV. von Spanien, über. Er war in der Position, es zwischen die (wahrscheinlich von ihm selber kommissionierten) Goya-Werke Die nackte Maja und Die bekleidete Maja hängen zu können.
1813 kam das Gemälde nach England und wurde vom Abgeordneten John Morritt gekauft, der es in seinem Landhaus Rokeby Hall in Yorkshire, das der Venus ihren zweiten Namen geben sollte, aufhängte. 1906 musste es unter dem Druck von Erbschaftssteuern verkauft werden. Die National Gallery versuchte, es mit Mitteln aus ihrem neu gegründeten National Art Collections Fund (Nationaler Kunstsammlungsfond) zu kaufen. Es gelang nicht sofort, die geforderte Summe von 45.000 Pfund durch Spenden der Bevölkerung aufzubringen, aber König Edward VII. spendete 8.000 Pfund, was eine weitere Spendenwelle der Engländer auslöste. Die Summe war bald erreicht, der König wurde zum Schutzpatron des National Art Collections Fund.
Beschädigung 1914
Am 10. März 1914 verübte die militante Suffragette (Frauenrechtlerin) Mary Richardson in der National Gallery einen Anschlag auf das Gemälde, obwohl ein Sicherheitsbeamter nur für dieses eine Bild abgestellt worden war. Mit einem Fleischerbeil zerschlug sie das Glas und brachte dem freiliegenden Bild dann mehrere Schnitte bei. Anlass für den Anschlag war die tags zuvor erfolgte Verhaftung von Emmeline Pankhurst.[4] In einer Erklärung an die Women’s Social and Political Union (WSPU) sagte sie später: “
” (deutsch: „Ich habe versucht, das Bild der schönsten Frau der mythologischen Geschichte zu zerstören, als Protest gegen die Regierung, die Mrs. Pankhurst zerstört, die schönste Gestalt der modernen Geschichte.“) In einem Interview 1951 fügte sie hinzu: “
” (deutsch: „[Ich] mochte die Art nicht, wie männliche Besucher den ganzen Tag draufglotzten.“) Das Gemälde wurde restauriert und wieder ausgestellt.
Anmerkungen und Einzelnachweise
- ↑ Kenneth Clark: The Nude: A Study in Ideal Form. Princeton University Press, 2015, ISBN 978-1-4008-6682-3, S. 373. Google Books (eingeschränkte Vorschau)
- ↑ a b Private Life of a Masterpiece – The Rokeby Venus. BBC Wales. IMDB: imdb.com
- ↑ nationalgallery.org.uk Website der National Gallery (englisch).
- ↑ Mary ‘Slasher’ Richardson – Notorious militant retires to Hastings (Memento vom 3. Juli 2008 im Internet Archive) Helena Wojtczak: English Women’s History. The 19th and 20th Centuries.
Literatur
- Rose-Marie Hagen, Rainer Hagen: Augenweide für den frommen König. Diego Velázquez: Die Venus mit dem Spiegel, um 1646. In: Rose-Marie Hagen, Rainer Hagen: Meisterwerke im Detail. Vom Teppich von Bayeux bis Diego Rivera. Band 2. Taschen, Köln u. a. 2005, ISBN 3-8228-4787-9, S. 404–409.
- José López-Rey: Velázquez. The artist as a maker. With a catalogue raisonné of his extant works. Bibliothèque des arts, Lausanne u. a. 1979, S. 451–452.