Verkehrsfabel

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Die Verkehrsfabel ist eine von dem Didaktiker Siegbert A. Warwitz Anfang der 1990er-Jahre in die Verkehrspädagogik eingeführte Methode zur mentalen Auseinandersetzung mit Problemen beim Verkehren.[1] Ausgehend von der literarischen Form der Fabel, werden damit die didaktischen Grundlagen für eigene Schöpfungen geboten mit der Möglichkeit, über die praktische Verkehrserziehung hinaus rezeptiv, aber auch konstruktiv und kreativ über das Miteinander beim Verkehren nachzudenken. In der Zielsetzung vergleichbar mit dem vorrangig in der Primarstufe eingesetzten Verkehrskasper, dient die Verkehrsfabel schwerpunktmäßig der Entwicklung des Problembewusstseins und des partnerschaftlichen Verhaltens im Sekundarstufenbereich.

Didaktische Zielperspektive

Die heutige Verkehrspädagogik geht von dem Grundbegriff „Verkehren“ als „Miteinander Umgehen“, „Sich Verständigen“, „Kooperieren“ aus, was bedeutet, erzieherisch bereits vor und außerhalb der Begegnung mit dem Straßenverkehr ansetzen zu müssen. Es geht bei der Verkehrsfabel entsprechend nicht nur um Fehlverhalten im Straßenverkehr, sondern komplexer um den allgemeinen Umgang (das Verkehren) miteinander. Dabei spielen Haltungen wie Vorteildenken, Regellosigkeit, Aggressivität, Rücksichtslosigkeit, Unverträglichkeit, Sachbeschädigung, Gefährdung, Schwächen wie Ängste und Unsicherheiten, aber auch soziale Tugenden wie Partnerschaft und Hilfsbereitschaft eine wichtige Rolle. Die dichterische Gestaltung eigener Verkehrsfabeln ist etwa ab dem neunten Lebensjahr möglich und am effektivsten in Kleingruppen zu leisten.

Es wird versucht, Probleme beim verkehrenden Umgang miteinander zu erkennen, zu analysieren, zu reflektieren und sich selbst und anderen damit einen Spiegel vorzuhalten, der nachdenklich macht. Dazu werden bekannte Fabeln aufgearbeitet und eigene Verkehrserlebnisse in Fabelform verdichtet. Hierbei werden die Möglichkeiten genutzt, Fehlverhalten durch entsprechende Sachzwänge aus den Vorgängen sich selbst bestrafen zu lassen und die Konsequenzen durch einen Lehrsatz noch einmal pointiert zu formulieren. Neben der Darstellung gescheiterten Konfliktumgangs sollen aber auch positive Lösungen gefunden werden. Dies ist die eigentliche pädagogische Zielsetzung.

Methodik und Struktur der Verkehrsfabel

Der Stoff zur Verkehrsfabel erwächst im Idealfall aus eigenen Verkehrserlebnissen wie dem Streit beim Einsteigen in den Schulbus, einem beschädigten Fahrrad oder abgerissenen Mercedessternen. Bei Warwitz finden sich „drei Wege zur Verkehrsfabel“:[2]

Ein erster nimmt seinen Ausgang von einem bekannten Sprichwort („Wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte . . .“ etc.), das auf eine selbst erlebte Verkehrssituation übertragen wird.

Ein zweiter Weg nimmt eine Beispielfabel, etwa von Jean de La Fontaine, zum Vorbild für die eigene Fabeldichtung. Dabei werden verfügbare Illustrationen wie die des Künstlers Gustave Doré[3] als visuelle Ideenspender didaktisch einbezogen.

Ein dritter Weg setzt ein erkanntes Problem (z. B. „Risikobereitschaft im Verkehr“) in Fabelform um.

Zur Bearbeitung der eigenen Fabel wird ein einfaches Strukturschema vorgegeben, das Spielräume für eigene Lösungen lässt, z. B.

  • a. Zwei Verkehrsteilnehmer treffen aufeinander, und es kommt zu einem Konfliktfall
  • b. Der Konflikt wird unverträglich oder auch kompromissbereit ausgetragen
  • c. Beide Kontrahenten büßen für ihre Unverträglichkeit oder genießen den Konsens
  • d. Die Lehre folgt in Form eines Sprichworts oder Merksatzes

Beispielfabeln

Die beiden Ziegen – Stich von Gustave Doré 1868 nach der Fabel von Jean de La Fontaine

Die berühmte Fabel „Die beiden Ziegen“ des französischen Dichters Jean de La Fontaine[4] kann, obwohl so nicht intendiert, als Verkehrsfabel verstanden werden.

Nach dieser und weiterer Vorlagen sowie einem vorgegebenen Strukturschema sind in der Literatur eine Reihe kreativer Schöpfungen im Rahmen der Verkehrserziehung dokumentiert, z. B.:[5]

Die beiden Autofahrer

Auf der engen Brücke über einen Fluss begegneten sich zwei Autos. „Mach Platz, ich war zuerst da!“ schrie der eine. „Wollen mal sehen, wer die besseren Nerven hat!“ antwortete der andere Autofahrer. Beide rasten daraufhin gleichzeitig auf die Brücke los. Es gab einen lauten Knall, und die Autos landeten als Wracks im Flussbett.

Lehre: Lässt du auf einen Streit dich ein, wird es oft dein Schaden sein.

Hansi und Franzi und Susi am Bus

An der Bushaltestelle begegneten sich Hansi und Franzi. „Heute sitze ich hinter dem Fahrer!“ meinte Hansi. „Das werden wir erst noch sehen, das ist mein Platz!“ erwiderte Franzi. Während sie sich noch beschimpften und prügelten, stieg Susi in den Bus und setzte sich hinter den Fahrer. Der Bus aber fuhr ohne die beiden ab.

Lehre: Wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte.

Pädagogischer Wert

Die Methode Verkehrsfabel zeichnet sich durch ihre strenge Sachorientierung, durch das intensive Nachdenken über bestimmte Problemkonstellationen im Verkehrsleben und durch die geforderte Kreativität aus. Die Kinder und Jugendlichen sind in kleinen Gruppen rezeptiv, konstruktiv und kommunikativ angesprochen. Es entstehen miteinander erarbeitete, sprachlich ausgefeilte Produkte von durchaus künstlerischem Wert, die auch in Buchform gefasst werden und damit Vorzeige- und Erinnerungswert erhalten können.[6] Die Verkehrsfabel ergänzt als Methode die praktische Verkehrserziehung. Sie macht zudem Verkehrsverhalten als Bestandteil allgemeinen menschlichen Verhaltens erkennbar. Im Rahmen der Unfallprophylaxe eingesetzt, erlangte sie vor allem in Weiterführenden Schulen und in der Lehrerbildung didaktische Bedeutung.

Literatur

  • Siegbert A. Warwitz: Wir deuten und dichten Verkehrsfabeln. In: Sache–Wort–Zahl 25(1999) S. 53–56
  • Siegbert A. Warwitz: Die Verkehrsfabel oder Wie man Verkehrsprobleme thematisieren kann. In: Ders.: Verkehrserziehung vom Kinde aus. Wahrnehmen-Spielen-Denken-Handeln. Baltmannsweiler (Schneider) 2009. 6. Auflage. S. 172–173, 179–181, 273–279

Illustrationen

  • Gustave Doré: Illustration (Druck) „Die beiden Ziegen“. In: E. Dohm (Hrsg.): La Fontaine. Die Fabeln. Wiesbaden o. J. S. 343

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Siegbert A. Warwitz: Die Verkehrsfabel oder Wie man Verkehrsprobleme thematisieren kann. In: Ders.: Verkehrserziehung vom Kinde aus. Baltmannsweiler 1998. 3. Auflage. S. 273–279.
  2. Siegbert A. Warwitz: Verkehrserziehung vom Kinde aus. Wahrnehmen-Spielen-Denken-Handeln. 6. Auflage, Schneider, Baltmannsweiler 2009, S. 275–279.
  3. Gustave Doré: Illustration (Druck) „Die beiden Ziegen“. In: E. Dohm (Hrsg.): La Fontaine. Die Fabeln. Wiesbaden o. J. S. 343.
  4. Jean de La Fontaine: Die beiden Ziegen, In: Ders.: Die Fabeln. Wiesbaden o. J., S. 342–343
  5. Siegbert A. Warwitz: Wir deuten und dichten Verkehrsfabeln. In: Sache-Wort-Zahl 25(1999) S. 56
  6. Siegbert A. Warwitz: Fabeln zum Partnerverhalten. In: Ders.: Verkehrserziehung vom Kinde aus. Baltmannsweiler 2009. S. 172–173