Verrückter Wissenschaftler

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Ein verrückter Wissenschaftler

Der verrückte Wissenschaftler (engl. „mad scientist“) ist eine literarische Figur, ein Rollenfach oder Stereotyp der Popkultur. Er tritt in Romanen, Comics, Filmen, Fernsehserien und Computerspielen auf.

Charakter & Verhalten

Charakterliche Indikatoren für den „guten“ verrückten Wissenschaftler sind sympathisch wirkende Schrullen wie etwa kindliche Naivität und Verspieltheit, insbesondere auch im Umgang mit der eigenen Arbeit (vgl. Daniel Düsentrieb in Micky Maus, Dr. Henry Jekyll bei Stevensons Dr. Jekyll und Mr. Hyde oder Dr. Emmett L. „Doc“ Brown in Zurück in die Zukunft), Vergesslichkeit, Zerstreutheit und allgemein ein hilfsbereites und zuvorkommendes Wesen.

Verhaltensindikatoren für den guten verrückten Wissenschaftler sind etwa ein leicht weltfremdes, kicherndes, aber nicht wahnhaftes Lachen, zerstreutes Suchen nach Unterlagen oder Erfindungen (Durchwühlen von Papier- oder Gerümpelbergen, z. B. Daniel Düsentrieb oder Dr. Emmett Brown in Zurück in die Zukunft).

Charakterliche Indikatoren für den „bösen“ verrückten Wissenschaftler sind ein erkennbarer Sadismus (etwa Freude am Leiden von Versuchspersonen oder -tieren, Freude am Foltern von Menschen, die seiner Gewalt ausgeliefert sind), Größenwahn, Prahlsucht (vgl. etwa Zyklotrop in der Comicserie Spirou und Fantasio) und ein zwanghafter Drang zur Erlangung der Herrschaft über andere Menschen oder gar der Weltherrschaft (vergleiche etwa Dr. Mabuse, Dr. No, das Schwarze Phantom bei Micky Maus oder die Labormaus Brain).

Verhaltensindikatoren für den bösen verrückten Wissenschaftler sind ein kehliges oder donnerndes Lachen aus Freude über eigene (böse) Pläne oder Taten oder aus Freude über die eigene Schlechtigkeit, ein fies kicherndes und hämisches In-sich-hinein-Lachen (z. B. Professor Sivana in Jerry Ordways The Power of Shazam!), unnötige Grausamkeit gegen schutzlos Ausgelieferte, z. B. Gefangene, (etwa Königin Morgana in MacGyver) und schikanöser Umgang mit Untergebenen und Helfershelfern (Dr. Eric Vornoff in Die Rache des Würgers). Ein weiteres Beispiel für einen bösen Wissenschaftler ist Dr. Heinz Doofenshmirtz aus der Zeichentrickserie Phineas und Ferb.

Genese

Der „Dottore“ aus der Commedia dell’arte, als wichtigtuerischer Gelehrter ein früher Vorläufer des verrückten Wissenschaftlers.

Der „verrückte Wissenschaftler“ weicht im Allgemeinen erheblich von der gesellschaftlichen Norm ab. Dies ist schon seit der Antike ein Kennzeichen des eigenbrötlerischen Philosophen oder des zerstreuten Gelehrten (etwa in Schilderungen von Diogenes von Sinope).

Die Ursprünge des „wahnsinnigen“ Wissenschaftlers fallen in eine Umbruchszeit. Die moderne Wissenschaft hat ihre Wiege in der Renaissance, als die Macht der Religion – der katholischen Kirche – kritisch hinterfragt wird. Die Gelehrten als „Ersatzpriester“ können sich nicht auf göttliche Legitimierung ihrer Stellung berufen und werden Zielscheiben von Verzerrung und Karikatur.

In den Satiren der Renaissance sind Wissenschaftler und Narr eng verwandt (siehe Vanitas). So geht Erasmus von Rotterdam in seiner Satire Lob der Torheit mit den Gelehrten seiner Zeit ins Gericht und bezichtigt sie der Weltfremdheit, Unfähigkeit und Eigenbrötelei. Michel Foucault ortet in dieser Zeit die Entstehung eines „klugen Wahnsinns“ von Wissenschaftlern, im Gegensatz zum „wahnsinnigen Wahnsinn“ der Ungebildeten (Wahnsinn und Gesellschaft).

Zum Figuren-Repertoire der Commedia dell’arte seit dem 16. Jahrhundert gehört der Dottore als lächerlicher und aufgeblasener Gelehrter. Eine berühmte literarische Darstellung der verrückten Wissenschaftler findet sich in Jonathan Swifts Gulliver, wo in der dritten Reise nach Laputa und der Akademie von Lagado (eine Karikatur der Royal Society) exzentrische Wissenschaftler dargestellt werden, die unablässig absurde Erfindungen machen.

Die Entwicklung des „verrückten Wissenschaftlers“ aus dem Archetyp des Magiers und Zauberers lässt sich kaum leugnen. In Science-Fiction- und Comicwelten wird er zwar meistens ohne magische Kräfte gezeichnet, seine Fähigkeiten zu aberwitzigen Erfindungen und Gimmicks grenzen jedoch an Magie. Dies findet oft seine Entsprechung in der Wahrnehmung der Naturwissenschaften, man vergleiche dazu Arthur C. Clarkesdrittes Gesetz“, wonach „jede hinreichend fortgeschrittene Wissenschaft nicht mehr von Magie zu unterscheiden ist“.

Ein gutes Beispiel für die Affinität zur Magie ist der Prototyp des verrückten Wissenschaftlers im Fauststoff. Das historische Vorbild Johann Georg Faust war Magier, in Goethes Drama Faust I wird er ein viel studierter Gelehrter, doch die Anklänge an esoterische Praktiken sind offensichtlich (Pentagramm). Das faustische Verlangen, sich über Konventionen hinwegzusetzen, um nach höheren Zielen zu streben, ist bis heute ein gern benutztes Versatzstück, um den Wissenschaftler zu charakterisieren, der Allmachtsphantasien hegt und die Weltherrschaft anstrebt (z. B. Ernst Stavro Blofeld aus James Bond, Lex Luthor aus Superman, und als Parodie der Brain aus Pinky und der Brain).

In dem Stop-Motion-Puppenfilm Nightmare Before Christmas von Schöpfer und Produzent Tim Burton von 1993 tritt der im Rollstuhl sitzende Wissenschaftler Doctor Finklestein auf, der seine Schädeldecke aufklappen und den Blick auf sein Gehirn freigeben kann.

Entwicklung seit 1945

Die Menschenversuche des KZ-Arztes Josef Mengele bzw. dessen Person wurden in zahlreichen fiktionalen Werken verarbeitet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich eine beträchtliche Zunahme des Figurentypus beobachten. Die grausamen Menschenversuche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, zum Beispiel durch Josef Mengele, sowie die Ideologisierung der Wissenschaft (Schaffung einer „deutschen Physik“) riefen Skepsis und Misstrauen hervor. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki schürten dieses Unbehagen weiter.

Der nukleare Rüstungswettlauf während des Kalten Krieges, der nach der Strategie der MAD (Mutual assured destruction) betrieben wurde, wurde unter dem Namen „Gleichgewicht des Schreckens“ zum Symbol des Gefahrenpotenzials, das von der Wissenschaft ausging. Das Wettrüsten der Weltmächte USA und UdSSR trotz des Erreichens der sogenannten „Overkill-Kapazitäten“ illustrierte in den Augen vieler die Unvernünftigkeit des wissenschaftlichen Forschens.

Stanley Kubricks Film Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben mit Peter Sellers in der Titelrolle spiegelt die Furcht vor der destruktiven Macht der Wissenschaft. Als eine der Vorlagen für die Figur soll Edward Teller, der „Vater der Wasserstoffbombe“, gedient haben (siehe auch unten). In dem Science-Fiction-Film Tarantula von 1955 züchtet ein biologischer Wissenschaftler namens Prof. Gerald Deemer, verkörpert von Schauspieler Leo G. Carroll, in seinem Labor mehrere Tiere mit rasantem Riesenwuchs heran, darunter eine ausgebrochene Tarantel, dabei entwickelt der Wissenschaftler selbst eine dem Elefantenmenschen ähnliche Körpermutation.

Auch in dem Horrorfilm Der Kopf, der nicht sterben durfte von 1962 tritt ein verrückter Wissenschaftler auf.[1]

Mit dem Ausklingen des Kalten Krieges seit den 1980er Jahren und seiner definitiven Beendigung 1990 trat die Bedrohung durch die Wissenschaft in den Hintergrund. Der verrückte Wissenschaftler machte anderen Schurkentypen Platz. Im Zeitalter der Globalisierung und Medialisierung ist der machtgierige Manager, der seine düsteren Machenschaften mit einer Fassade von Kultiviertheit und Respektabilität kaschiert, an die Stelle des verrückten Wissenschaftlers getreten.

Der Geheimagent James Bond, der in den 1960er Jahren noch Wissenschaftlerschurken wie Dr. No und Ernst Stavro Blofeld bekämpfte, hat in den 1990er Jahren nahezu ausschließlich Gegenspieler wie den Medienmogul Elliott Carver oder die Industrielle Elektra King. Ein weiteres Beispiel für den Trend vom verrückten Wissenschaftler zum maliziösen Wirtschaftsmenschen wäre Supermans ewiger Erzfeind Lex Luthor: Dieser wurde von einem archetypischen verrückten Wissenschaftler in den 1980er Jahren in das korrupte Oberhaupt eines international operierenden Mammutkonzerns umgewandelt, der seinen Einfluss und seine finanziellen Ressourcen für allerlei fragwürdigen Handel nutzt. Am Anfang des Actionfilms Batman & Robin von 1997 hat ein exzentrischer Wissenschaftler namens Dr. Jason Woodrue, dargestellt von Schauspieler John Glover, der mit der künstlichen Zucht von Menschen experimentiert, einen kurzen Auftritt. Dem Charakterbild des verrückten Wissenschaftlers ähnelnde Figuren treten auch in den Horrorfilmen Re-Animator von 1985 und Hollow Man – Unsichtbare Gefahr von 2000 auf.

Das Cover des Albums Chemical Invasion der deutschen Thrash-Metal-Band Tankard von 1987 zeigt einen diabolisch grinsenden Wissenschaftler in einem Labor. Diese Zeichnung stammt von dem Künstler Sebastian Krüger. Das Albumcover der Platte R.I.B. derselben Metal-Band von 2014, das ebenfalls einen verrückten Wissenschaftler zeigt, stammt von Maler und Karikaturist Patrick Strogulski.

Vorbilder in der realen Welt

Edward Teller, der Entwickler der Wasserstoffbombe, im Jahr 1958
Albert Einstein (links) im Jahr 1940
  • Der Physiker Albert Einstein (1879–1955) lieferte mit seinem unkonventionellen Erscheinungsbild die visuelle Standardvorlage eines verrückten Wissenschaftlers mit knautschig-faltigem Gesicht, wirrem weißem Haar und meist etwas nachlässiger Kleidung.
  • Ebenfalls wegen seines etwas unkonventionellen Äußeren, aber vor allem wegen seines unverdrossenen massiven Eintretens für Nuklearwaffen, wurde der Physiker und Wasserstoffbomben-Erfinder Edward Teller in den USA zu einem Prototyp, der auch Pate für die Figur von Kubricks Dr. Seltsam gestanden haben soll.
  • Der russische Mathematiker Grigori Perelman verkörpert in seiner Medienscheu und durch seine spleenigen Angewohnheiten den Typus des verrückten Wissenschaftlers, der zu außerordentlichen wissenschaftlichen Leistungen fähig ist.

Literatur

  • Roslynn Doris Haynes: From Faust to Strangelove. Representations of the Scientist in Western Literature. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1994, ISBN 0-8018-4801-6.
  • Christopher Frayling: Mad, Bad and Dangerous? The Scientist and the Cinema. Reaktion Books, 2005, ISBN 1-86189-255-1.
  • Torsten Junge, Doerthe Ohlhoff: Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader. Alibri, Aschaffenburg 2004, ISBN 3-932710-79-7.
  • Andrew Tudor: Monsters and Mad Scientists. A Cultural History of the Horror Movie. Blackwell, Oxford 1989, ISBN 0-631-15279-2.
  • Andrew Tudor: Seeing the worst side of science. in: Nature Vol. 340, 24. August 1989, S. 589–592.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Der Kopf, der nicht sterben durfte – Ein Mad Scientist, wie er im Buche steht Artikel von Volker Schönenberger auf der Homepage Die Nacht der lebenden Texte auf https://dienachtderlebendentexte.wordpress.com/, Hamburg, 2. Februar 2021