Von guten Mächten treu und still umgeben

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Von guten Mächten, Autograph Dietrich Bonhoeffers
Schreibmaschinenabschrift aus dem Jahr 1945, deren Text bis 1988 als authentisch galt

Von guten Mächten treu und still umgeben ist ein geistliches Gedicht des evangelischen Theologen und NS-Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer. Verfasst im Dezember 1944 in der Gestapo-Haft, ist es Bonhoeffers letzter erhaltener theologischer Text vor seiner Hinrichtung am 9. April 1945. Heute ist es ein viel gesungenes geistliches Lied. Die letzte Strophe, Von guten Mächten wunderbar geborgen, ist auch auf Grußkarten, Kerzen und anderen Frömmigkeitsgegenständen sowie als Grabspruch verbreitet.

Entstehung

Bonhoeffer war als prominenter Regimegegner seit dem 5. April 1943 in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert. Seine Aufzeichnungen in der Haft zeigen eine neue Dimension seines theologischen Denkens. Im Sommer 1944, um die Zeit des Attentats vom 20. Juli, begann er auch Gedichte zu schreiben.

Am 8. Oktober 1944 wurde er im Zusammenhang mit dem 20. Juli ins Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts in Berlin, Prinz-Albrecht-Straße 8, verlegt. Von dort schrieb er am 19. Dezember 1944 an seine junge Verlobte Maria von Wedemeyer und fügte dem Brief „ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen“ als „Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister“ an.[1] Dieses Gedicht bezog sich auch auf seine eigene Situation – er musste mit der Hinrichtung rechnen – und die seiner Familie vor dem unausgesprochenen Hintergrund der NS-Herrschaft und des Krieges. Sein Bruder Klaus sowie die Schwager Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher waren inhaftiert, sein Bruder Walter war gefallen, seine Zwillingsschwester Sabine war mit ihrem jüdischen Mann Gerhard Leibholz ins Ausland gegangen. Seine Verlobungsbeziehung bestand praktisch nur im sporadischen und zensierten Briefkontakt. Am Anfang des Briefes schrieb Bonhoeffer:

„Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du und die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: ‚zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken‘, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“[2]

Der Briefkontext erklärt, warum das Gedicht in der zwischenmenschlichen Anredeform beginnt („ich ... mit euch“), um erst im Verlauf der zweiten Strophe zum Wir-Gebet zu werden. Obwohl als Weihnachtsgruß bezeichnet, nimmt der Text keinen Bezug auf die Geburt Jesu, sondern blickt auf die Jahreswende und die ungewisse Zukunft voraus, die bei aller realen Gefahr von Gottes Vorsehung und Liebe bestimmt wird. Den Ausgangs- und gesteigerten Zielpunkt bildet das Vertrauensbekenntnis zu den „guten Mächten“, mit denen Gott die Glaubenden bergend umgibt und tröstet.

Überlieferungsgeschichte

Die Briefe Bonhoeffers an seine Verlobte waren ihrem Wesen nach nicht für die Veröffentlichung bestimmt. Maria von Wedemeyer fertigte aber wohl noch zu Weihnachten 1944 eine Abschrift des Gedichts für Dietrichs Eltern und den weiteren Familienkreis an.[3] Darauf basiert eine hektografierte maschinenschriftliche Abschrift, die erstmals in der 1945 in Genf erschienenen ökumenischen Gedenkschrift Dietrich Bonhoeffer: Das Zeugnis eines Boten veröffentlicht wurde[4], in Eberhard Bethges berühmte Bonhoeffer-Briefsammlung Widerstand und Ergebung (1951) einging und bis in die 1980er Jahre als authentisch galt. Sie weicht an vier Stellen vom Original ab (s. u.). Alle Liedfassungen folgten dann diesem Text.

Erst 1988 wurde Bonhoeffers Originalbrief öffentlich zugänglich; er bildet die Grundlage für die Veröffentlichung in der kritischen Edition Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 8 (1998).[5] Angefangen mit dem Evangelischen Gesangbuch von 1993, enthalten seitdem die meisten Liederbücher die Textfassung des Autographs.

Form

Das Gedicht ist strophisch angelegt, anders als andere poetische Texte Bonhoeffers aus dieser Zeit.[6] Die sieben Strophen sind im Autograph nummeriert wie ein Gesangbuchlied, möglicherweise jedoch nur, um auf dem knapp werdenden Raum des Blattes die Reihenfolge sicherzustellen. Das Versmaß – vier fünfhebige, jambische, abwechselnd weiblich und männlich reimende Zeilen – passt zu keiner damals gebräuchlichen Kirchenliedmelodie. Der persönliche Anfang stört bei einer gemeindlichen Verwendung. Die früheste Vertonung (Otto Abel 1959) bezog sich nur auf die letzte Strophe (ursprünglich mit Wiederholung des zweiten Zeilenpaars). Dennoch bewährt sich beim Gemeinschaftsgesang aller Strophen das Allgemein-Bekenntnishafte, in das Bonhoeffer seine individuelle, unwiederholbare Erfahrung von Qual und Trost münden lässt.

Text

Die Textfassung des Evangelischen Gesangbuchs[7] ist, mit wenigen Abweichungen in der Interpunktion, die des Bonhoefferschen Autographs:

1. Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

2. Noch will das alte[8] unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten[9] Seelen
das Heil, für das du[10] uns geschaffen[11] hast.

3. Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

4. Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.

5. Laß warm und hell[12] die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so laß uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

7. Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei[13] uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiß an jedem neuen Tag.

Melodien

Der Text wurde ausweislich der Werkdatenbank der GEMA[14] von inzwischen mehr als 70 Komponisten vertont (Stand: September 2017), z. B. von Joseph Gelineau 1971[15] oder Kurt Grahl 1976.[16] Mit der Melodie von Otto Abel von 1959 wurde das Lied unter der Nummer 65 (Zur Jahreswende) in den Stammteil des Evangelischen Gesangbuchs[17] und in das Mennonitische Gesangbuch unter der Nummer 272 (Durch das Jahr – Jahreswende und Epiphanias) aufgenommen, in einzelne Regionalausgaben des Ev. Gesangbuches auch mit der Melodie von Siegfried Fietz von 1970,[18] die als die populärste gelten kann.[19] Die Landeskirchen von Baden und Württemberg zählen das Lied zu den 33 „Kernliedern“ im Evangelischen Gesangbuch, die in allen Bereichen kirchlicher Arbeit zum Einsatz kommen sollen.[20] Auch in das katholische Gesangbuch Gotteslob wurde das Lied mit der Melodie von Kurt Grahl als Nr. 430 aufgenommen, in einige Diözesanteile zusätzlich mit der Fietz-Melodie.[21] Das altkatholische Gesangbuch Eingestimmt von 2003 enthält das Lied mit der Fietz-Melodie und dem „alten“ (Maschinenabschrift-)Text (Nr. 643).

Die Melodie von Siegfried Fietz „findet nicht nur in der jüngeren Generation begeisterte Zustimmung“.[19] Dass sie dennoch in die Stammteile der großen Kirchengesangbücher nicht aufgenommen wurde, sieht Jürgen Henkys weniger darin begründet, dass sie „an der Popularmusik orientiert“ ist, als in der Verwendung der Bonhoefferschen Zielaussage als Kehrvers, die die theologisch-poetische Dynamik störe.[19]

In freikirchlichen Gesangbüchern ist das Lied mit der Melodie von Siegfried Fietz aufgenommen, so im Gesangbuch der Evangelisch-methodistischen Kirche von 2002 unter der Nummer 99.

Literatur

  • Albert Altenähr: „Von guten Mächten“. Ein zersungenes Gedicht. In: Erbe und Auftrag, Jg. 78 (2002), S. 40–47.
  • Jürgen Henkys: Von guten Mächten treu und still umgeben. In: Hansjakob Becker u. a.: Geistliches Wunderhorn. C. H. Beck, München 2001, ISBN 3-406-48094-2, S. 452–461.
  • Jutta Koslowski (Hg.): Von guten Mächten umgeben. Dietrich Bonhoeffer. Ein Mensch – ein Gedicht – ein Lied. 2. Auflage. Präsenz, Bad Camberg 2022, ISBN 978-3-98549-004-2.
  • Albrecht Schönherr, Wolfgang Fischer: 65 – Von guten Mächten treu und still umgeben. In: Gerhard Hahn, Jürgen Henkys (Hrsg.): Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Nr. 4. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-50325-3, S. 36–41 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).

Weblinks

Commons: Von guten Mächten – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. In seiner großen Bonhoeffer-Biografie von 1966 schreibt Eberhard Bethge: „Die Eltern erhielten nur noch zweimal einen Brief, einer davon eilig zum Geburtstag der Mutter am 28. Dezember 1944 geschrieben – diesem war das Gedicht ‚Von guten Mächten‘ beigefügt.“ (Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München, 4. Auflage 1978, S. 1016f.)
  2. Brautbriefe Zelle 92: Dietrich Bonhoeffer, Maria von Wedemeyer 1943–1945. S. 208. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  3. Abschrift Maria von Wedemeyers
  4. Ökumenische Kommission für die Pastoration der Kriegsgefangenen (Hrsg.): Das Zeugnis eines Boten: Zum Gedächtnis von Dietrich Bonhoeffer. Genf 1945, S. 47.
  5. Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung (= Dietrich Bonhoeffer Werke, 8). Chr. Kaiser, München 1998, ISBN 3-579-01878-7, S. 607f.
  6. „Glück und Unglück“; „Wer bin ich?“; „Der Freund“; „Vergangenheit“
  7. Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Bayern und Thüringen. 2. Auflage. Evangelischer Presseverband für Bayern, München 1995, ISBN 3-583-12100-7, S. 132 f.
  8. Gemäß Urtext als Adjektiv auf „Jahr“ bezogen. In vielen älteren Ausgaben war „das Alte“ substantiviert aufgefasst.
  9. Widerstand und Ergebung (alte Ausgabe), nach der Maschinenabschrift: „aufgescheuchten“
  10. Die Gottesanrede „Du, Dein“ usw. schrieb Bonhoeffer im Autograph groß.
  11. Widerstand und Ergebung (alte Ausgabe), nach der Maschinenabschrift: „bereitet“
  12. Widerstand und Ergebung (alte Ausgabe), nach der Maschinenabschrift: „still“
  13. Widerstand und Ergebung (alte Ausgabe), nach der Maschinenabschrift: „mit“
  14. https://online.gema.de/werke/search.faces
  15. Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, Bund Freier evangelischer Gemeinden (Hrsg.): Gemeindelieder. Oncken, Wuppertal/Kassel 1978 (19903), ISBN 3-7893-7812-7; Bundes-Verlag, Witten 1978 (19903), ISBN 3-926417-13-7.
  16. Andrew Wilson-Dickson: Geistliche Musik – Ihre großen Traditionen – Vom Psalmengesang zum Gospel. Brunnen Verlag, Gießen 1994, S. 236f.
    Gotteslob: Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Ausgabe für die Diözese Trier. Paulinus, Trier, 2013, ISBN 978-3-7902-1830-5, Nr. 430.
  17. Albrecht Schönherr (T.), Wolfgang Fischer (M.): 65 – Von guten Mächten treu und still umgeben. In: Gerhard Hahn, Jürgen Henkys (Hrsg.): Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Nr. 4. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-50325-3, S. 36–41 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  18. Regionalausgabe Bayern-Thüringen, Nummer 637; Regionalausgabe Württemberg, Nummer 541 (Strophen 1, 5 und 6); Regionalausgaben Rheinland-Westfalen-Lippe und Reformierte Kirche, Nummer 652. Hansjakob Becker: Geistliches Wunderhorn – Große deutsche Kirchenlieder; C. H. Beck, München, 2001, ISBN 978-3-406-59247-8, S. 460.
  19. a b c Henkys, S. 461
  20. Evangelische Landeskirche in Württemberg: Unsere Kernlieder (Advent 2006)
  21. z. B. Eigenteil Österreich Nr. 897, Ausgabe für die Kirchenprovinz Hamburg Nr. 858.