Wikiup Diskussion:Belege/Archiv/2009/Halbjahr/2

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Gerichtsurteile

Ist zwar eingentlich ein Korollar zu WP:KTF, weil Gerichtsurteile praktisch immer Primaerquellen sind, moechte aber trotzdem ausloten, inweit folgendes „Konsens“ ist und, ob man vielleicht auf die Problematik hinweisen sollte:

Aus: Benutzer:Fossa/Gerichtsurteile

Immer wieder werden als Belege für gesellschaftlich relevante Lemmata Gerichtsurteile angegeben. Das ist aus mehreren Gründen in der Regel, das heißt, wenn bessere (journalistische oder wissenschaftliche) Quellen existieren, nicht sinnvoll:

Normativität und sozio-kulturelle Gebundenheit von Gerichtsurteilen

Gerichte haben nicht (!) die Aufgabe „neutrale“ Urteile zu erstellen. Au contraire, sie sollen die politisch (!) gesetzten Normen eines Rechtssystems verbindlich anwenden. Dies tun sie in Nordkorea genauso wie in Österreich, zur Zeit des Nationalsozialismus genauso wie in der Dritten Republik. Gerichtsurteile sind also historisch, das heißt sozio-kulturell gebunden und ihrem Wesen nach normativ,[1] eine Enzyklopädie will aber universalistisch sowie „neutral“, eben nicht normativ, sein. Dass manche, halbwegs demokratisch zustandegekommenen Rechtssysteme den meisten lieber sind als das Ancien Regime tut dabei wenig zur Sache: Sicher lebt man als EU-Bürger in der Bundesrepublik Deutschland rechtlich ganz angenehm, aber das tut nichts zur Sache der Normativität: Auch genehmere Normen bleiben Normen.

Rechtswissenschaft

Wissen wie es in Enzyklopädien üblicherweise dargestellt wird, wird von den Wissenschaften geschaffen. Die Erkenntnisse dieser Wissenschaften werden in wissenschaftlichen Publikationen delibriert. Dazu gehören Gerichtsurteile nicht: Gerichtsurteile fussen auf rechtswissenschaftlichen Erkenntnissen (oder versuchen dies zu tun) genauso, wie Ärzte die Erkenntnisse der Medizin umsetzen (oder dies versuchen), sie sind aber selber keine wissenschaftlichen Quellen.

Apropos Rechtswissenschaft

Man sollte es kaum glauben, aber Jura ist kein Ungelerntenberuf, sondern ein volles akademisches Studium: Die Interpretation von Rechtsnormen wie Gerichtsurteilen unterliegt speziellen Vorgehensweisen, die nicht jeder ausüben kann. Die Interpretation eines Urteils verlangt rechtswissenschaftliche Fachkenntnisse, die die meisten hier nicht haben, und derer Vorhandensein auch nicht innerwikipedianisch geprüft werden kann.

Rechtsbegriffe und Alltagsbegriffe

Das dumme an Gerichten ist, dass sie sich mit Phänomenen des Alltags, z.B. Kaugummipapier, Mercedes-Benz, Antisemitismus und so genannten Sekten, auseinandersetzen müssen und auf diese ihre Rechtsbegriffe anwenden. Richter und Anwälte sind aber „bloß“ Experten für Rechtsbegriffe. Im deutschen Recht sind Kaugummi etc. keine Rechtsbegriffe, also ist die Meinung von Juristen gänzlich irrelevant. Religion ist auch ein deutscher Rechtsbegriff, Sekte ist keiner. Volksverhetzung ist ein deutscher Rechtsbegriff, Antisemitismus nicht. Die Meinung von Juristen wie Rechtswissenschaftlern zu solchen Begriffen ist also völlig unerheblich.

Fußnoten

  1. Auch Wissenschaft ist selbstredend sozio-kulturell gebunden, aber aber zumindest Teile ihrer streben nicht bewusst später, bestimmte Normen umzusetzen.

Diskussion zu Urteilen

Ich halte genau aus den von Dir genannten Gründen Gerichtsurteile in einem Kontext für eine gültige Quelle: wenn es darum geht nachzuweisen, dass es bestimmte Festlegungen gibt. Wenn in einem Urteil eine sonst nicht veröffentlichte Richtlinie, Weisung… wiedergegeben wird, kann meines Erachtens das Urteil als Beleg für die Existenz dieser herangezogen werden, wenn keine besseren Quellen zur Verfügung stehen. Wenn ich mich nicht klar ausgedrückt habe, bitte nachfragen, ich reiche gern ein Beispiel nach. Anka Wau! 18:28, 28. Jul. 2009 (CEST)

Ich finde die Aussagen zu Neutralität, zum Vergleich mit Gerichten der Nazis oder der Nordkoreaner mit heutigen deutschen Gerichten absolut falsch und absolut inakzeptabel. Richtig ist lediglich, dass den Gerichten die Rechtslage vorgegeben wird. Aber versucht mal, gegen eine Enteignung vor einem chinesischen Gericht zu klagen. Ich bin mir nicht sicher, ob der, der das zuletzt versucht hat, schon wieder aus dem Koma aufgewacht ist... Das Recht in Deutschland (heute) ist zwar vom Staat festgelegt (von wem sonst?), es gilt aber auch für und gegen den Staat. Tagtäglich entscheiden Gerichte in Deutschland (und in jedem anderen Rechtsstaat), dass der Staat irgendwas dem Bürger nicht antun darf. Neutralität heißt nicht Rechtsungebundenheit, sondern Gleichheit der Parteien. Und wem das Recht in Deutschland nicht passt, der darf das schreiben, ohne Repressalien fürchten zu müssen. Macht das mal in der nordkoreanischen Wikipedia... Okmijnuhb 10:56, 12. Okt. 2009 (CEST) PS: Zur Fähigkeit der Juristen, sich auch mit Kulinarischem auseinaderzusetzen vgl Falk van Helsing: "Käse ist Käse im Sinne der Käseverordnung" : die kuriosesten juristischen Definitionen, Frankfurt am Main : Eichborn, 2005 ISBN: 3-8218-4909-6  :-))

Es heißt ja nicht umsonst, vor Gericht und auf See bist du in Gottes Hand. Aber hier und jetzt ist die Judikative eine der drei voneinander unabhängigen Säulen einer Demokratie und wir leben in einem Rechtsstaat und nicht in einer Scheindemokratie. Ein Urteil eines OLG hat in seinem Bezirk Gesetzescharakter, ein Urteil von Bundesgerichten bundesweit. Urteile von Amts- oder Landesgerichten sind Einzelfallentscheidungen und können gerne zitiert werden, aber ich verweise da auf meine Einleitung. Deshalb sollte hier immer auch ein entsprechender Vermerk für den Leser stehen. -- Olbertz 18:51, 22. Jan. 2010 (CET)

Urteile haben keine Gesetzeskraft, mit der Ausnahme von Entscheidungen des BVerfG, die das ausdrücklich feststellen. Urteile sind auch nicht für Untergerichte bindend, auch wenn sich diese natürlich in der Praxis daran orientieren. Urteile sind lediglich nützlich als Anhaltspunkt für die Auslegung von Gesetzen durch Gerichte im jeweiligen Einzelfall. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. --h-stt !? 20:37, 22. Jan. 2010 (CET)