Wirtschaftskrise in Sri Lanka ab 2019

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Etwa ab dem Jahr 2019 geriet Sri Lanka in die schwerste Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1948, die neben den ökonomischen Auswirkungen auch politische Verwerfungen zur Folge hatte.

Vorgeschichte

Zahlungsbilanzdefizit und steigende Staatsschulden

Zahlungsbilanz und Exporte bzw. Importe an Gütern und Dienstleistungen 2010 bis 2020 von Sri Lanka nach Daten der Weltbank in US$
Staatsverschuldung in Prozent des BIP
Jahr Prozent
2010
  
71,6 %
2011
  
71,1 %
2012
  
68,7 %
2013
  
70,8 %
2014
  
71,3 %
2015
  
78,5 %
2016
  
79,0 %
2017
  
79,9 %
2018
  
83,7 %
2019
  
86,8 %
2020
  
101,0 %
Quelle: tradingeconomics.com[1]

Nach Ansicht vieler Experten bahnte sich die Wirtschaftskrise schon seit den Präsidentschaft Mahinda Rajapaksas (bis 2015) und Maithripala Sirisenas (2015 bis 2019) an. Das Wachstum in den Jahren 2015–2019 lag zwar bei bis zu 5 Prozent jährlich, jedoch überstiegen die jährlichen Importe mit 18 Milliarden US-$ deutlich die Exporte von etwa 10 Mrd. US-$, was auch nicht durch Überweisungen der im Ausland arbeitenden Sri-Lanker von durchschnittlich etwa 5 Mrd. US-$ ausgeglichen werden konnte. Das jährliche Zahlungsbilanzdefizit belief sich damit auf etwa 3 Mrd. US-$. Hinzu kam ein anhaltendes deutliches Defizit des Staatshaushalts. Die resultierenden Kreditaufnahmen aus dem Ausland führten zum starken Anstieg der Staatsverschuldung – binnen zehn Jahren von 70 % auf über 100 % des BIP.[2]

Gescheiterte Reformversuche

Im November 2015 veröffentlichte der damalige Premierminister Ranil Wickremesinghe im Parlament eine Analyse, in der wirtschaftspolitische Korrekturen vorgeschlagen wurden: eine Dämpfung des Konsums zur Reduzierung der Importe, die Förderung von Exporten, insbesondere im Hightech-Bereich, die stärkere Diversifizierung der Investitionen, die ganz überwiegend in den Tourismus-Sektor gegangen waren, auch auf andere Bereiche der Wirtschaft, die stärkere internationale Vernetzung der sri-lankischen Wirtschaft durch bilaterale und multilaterale Wirtschaftsabkommen, sowie eine solidere Staatsfinanzierung durch verstärkte direkte anstelle der bisherigen indirekten Steuern. Die Vorschläge fanden das Lob von Wirtschaftsexperten, aber letztlich scheiterte die Umsetzung der Maßnahmen an Differenzen in der Regierungskoalition von UNP und SLFP. Hier unterstützte nur die UNP die Maßnahmen. Auch zwischen Präsident Sirisena und Premierminister Wickremesinghe gab es Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Wirtschaftspolitik, die mit zur zeitweiligen Entlassung des Premierministers im Jahr 2018 führten. Die ohnehin schon sehr zögerlich in Angriff genommenen Maßnahmen wurden mehr als konterkariert durch großzügige Wählergeschenke seitens der Regierung, die während der kurzen Amtszeit von Mahinda Rajapaksa als Premierminister 2018 und im folgenden Wahljahr 2019 gemacht wurden.[2]

Das langjährige chronische Defizit in der Zahlungsbilanz und der hohe Kreditbedarf der Regierung hätten unter normalen Umständen zu einem Wertverlust der sri-lankischen Rupie geführt. Dies hätte den Schuldendienst verteuert und die Preise importierter Güter erhöht. Um dieses Szenario zu verhindern, griff die Regierung in die Geldpolitik ein, indem sie Kapitalverkehrskontrollen und einen Zwangsumtausch von Deviseneinnahmen einführte. Die Zentralbank begann in zunehmendem Maße Staatsanleihen aufzukaufen. Um Preiserhöhungen zu begegnen, wurden staatlicherseits Preise festgesetzt.[2][3]

Der Direktor der Zentralbank von Sri Lanka, Indrajit Coomaraswamy, schlug 2019 ein Gesetz vor, das die Zentralbank von politischen Entscheidungen unabhängig gemacht hätte. Das Gesetz sah vor, dass im Aufsichtsrat der Bank kein Regierungsmitglied sitzen, und dass die Bank die Geldpolitik unabhängig nach vorgegebenen allgemeinen Zielen gestalten dürfte. Insbesondere sollte es der Bank nicht erlaubt sein, Staatsanleihen oder andere staatliche Güter aufzukaufen. Nach dem politischen Machtwechsel nach der Präsidentschaftswahl 2019 wurde das Gesetzesprojekt durch die neue Regierung unter Premierminister Mahinda Rajapaksa jedoch ad acta gelegt.[4]

Rolle der Volksrepublik China

Zu einem Diskussionsthema entwickelte sich die Rolle der Volksrepublik China. Chinesische Staatsunternehmen hatten in der Vergangenheit eine wichtige Rolle bei der Kreditfinanzierung von Großprojekten gespielt. Besonders bekannt waren der Tiefwasserhafen in Hambantota, und der internationale Flughafen Mattala Rajapaksa. Beide Projekte waren mit chinesischen Krediten finanziert worden, hatten aber bei weitem nicht die in sie gesteckten wirtschaftlichen Erwartungen erfüllt. Sri Lanka war schließlich im Jahr 2017 aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen gewesen, den Tiefwasserhafen für 99 Jahre an ein chinesisches Staatsunternehmen zu verpachten. Der Volksrepublik wurde – nicht zum ersten Mal – der Vorwurf gemacht, das Land in eine „Schuldenfalle“ gelockt zu haben, um dann anschließend wertvolle Ressourcen als Pfand in Beschlag nehmen zu können.[5] Dieser Analyse wurde allerdings auch von Wirtschaftsexperten widersprochen, die darauf hinwiesen, dass die Initiativen für die Großprojekte von sri-lankischer Seite ausgegangen seien und dass auch westliche Gutachten die Projekte positiv begutachtet hatten.[6] Sri Lankas Schuldenproblem sei „nicht in China gemacht worden“.[7]

Kollaps im Jahr 2022

Massenproteste vor dem Sekretariat des Präsidenten in Colombo am 13. April 2022
Warteschlange zur Auffüllung von Flüssiggasbehältern am 23. Mai 2022 in Colombo

Unmittelbar auslösende Faktoren

Im Jahr 2021 verbot die sri-lankische Regierung den Import von chemischen Düngemitteln, in der Absicht, damit die ökologische Landwirtschaft zu fördern. Die Maßnahme war jedoch schlecht vorbereitet, kam zu einer ungünstigen Zeit und führte zu einer Verknappung und zu einem Preisanstieg für Grundnahrungsmittel, so dass die Regierung das Verbot im November 2021 wieder aufhob.[8]

Zwei wesentliche Ereignisse beschleunigten den sich seit Jahren anbahnenden Kollaps der Staatsfinanzen: zum einen die COVID-19-Pandemie und zum anderen die im März 2022 begonnene russische Invasion der Ukraine.

Schon nach den schweren islamistischen Bombenanschlägen im Jahr 2019 war der Tourismus – nach der Bekleidungsindustrie und den Überweisungen der Auslands-Sri-Lanker die drittwichtigste Einnahmequelle – um 18 Prozent eingebrochen. Die seit 2020 sich ausbreitende COVID-19-Pandemie führte zu weiteren Rückschlägen und die Tourismusindustrie zeigte erst ab November 2021, als die sri-lankische Regierung alle Quarantänebestimmungen für geimpfte Touristen aufhob, erste Erholungszeichen. Allerdings wurde der Tourismus in der ersten Jahreshälfte 2022 durch die von der Regierung verhängten Importrestriktionen und die sich daraus ergebenden Güterverknappungen erneut ausgebremst.[9]

Vor Russlands Angriff auf die Ukraine kamen etwa 30 Prozent der Touristen in Sri Lanka aus Russland, der Ukraine, Polen und Belarus. Der Krieg ließ diese Touristenströme weitgehend versiegen und führte außerdem dazu, dass sich der Preis für Rohöl und -produkte – eines der Hauptimportgüter Sri Lankas – deutlich verteuerte.[8][10] Besonders getroffen wurde auch die Tee-Industrie, für die Osteuropa einer der Haupt-Absatzmärkte war.[11]

Die Regierung nahm am 8. März 2022 eine Abwertung der sri-lankischen Rupie vor[12] und bat am 19. April den Internationalen Währungsfonds (IMF) offiziell um Finanzhilfe.[13] Die von ihr verhängten Importrestriktionen führten zur starken Verknappung insbesondere von Treibstoff und zu Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und Medikamenten. Ärzte warnten vor einer humanitären Katastrophe beim Fehlen lebensnotwendiger Medikamente.[14] Die Inflationsrate betrug im Vergleich zum Vorjahr im März und April 2022 18,7 bzw. 29,8 Prozent. Besonders betroffen waren Nahrungsmittel mit 46,6 Prozent Preissteigerung im April 2022 im Vergleich zum Vorjahr.[15]

Die Einstufungen der Kreditwürdigkeit Sri Lankas durch die drei großen Ratingagenturen Fitch, Moody’s und S&P Global Ratings, die bis zum Mai 2020 stabil geblieben waren, verschlechterten sich in der Folgezeit und lagen im Mai 2022 bei Speculative Grade (Extremely Speculative bzw. In Default).[16] Am 12. April 2022 stellte Sri Lanka die Rückzahlungen und Zinszahlungen seiner Staatsschulden vorläufig ein, was faktisch einem Staatsbankrott gleichkam.[17] In der Begründung des Finanzministeriums wurden der Russland-Ukraine-Krieg und die COVID-19-Pandemie als wesentliche Gründe für den Zahlungsausfall genannt.[18]

Regierungswechsel und die Zeit danach

Am 9. Mai 2022 trat Premierminister Mahinda Rajapaksa angesichts anhaltender gewalttätiger Massenproteste von seinem Amt zurück, und wenig später folgte die ganze übrige Regierung. Um die Lage zu beruhigen, ernannte Präsident Gotabaya Rajapaksa den Oppositionspolitiker Ranil Wickremesinghe zum neuen Premierminister.[19] Am 9. Juli 2022 erstürmten wütende Demonstranten den Präsidentenpalast in Colombo. Sie machten den Familienclan der Rajapaksas für die wirtschaftliche Misere verantwortlich. Der Präsident war zuvor in Sicherheit gebracht worden.[20] Daraufhin erklärte Premier Wickremesinghe, zurücktreten zu wollen, um einer Allparteienregierung Platz zu machen.[21] Am 11. Juli 2022 kündigte Präsident Rajapaksa seinen Rücktritt an und floh zwei Tage später auf die Malediven und danach nach Singapur, wo er seinen Amtsverzicht erklärte.[22][23] Wickremesinghe übernahm daraufhin die Rolle als Übergangspräsident.[24] Am 13. Juli verhängte die Übergangsregierung den Notstand und eine Ausgangssperre.[25][26]

Am 1. September 2022 genehmigte der Internationale Währungsfonds vorläufig ein Rettungspaket in Höhe von 2,9 Milliarden US-Dollar für Sri Lanka.[27] Am Tag darauf kehrte Gotabaya Rajapaksa in das Land zurück.[28]

Am 6. September 2022 veröffentlichte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet einen Bericht zur Lage der Menschenrechte in Sri Lanka, in dem die Regierung Sri Lankas aufgefordert wurde, „einen nationalen Dialog einzuleiten, der die Menschenrechte und die Aussöhnung voranbringt“, und „die tiefgreifenden institutionellen und sicherheitspolitischen Reformen durchzuführen, die notwendig sind, um zu verhindern, dass sich die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit wiederholen“. Die Regierung stünde vor großen Herausforderungen, darunter „schmerzhafte Wirtschaftsreformen mit dem Risiko weiterer Gewalt“. Jedoch müssten „die tieferen Ursachen der derzeitigen Krise angegangen werden, einschließlich der Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen und Wirtschaftsverbrechen“. Mit ihren Bemerkungen zielte die Hochkommissarin auf die bislang unaufgearbeiteten Menschenrechtsverbrechen während der Zeit des Bürgerkriegs vor 2009 und die immer noch zum Teil weiterbestehende ethnische Diskriminierung der tamilischen Minderheit.[29]

Einzelnachweise

  1. Sri Lanka Government Debt to GDP. In: tradingeconomics.com. Abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  2. a b c W. A. Wijewardena: Sri Lanka’s deep economic crisis:Wasted four years and a wasting election year. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Daily FT. 7. Januar 2019, archiviert vom Original am 20. April 2022; abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  3. Peter A. Fischer: Zahlungsunfähige Staaten: Die Ferieninsel Sri Lanka ist erst der Anfang. In: Neue Zürcher Zeitung. 12. April 2022, abgerufen am 14. Mai 2022.
  4. Printing money: Our way out in 2022 too? In: The Sunday Mording/The Morning (Sri Lanka). 8. Januar 2022, abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  5. China's 'debt-trap diplomacy' behind Sri Lanka crisis: Report. In: The Times of India. 17. April 2022, abgerufen am 20. September 2022 (englisch).
  6. Umesh Moramudali: The Hambantota Port Deal: Myths and Realities. In: The Diplomat. 1. Januar 2020, archiviert vom Original am 19. Januar 2021; abgerufen am 20. September 2022 (englisch).
  7. The Hambantota Port Deal: Myths and Realities. In: EastAsiaForum. 28. Februar 2019, archiviert vom Original am 12. Januar 2021; abgerufen am 20. September 2022 (englisch).
  8. a b Anusha Ondaatjie: Russia’s war in Ukraine is crushing Sri Lanka’s $81 billion economy. In: the Print. 17. März 2022, abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  9. Rehana Thowfeek: Tourism in Sri Lanka: One step forward, two steps back. In: Aljazeera. 25. März 2022, abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  10. Gerry Shih: How war in Ukraine turned Sri Lanka’s economic crisis into a calamity. In: The Washington Post. 17. April 2022, abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  11. Sunimalee Dias: Multiple impacts in Sri Lanka from Ukraine war. In: The Sunday Times (Sri Lanka). 27. Februar 2022, abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  12. Uditha Jayasinghe: Sri Lanka devalues rupee, seen as step towards getting IMF help. In: Reuters. 7. März 2022, abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  13. Sri Lanka asks IMF for urgent financial assistance. In: Aljazeera. 19. April 2022, abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  14. Zaheena Rasheed, Rathindra Kuruwita: Sri Lanka doctors warn of ‘catastrophe’ as medicines run low. In: Aljazeera. 11. April 2022, abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  15. Inflation in April 2022. (PDF) In: cbsl.gov.lk. Pressemitteilung der Zentralbank von Sri Lanka, 29. April 2022, abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  16. Sri Lanka Credit Rating. worldgovernmentbonds.com, 14. Mai 2022, abgerufen am 14. Mai 2022 (englisch).
  17. Sri Lanka kann Kredite nicht bedienen. In: Tagesschau. 12. April 2022, abgerufen am 14. Mai 2022.
  18. Interim Policy Regarding the Servicing of Sri Lanka's External Public Debt. In: treasury.gov.lk. Finanzministerium Sri Lankas, 12. April 2022, abgerufen am 14. Mai 2022.
  19. Sri Lanka vereidigt neuen Premierminister. In: Die Zeit. 12. Mai 2022, abgerufen am 12. Mai 2022.
  20. Demonstranten stürmen Residenz von Sri Lankas Staatschef Rajapaksa. In: Deutsche Welle. 9. Juli 2022, abgerufen am 9. Juli 2022 (englisch).
  21. Sri Lanka PM ‘willing to resign’ after President’s House stormed. In: Al Jazeera. 9. Juli 2022, abgerufen am 9. Juli 2022 (englisch).
  22. Rajapaksa flieht auf die Malediven. In: Tagesschau. 13. Juli 2022, abgerufen am 14. Juli 2022.
  23. Staatsspitze von Sri Lanka bestätigt nach Protesten Rücktrittsangebot. In: Zeit Online. 11. Juli 2022, abgerufen am 12. Juli 2022.
  24. Lanka PM Ranil Wickremesinghe Appointed Acting President, Says Speaker. NDTV, 14. Juli 2022, abgerufen am 14. Juli 2022 (englisch).
  25. Regierung ruft nach Flucht des Präsidenten Notstand aus. ZEIT Online, 13. Juli 2022, abgerufen am 13. Juli 2022.
  26. Übergangspräsident verhängt Ausnahmezustand in Sri Lanka. ZEIT Online, 13. Juli 2022, abgerufen am 13. Juli 2022.
  27. Uditha Jayasinghe: Sri Lanka gains IMF's provisional agreement for $2.9 bln loan. In: Reuters. 1. September 2022 (reuters.com [abgerufen am 1. September 2022]).
  28. [1], abgerufen am 4. September 2022.
  29. Sri Lanka at critical juncture: UN report urges progress on accountability, institutional and security sector reforms. Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, 6. September 2022, abgerufen am 20. September 2022 (englisch).