Ambivalenz

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
(Weitergeleitet von Zwiespältigkeit)

Ambivalenz (lateinisch ambo „beide“ und

valere

„gelten“) bezeichnet ein Erleben, das wesentlich geprägt ist von einem inneren Konflikt. Dabei bestehen in einer Person sich widersprechende Wünsche, Gefühle und Gedanken gleichzeitig nebeneinander und führen zu inneren Spannungen.[1]

In der gehobenen Umgangssprache gebräuchlicher ist das Adjektiv ambivalent (zwiespältig, doppelwertig, mehrdeutig, vielfältig, zweideutig). Eugen Bleuler verwendete den Begriff erstmals 1910 während eines Vortrags. Für ihn war die Ambivalenz ein Hauptsymptom der Schizophrenie.[2] Im heutigen Sprachgebrauch, auch im klinischen Bereich, versteht man unter „Ambivalenz“ aber kein Symptom einer Erkrankung, sondern nur das Erleben einer konflikthaften, von gegensätzlichen Aspekten geprägten Bewertung der Situation oder eines Objekts. Dieses Erleben basiert auf der im Entwicklungsprozess erworbenen Fähigkeit, auf Abwehr durch Spaltung verzichten und gegensätzliche Erlebniszustände ertragen zu können. Die Fähigkeit, Ambivalenz aushalten zu können, spricht für eine gesteigerte emotionale Reife.

Bedeutung

Bei der Ambivalenz handelt es sich um das simultane Bestehen sich eigentlich ausschließender Einstellungen und Handlungstendenzen. Der Begriff „Hassliebe“ ist ein Beispiel für eine solche Verknüpfung gegensätzlicher Wertungen. Auch wenn es sich bei dem Begriff der „Hassliebe“ rein rhetorisch um ein Oxymoron handelt, so sind in der Physiologie antagonistische Funktionen durchaus geläufig. Bei der Ambivalenz handelt es sich um entsprechende psychologische Funktionen.

Dass jedes Ding seine zwei Seiten haben kann, ist mit Ambivalenz nicht gemeint, solange dadurch kein innerer Konflikt hervorgerufen wird. Vielmehr ist darunter eine Dichotomie von Sichtweisen zu sehen, die gegensätzliche Reaktionen bedingen und letztlich die Fähigkeit zu einer Entscheidung im weitesten Sinne hemmen können. So sieht Karl Abraham den reifen Menschen im Gegensatz zum Kind, das durch Triebschwankungen charakterisiert ist, als frei von Ambivalenz. Andere Psychoanalytiker sehen in den meisten menschlichen Regungen eine Ambivalenz von Libido und Thanatos bzw. Liebe und Destruktionstrieb und ordnen sie den Ich-Funktionen zu.

Relevanz der Ambivalenz

Die Relevanz des Begriffs zeigt sich in verschiedenen Diskursen, in denen die Erfahrungen des Einzelnen als das „Denken in Optionen“ (G. L. Schiewer, 2014, S. 2) umschrieben wird. Nach Kurt Lüscher (2011, S. 326) sind Prozesse „des gedanklichen und emotionalen Oszillierens zwischen Alternativen“ besonders „nützlich“, denn daraus entstehen neue Möglichkeiten des Handelns, der Lösung von Problemen, der Gestaltung von Beziehungen. Doch nach Lüscher wird dieses Potenzial im alltäglichen Leben nicht optimal genutzt, auch wenn der Mensch täglich mit Ambivalenzen konfrontiert wird. Der Mensch ist oft nicht in der Lage, darüber zu reflektieren oder konkret Ambivalenzen zu erkennen. Dazu meint Lüscher (2013, S. 36), dass Ambivalenz z. B. gerade in Hinblick auf das Improvisieren, auf das Entwickeln von schnellen Lösungen und Agilität von Belang ist:

Während in der Umgangssprache der Begriff der Ambivalenz überwiegend negativ geprägt ist, also damit Belastungen gemeint sind, ist das analytische Verständnis des Begriffs offen. Es schließt die Möglichkeit ein, dass die Erfahrung von Ambivalenzen und der Umgang damit auch befreiend sein können, weil darunter auch Erfahrungen des Suchens und Bedenkens von Alternativen fallen, also das Erkunden des `Sowohl-als-auch´. Ambivalenzerfahrungen können sogar gesucht werden.

Einteilung und Messung

Ambivalenz kann laut Bleuler eingeteilt werden in ein Nebeneinander von widersprüchlichen[3]

  1. Gefühlen – „affektive Ambivalenz“
  2. Wünschen – „voluntäre Ambivalenz“ oder Ambitendenz
  3. Beurteilungen – „intellektuelle Ambivalenz“

Die Begriffe „Ambitendenz“ und „Ambiguität“ werden manchmal gleichbedeutend mit Ambivalenz verwendet.[4]

In der Folge wurde der Begriff durch Freud in die Psychoanalyse übernommen und dort auf mannigfache Weise weiter entwickelt und in der Folge in die Psychologie und die Sozialpsychologie übernommen sowie in der Psychotherapie genutzt.

In der Motivationspsychologie verwendet Thomae (1960)[5] den Begriff der Ambivalenz, um auf Aversions-Appetenzkonflikte hinzuweisen.

In der Sozialpsychologie lässt sich die Ambivalenz einer Einstellung auf der Grundlage des semantischen Differentials messen.[6][7] Zu diesem Zweck werden der negative Pol (beispielsweise „dumm“) und der positive Pol („intelligent“) getrennt eingeschätzt. Ambivalenz wird dann erschlossen, wenn ein Einstellungsobjekt gleichzeitig in Richtung auf den negativen und den positiven Pol beurteilt wird. Eine andere Möglichkeit der Messung der Ambivalenz besteht darin, sie direkt über einen Fragebogen einzuschätzen.

Erläuterung: Der Fragebogen zur Erfassung von ambivalentem Sexismus gegenüber Frauen (ASI;[8][9] Theorie der ambivalenten Stereotype) enthält Feststellungen, die feindselige („Die meisten Frauen bewerten harmlose Anmerkungen gleich als sexistisch“) und wohlwollende („In einem Katastrophenfall müssen Frauen zuerst gerettet werden“) Einstellungen ansprechen.

In den 1960er Jahren fand der Begriff der Ambivalenz Eingang in die Soziologie, zunächst im Kontext der Analyse von (Berufs-)Rollen, später in jener der Generationenbeziehungen und der Zeitdiagnose. Ungefähr zur gleichen Zeit setzte die Rezeption in den Literaturwissenschaften ein, ebenso in den Kunst- und Musikwissenschaften. Parallel mit der Rezeption in den Wissenschaften fand der Begriff auch Eingang in die Umgangssprache.[10]

Verschiedene Diskussionsforen in wissenschaftlichen Zeitschriften dokumentieren die Weiterentwicklung des Begriffes.[11][12][13]

Die Begriffsgeschichte und die Diskursanalysen des Konzepts der Ambivalenz in unterschiedlichen human-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskursen und Disziplinen legen den Schluss nahe, dass damit anthropologisch bedeutsame Sachverhalte angesprochen werden. Sie können sich in übergreifenden Vorstellungen wie Menschen- und Gesellschaftsbildern und in der konkreten Gestaltung menschlichen Handelns finden.[14]

Ambivalenz und Ambiguität

Der italienische Semiotiker Umberto Eco (Eco, 1977, S. 90) meint, dass man in den westlichen Gesellschaften seit dem 20. Jahrhundert eine kulturelle Tendenz zur Produktion von „Ambiguität der Situation“ beobachten kann. Für ihn ist der Begriff der Ambiguität ein ästhetisches Kriterium für literarische und künstlerische Qualität, die ihren Höhepunkt in der Kunst der Moderne, d. h. im „offenen Kunstwerk“ hat. Für Eco hat die Kunst seit der Moderne im Zeichen der Ambivalenz sogar emanzipatorische und politische Auswirkungen, denn ihre „Protagonisten drücken die positiven Möglichkeiten eines Menschentyps“ aus, „der offen ist für eine ständige Erneuerung seiner Lebens- und Erkenntnisschemata, der produktiv an der Entwicklung seiner Fähigkeiten und der Erweiterung seiner Horizonte arbeitet“ (Eco, 1977, S. 52). Gemeint ist Kunst als Mittel zur Veränderung des Bewusstseins und der Erfahrungsformen.

Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels (Waldenfels, 1987, S. 10) fasst Ambiguität auf als Indiz eines postmodernen „Umdenkens, das aus dem Hin und Her von Antithesen wie Einheit und Vielheit, Kontinuität und Diskontinuität, Subjekt und Strukturen, Lebenswelt und System“ herausfindet und das Bewusstsein für das Fremde, für das Fremderfahren ohne den Anspruch auf seine Aneignung schließlich schärft. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht Ambivalenz im Prozess des Verstehens (des Anderen) und im Zusammenhang zwischen Mikroerfahrungen des Subjekts und Makrostrukturen einer Ordnung (Waldenfels, 1997, S. 13). Für Waldenfels ist der Mensch ständig konfrontiert mit dem Fremden, z. B. bei Begegnungen mit fremden Passanten, beim Erlernen einer Fremdsprache, beim Betrachten eines Gemäldes, beim Lesen eines literarischen Textes. Nichtsdestotrotz leben wir nach Waldenfels in begrenzten Ordnungen mit „Normalisierungsmaschinerien“ (ebenda, S. 14), die ständig versuchen, die Fremdheit und als Konsequenz das Neue zu vermeiden. Dadurch wird das „Denken in Optionen“ nicht konsequent reflektiert und auch gar nicht in die Ordnungen umgesetzt.

Der polnisch-britische Philosoph und Soziologe Zygmund Baumann beschäftigt sich vor allem mit dem Begriff der Ambivalenz aus einer sprachphilosophischen und sozial-wissenschaftlichen Perspektive. Er versteht Ambivalenz als „die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen“ (Baumann, 1992, S. 13), und als „eine sprachspezifische Unordnung“ (ebda.), die typisch für die Postmoderne ist, denn die Postmoderne ist – anders als die Moderne – bereit, ambivalente Verhältnisse wahrzunehmen. Er überträgt seine Thesen dann in der Analyse von Migrationsprozessen bzw. im Fall der deutschen Juden um die Jahrhundertwende. Doch nach vielen solchen Fällen lässt sich diese potenzielle Nachwirkung von Ambivalenz und Ambiguität, die am Beispiel der Kunst oder Migration erfahrbar ist, in gesellschaftlichen Kontexten nur eingeschränkt entfalten. Am Beispiel von Baumann merkt man, dass der Begriff der Ambivalenz sowohl kulturelle Objekte als auch Identitätsfragen in einer hybriden Gesellschaft betreffen kann.

Im Bereich der Interkulturalität spricht man über Ambiguitätstoleranz: Das ist die Fähigkeit, widersprüchliche Auffassungen und Wirklichkeitsbilder zu akzeptieren und produktiv zu wenden. Ambiguitätstoleranz ist eine Komponente der interkulturellen Kompetenz, die besonders in Prozessen des Kulturwechselns erworben oder spürbar wird.

Ambivalenz und Kultur

Bei einem Blick auf die Titel- und Themenpolitk der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurse im europäischen Kontext gilt kulturelle Ambivalenz als analytische Zentralkategorie, sobald das Erkenntnisinteresse für kulturelle Zeichen- und Deutungssysteme in der „Vielfalt“ oder in der „Komplexität“, in der „Fremdheit“ des Gegenstands oder einer Ordnung liegt.

In diesem Zusammenhang können z. B. Autoren, Künstler oder Persönlichkeiten der Medien und Politik genannt werden, die den Kulturwechsel hautnah erlebt haben und ihre Fremdheitserfahrungen in ihren Werken oder Reden übersetzen, wie z. B. Fatih Akin (Film), Marianna Salzmann (Theater), Bushido (Musik), Rana Matloub (Sprechakte in Ausstellungsräumen) und Kaya Yanar (Fernsehen). Diese Personen gestalten ihre Produktionen in einer Weise, dass Ambivalenzen sowie das Denken und Leben in Optionen erkennbar werden.

Literatur

  • Allolio-Näcke, Lars; Kalscheuer, Britta et al.: Differenzen anders denken, Campus-Verlag, Frankfurt 2004.
  • Baumann, Zygmund: Moderne und Ambivalenz, Junius, Hamburg 1992.
  • Berndt, Frauke; Kammer, Stephan (Hrsg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Königshausen & Neumann, Würzburg 2009.
  • Bode, Christoph: Ästhetik der Ambiguität, Max Niemeyer, Tübingen 1988.
  • Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Suhrkamp, Frankfurt 1977.
  • Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst, Suhrkamp, Frankfurt 1988.
  • Lüscher, Kurt: Über die Ambivalenz, Forum der Psychoanalyse. Zeitschrift für klinische Theorie und Praxis 27, Springer, Berlin 2011, S. 323–327.
  • Lüscher, Kurt: Improvisation: Spiel mit Ambivalenzen, in: Göttlich, Udo et al. (Hrsg.): Kreativität und Improvisation: soziologische Positionen, Springer, Wiesbaden 2011.
  • Lüscher, Kurt: Das Ambivalente erkunden, Familien-Dynamik, 3, in: Familiendynamik, 38, 3, S. 238–247, Klett-Cotta, Stuttgart 2013.
  • Schiewer, Gesine Leonore: Chamisso-Literatur: eine „Nomadisierung der Moderne?“, Interdisziplinäre Perspektive der Interkulturalitätsforschung (= unveröffentlichtes Call for Paper für die Internationale Tagung des Forschungs-zentrums Chamisso-Literatur (IFC) an der LMU München am 17. Dezember 2013), München 2014.
  • Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht, Suhrkamp, Frankfurt 1987.
  • Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, Suhrkamp, Frankfurt 1997.

Weblinks

Wiktionary: Ambivalenz – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Ambivalenz. In: Duden, abgerufen am 2017.
  2. Ambivalenz. Erfindung und Darstellung des Begriffs durch Eugen Bleuler. Abgerufen am 8. Juni 2016.
  3. Uwe Henrik Peters: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, medizinische Psychologie: mit einem englisch-deutschen Wörterbuch im Anhang. Elsevier, Urban&Fischer Verlag, 2007, ISBN 978-3-437-15061-6, S. 24 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  4. E. Jaeggi: Ambivalenz. In A. Schorr (Hrsg.): Handwörterbuch der Angewandten Psychologie. Deutscher Psychologen Verlag, Bonn 1993, S. 12–14.
  5. H. Thomae: Der Mensch in der Entscheidung. Huber, Bern 1960.
  6. H. W. Bierhoff: Neuere Erhebungsmethoden. In: E. Erdfelder, R. Mausfeld, T. Meiser, G. Rudinger (Hrsg.): Handbuch quantitative Methoden. Psychologie Verlags Union, Weinheim 1996, S. 59–70. doi:10.25521/HQM05
  7. K. Jonas, P. Broemer, M. Diehl: Attitudinal ambivalence. In: W. Stroebe, M. Hewstone (Hrsg.): European review of social psychology. Band 11. Wiley, Chichester 2000, S. 35–74.
  8. P. Glick, S. T. Fiske: The ambivalent sexism inventory. Differentiating hostile and benevolent sexism. In: Journal of Personality and Social Psychology, 70, 1996, S. 491–512.
  9. P. Glick, S. T. Fiske: An ambivalent alliance. Hostile and benevolent sexism as complementary justifications for gender inequality. In: American Psychologist, 56, 2001, S. 109–118.
  10. K. Lüscher: Ambivalenz: Eine soziologische Annäherung. In: W. Dietrich, K. Lüscher, C. Müller (Hrsg.): Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten. Eine neue interdisziplinäre Perspektive für theologisches und kirchliches Arbeiten. Theologischer Verlag Zürich (TVZ), Zürich, 2009, S. 17–67.
  11. K. Lüscher: Intergenerational ambivalence. Further steps in theory and research. In: Journal of Marriage and Family (JMF), 64, 2002, S. 585–593.
  12. K. Lüscher: Ambivalenz weiterschreiben. In: Forum der Psychoanalyse. Zeitschrift für klinische Theorie und Praxis, 27(4), 2011, S. 373–393.
  13. Ambivalenz weiterdenken. In: Familiendynamik, 39(2), 2014.
  14. K. Lüscher: Menschen als „homines ambivalentes“. In: D. Korczak (Hrsg.): Ambivalenzerfahrungen. Asanger, Kröning, 2012, S. 11–32.