Walter S. G. Kohn

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Walter Samuel Gerst-Kohn, ca. 1950

Walter Samuel Gerst (geboren am 16. Mai 1923 in Lichtenfels, Oberfranken, Deutschland; gestorben am 27. November 1998 in Urbana, Champaign County, Illinois, Vereinigte Staaten),[1] auch Walter Samuel Gerst-Kohn (meist ohne Bindestrich) bzw. Walter S. G. Kohn, war ein deutsch-amerikanischer Politikwissenschaftler, Hochschullehrer und Autor, der insbesondere zu europäischer und deutscher Politik forschte, lehrte und publizierte, darunter auch zur Rolle von Frauen in der europäischen Legislative.[2]

Familie

Er war der Sohn des Hopfenhändlers Hans Gerst (geboren am 31. Dezember 1886 in Bamberg, Oberfranken; gestorben am 24. März 1953 in New York City) und dessen erster Ehefrau Lilly Kohn (geboren am 12. März 1892 in Lichtenfels, Oberfranken; gestorben am 1. September 1985 in Paramus, Bergen County, New Jersey).

Aus der zweiten Ehe seines Vaters mit Irma Silbermann (geboren am 23. Dezember 1896 in Bamberg, Oberfranken; gestorben am 26. November 1960) hatte Walter Samuel eine jüngere Halbschwester, Thea Maria Gerst (geboren am 16. Oktober 1930 in Bamberg, Oberfranken; gestorben am 23. August 1974 in East Farmingdale, Suffolk County, New York).[3]

Walter S. G. Kohn heiratete am 19. Juni 1955 die russischstämmige Lehrerin, Journalistin und Dramatikerin Rita Tevelowitz (geboren am 10. Oktober 1933 in South Fallsburg, New York). Aus der Ehe gingen die Tochter Sharon Ruth Kohn und die beiden Söhne Martin Steven Kohn und Thomas David Kohn hervor.[1] Seine Ehefrau hatte von 1969 bis 1973 und 1987/88 ebenfalls an der Illinois State University gelehrt.[4][5]

Familienname und Schreibweise

Noch vor seiner im Frühjahr 1947 erfolgten Emigration in die Vereinigten Staaten fügte Walter Samuel seinem Familiennamen Gerst den Mädchennamen seiner Mutter, Kohn, mit Bindestrich hinzu.[6] In den USA nutzte er den Familiennamen Gerst später jedoch nur noch als Initial wie einen dritten Vornamen, so dass die Schreibweise Walter S. G. Kohn für ihn gebräuchlich wurde. Unter dieser Schreibweise seines Namens hat er gelehrt und publiziert.[2] Die Bevorzugung des Mädchennamens seiner Mutter dürfte auf den Umstand zurückzuführen sein, dass sich sein Vater schon während Walter Samuels Kleinkindalter von seiner Ehefrau Lilly getrennt hatte und eine zweite Ehe eingegangen war. Walter Samuel Gersts Bindung an seine Mutter Lilly war daher zumindest aus diesem Grund ausgeprägter.

Schule, Emigration und Studium

Nach dem Besuch der Volksschule in Lichtenfels wurde Walter Samuel Gerst 1936 während der Zeit des Nationalsozialismus als Dreizehnjähriger von der Realschule Lichtenfels (heute: Meranier-Gymnasium) verwiesen, weil er jüdischer Abstammung war. Sein Großvater Samuel Kohn (1851–1922) hatte zu den fünf Gründerpersönlichkeiten und Finanziers dieser Schule, einer privaten Stiftung, gezählt.[7][8][9] Walter musste in der Folge aufgrund nationalsozialistischer Diskriminierung und Ausgrenzung nach dem 17. August 1938 unter dem Namen Walter Israel Gerst (siehe NS-Namensänderungsverordnung) nach England flüchten; seine deutsche Staatsbürgerschaft wurde annulliert, d. h., er wurde expatriiert. Den für England und die USA erteilten Sichtvermerk in seinem deutschen Reisepass hatte ihm (und seiner Mutter) der Verwaltungsbeamte Wilhelm Aumer 1938 im Bezirksamt Lichtenfels eingetragen, obwohl gemäß geltenden NS-Verordnungen der Sichtvermerk nur für ein einziges Land erteilt werden durfte. In Gerst-Kohns Familie geriet Aumers Unterstützung ihrer Emigrationsbemühungen auch nach einem halben Jahrhundert nicht in Vergessenheit.[10][11]

Im Frühjahr 1947 schloss Walter S. Gerst-Kohn sein Studium der Politikwissenschaft an der University of London mit dem akademischen Grad eines Bachelor of Science (B.Sc.) ab und emigrierte im März 1947 in die Vereinigten Staaten.[2][6] 1949 erwarb er an der New School for Social Research (NSSR) in New York City den akademischen Grad eines Master of Science (M.Sc.) und promovierte 1953 ebenda.[2][1] Am 14. August 1952 wurde er in New York City als US-Staatsangehöriger eingebürgert.

Werdegang

Er lehrte danach zunächst am Lawrence College in Appleton im US-Bundesstaat Wisconsin, später am College for Teachers der State University of New York in Buffalo, im US-Bundesstaat New York.[2][1]

Über drei Jahrzehnte lehrte er dann als Professor am Department of Political Science der Illinois State University (ISU) in Normal im US-Bundesstaat Illinois,[2] deren Senat er ebenso angehörte wie dem Arts and Sciences College Council. Er engagierte sich über viele Jahre für den Bibliotheksverbund Corn Belt Library System, den er gründete und zeitweise auch leitete. Als Präsident saß er der von deutsch-jüdischen Emigranten gegründeten Loge Abraham Lincoln Lodge of BÂ’nai BÂ’rith vor.[1]

1986 wurde Walter Kohn emeritiert.[2][1] Im Jahr 1995 wurden in Deutschland seine 1988 verfassten Erinnerungen und Gedanken zum 50. Jahrestag der Pogrome anlässlich der so genannten „Reichskristallnacht“, wie er sie als Fünfzehnjähriger im oberfränkischen Lichtenfels miterleben musste, veröffentlicht.[12]

Zuletzt lebte er in Indianapolis im US-Bundesstaat Indiana. Er starb 75-jährig am 27. November 1998 und wurde auf dem Indianapolis Hebrew Congregation Cemetery North in Westfield, Hamilton County, Indiana, beigesetzt. Sein Grabstein trägt die Inschrift Repairing the World (= Die Welt reparieren).[13]

Walter S. G. Kohn Award

Die Illinois State University vergibt jährlich den Walter S. G. Kohn Award an Studierende europäischer Politik.[14][15]

Recherchehinweis

Walter Samuel Gerst-Kohns Name und biographische Daten werden sowohl online als auch in der gedruckten Sekundärliteratur häufig mit dem im selben Jahr in Wien geborenen Physiker und Chemie-Nobelpreisträger Walter Kohn verwechselt bzw. vermischt.

Veröffentlichungen (Auszug)

  • The sovereignty of Liechtenstein. In: American journal of international law, Vol. 61 (1967), hrsg. v. American Society of International Law, Washington D. C., p. 547–558, als Sonderdruck OCLC 891731525
  • Governments and Politics of the German-speaking Countries. Nelson-Hall, Chicago 1980, ISBN 0882292625
  • Women in National Legislatures – A Comparative Study of Six Countries. Praeger, New York City, ISBN 0030475910
  • Samuel Kohn – Ein Lebensbild. In: Vom Main zum Jura – Heimatgeschichtliche Zeitschrift für den Landkreis Lichtenfels, Heft 5, hrsg. v. Josef Urban, Verlagsdruckerei Schmidt, Neustadt/Aisch 1988, S. 79–88 OCLC 83733423
  • 50 Jahre nach der Deportierung der letzten Lichtenfelser Juden – Gedanken zum 9. November 1988. In: Lichtenfelser Hefte zur Heimatgeschichte, 5, hrsg. v. d. Stadt Lichtenfels, Selbstverlag, Lichtenfels 1995 OCLC 163433523
  • The Life of Samuel Kohn, ca. 1995 OCLC 78465191

Siehe auch

Einzelnachweise und Fußnoten

  1. a b c d e f Obituary Walter S. G. Kohn. In: The Pantagraph (Bloomington, Illinois), 9. Dezember 1998; Zitat: „Walter S. G. Kohn, 75, of Indianapolis, formerly of Normal, died Nov. 27, 1998, at Carle Foundation Hospital, Urbana. […] He was born May 16, 1923, in Lichtenfels, Germany. He married Rita Tevelowitz. She survives. Other survivors include one daughter, Cantor Sharon Ruth Kohn and her husband, Richard Simon, of Cincinnati, Ohio; two sons, Martin Steven (Elizabeth) Kohn, Clifton; and Thomas David Kohn, Minneapolis; and six grandchildren. Dr. Kohn was a professor of political science at Illinois State University for 30 years, retiring in 1986. A 1947 graduate of the University of London, he received a masters’s degree in 1949 and a doctoral degree in 1953, both in political science, from the New School for Social Research, New York City. Before coming to ISU, Dr. Kohn taught at Lawrence College in Appleton, Wis., and the State University of New York College for Teachers, Buffalo, N. Y. He was the author of "Governments and Politics of the German-speaking Countries" and "Women in National Legislatures," and published numerous articles in scholarly journals. He served on ISU’s Academic Senate and also was a member, as well as chairperson, of the Arts and Sciences College Council. He was a board member of the Midwest Model United Nations in St. Louis. He was elected to two six-year terms on the town of Normal Library Board, and served as board president. He was a founder, and later treasurer, of the Corn Belt Library System. Dr. Kohn was a board member of Moses Montefiore Temple in Bloomington, also serving as an officer of the board, and served as president of the Abraham Lincoln Lodge of BÂ’nai BÂ’rith. He and his wife, Rita, were strong supporters of Community Players and were active in Friends of the Arts.“
  2. a b c d e f g Walter Samuel Gerst Kohn, Curriculum Vitae, auf: prabook.com
  3. Die Passagierliste der M.V. Britannic von Liverpool nach New York City (Abfahrt am 3. Mai 1940, Ankunft am 11. Mai 1940) weist unter Pos. 10 den in Bamberg geborenen 53-jährigen Passagier Hans Gerst als verheirateten deutschen Staatsbürger mit der Berufsangabe Hops Merchant (= Hopfenhändler) aus. Unter Pos. 11 verzeichnet die Passagierliste die 43-jährige Irma Gerst als in Bamberg geborene, verheiratete deutsche Staatsbürgerin ohne Berufsangabe als Ehefrau des unter Pos. 10 genannten Hans Gerst. Pos. 12 weist die 9-jährige Thea Maria Gerst als in Bamberg geborene, ledige, deutsche Staatsbürgerin als Scholar (= Schüler/in) und Tochter des unter Pos. 10 und 11 geführten Ehepaars aus. Die Familie gab unter der Spalte Race or People (= Rasse oder Volk) den Begriff Hebrew (= hebräisch) an und wies sich als der deutschen und englischen Sprache kundig aus. Die Visa für die dreiköpfige Familie wurden am 11. April 1940 von der US-Botschaft in London ausgestellt, SEC. 5 QIV 26428 für den Vater, SEC. 5 QIV 26429 für die Mutter, SEC. 5 QIV 26430 für deren Tochter. In England lebte die Familie zuletzt in Hove in der Grafschaft East Sussex. Zitiert nach: List or Manifest of Passengers for the United States Immigrant Inspector at Port of Arrival, No. 7 (1940)
  4. Rita Kohn, Curriculum Vitae, auf: prabook.com
  5. Kohn, Rita Tevelowitz, auf: lifestoriesproject.net
  6. a b Die Passagierliste der RMS Queen Elizabeth von Southampton nach New York City (Abfahrt am 15. März 1947, Ankunft am 21. März 1947) weist unter Pos. 11 den in Lichtenfels geborenen 23-jährigen Passagier Walter S. Gerst-Kohn als ledigen staatenlosen Deutschen mit der Berufsangabe Farmer (= Landwirt) aus. Unter Pos. 10 weist sie seine 54-jährige Mutter Lilly Kohn als in Lichtenfels geborene, geschiedene, staatenlose Deutsche mit der Berufsangabe Housekeeper (= Haushälterin) aus. Beide gaben unter der Spalte Race or People (= Rasse oder Volk) den Begriff German (= deutsch) an, im Gegensatz zu anderen Mitreisenden jüdischer Abstammung, die dort Hebrew (= hebräisch) angegeben hatten. Beide gaben an, der deutschen und englischen Sprache kundig zu sein. Die Visa für beide wurden am 21. November 1946 von der US-Botschaft in London ausgestellt, SEC. 5 QIV 15439 für die Mutter, SEC. 5 QIV 15440 für deren Sohn. In England lebte die Mutter zuletzt in London, der Sohn in Aylesbury in der Grafschaft Buckinghamshire. Zitiert nach: List or Manifest of Passengers for the United States Immigrant Inspector at Port of Arrival, No. 124 (1947)
  7. Samuel Kohn wurde am 18. Juli 1851 in Baiersdorf, Mittelfranken, als Sohn des Jondoff Kohn (geboren am 18. Mai 1811 in Baiersdorf, Mittelfranken; gestorben am 4. Mai 1888) und dessen Ehefrau Mina Kohn (geboren am 28. Mai 1812 in Baiersdorf, Mittelfranken; gestorben am 27. April 1858 ebda.) geboren. Er verstarb am 28. Dezember 1922 in Bamberg, Oberfranken.
  8. Walter S. G. Kohn: Samuel Kohn – Ein Lebensbild. In: Vom Main zum Jura – Heimatgeschichtliche Zeitschrift für den Landkreis Lichtenfels, Heft 5, Selbstverlag, 1988, S. 79–88 OCLC 83733423
  9. Walter S. G. Kohn: The Life of Samuel Kohn, Manuskript, ca. 1995 OCLC 78465191
  10. Susanne Troche: Widerstand gegen Hitler – Einzelbeispiele aus dem Raum Lichtenfels (= Fränkische Heimat am Obermain, Heft 32). Beilage zum Jahresbericht 1994/95 des Meranier-Gymnasiums in Lichtenfels, Kapitel 6.4.3 Wilhelm Aumer; Zitat von Walter S. G. Kohn (1988): „Als das Naziregime sich dann tiefer und tiefer verankerte und die antisemitischen Massnahmen an Zahl und Intensitaet zunahmen, wurde es immer schwieriger auszuwandern. […] Ich erinnere mich noch, dass man von mir eine Bescheinigung verlangte, dass ich nicht Mitglied der Hitlerjugend sei. Und wie bekam man diese Dokumente, wenn jeder Besuch bei den Aemtern ein Opfergang sein konnte, wo man angeschrien und beleidigt werden konnte, wenn nicht sogar misshandelt, wenn das den Behoerden gerade Spass machte? In dieser Beziehung hatten wir in Lichtenfels Glueck, denn im Bezirksamt sass der Herr Aumer, ein grundanstaendiger Beamter vom alten Schlag.“
  11. Textauszug aus einem in Indianapolis verfassten Schreiben von Walter Samuel Gerst-Kohn vom 14. September 1993 an Susanne Troche, Schülerin des Meranier-Gymnasiums in Lichtenfels. Zitiert nach: 13 Führerscheine – Dreizehn jüdische Schicksale, Scrapbook zur gleichnamigen historischen Ausstellung. Projekt des P-Seminars Geschichte des Meranier-Gymnasiums in Lichtenfels unter Leitung von Studiendirektor Manfred Brösamle-Lambrecht auf Initiative des Landrats Christian Meißner, Schuljahr 2017/18, 2., korr. und erw. Auflage, Lichtenfels 2019, S. 98; Zitat von Walter S. G. Kohn (1993): „Die paar Leute, die bis zum November 1938 noch in juedische Laeden gingen, die auf unsere Strassenseiten (sic!) kamen um uns zu gruessen, das waren Helden in der damaligen Zeit. [...] Es gab eine Handvoll Lichtenfelser, die bis zuletzt zu uns gehalten haben, nicht viele und nicht durch große Demonstrationen. Die getraute sich keiner mehr. Aber ein paar wenige Leute liessen uns wissen, dass sie bei uns standen -- und viele, viele fielen ihrer eigenen Feigheit zum Opfer. Herr Aumer sass im Bezirksamt und hatte die Paesse unter sich. [...] An eine Behoerde gehen zu koennen ohne angeschnauzt zu werden, war eine Seltenheit. Claude (Klaus) Bamberger hat beschrieben, wie Herr Aumer eines Nachts zu seiner Mutter [in die Villa Sonnenhaus] kam, um sie zu warnen, dass ihr Pass in ein paar Tagen eingezogen werden wuerde und um ihr zu raten, so bald wie moeglich zu verreisen [gemeint: emigrieren]. Ich wusste nicht wohin ich ins Ausland gehen wuerde und so baten wir Herrn Aumer, den Pass fuer zwei Laender, England und Nordamerika auszustellen. »Darf ich zwar nicht, aber man darf heute viel nicht«, sagte er und tat es. All das waren kaum Heldentaten, aber solche kleinen Episoden taten aeusserst wohl und erleichterten das Leben sehr.“
  12. Walter S. G. Kohn: 50 Jahre nach der Deportierung der letzten Lichtenfelser Juden – Gedanken zum 9. November 1988 (= Lichtenfelser Hefte zur Heimatgeschichte, 2), hrsg. v. d. Stadt Lichtenfels, Selbstverlag, Lichtenfels 1995
  13. Grabstätte Walter Samuel Gerst Kohn, auf: findagrave.com
  14. Der Walter S. G. Kohn Award wird pro Jahr an eine Studentin oder einen Studenten vergeben. Zitiert nach: Schriftliche Auskunft durch die Illinois State University, Department 4600 Politics and Government, Jennifer Han, 20. Juli 2020
  15. Walter S. G. Kohn Award des Department of Politics and Government der Illinois State University: „Political Science undergraduate or graduate students with at least 3.0 GPA who have demonstrated interests in European politics, attended at least one course on European politics, and would continue to pursue issues relevant to the understanding of contemporary politics of European countries will be eligible for the award“.