Apokryphenstreit

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Der Apokryphenstreit war eine in den Jahren 1825 bis 1827 um den korrekten Druck von Bibeln geführte Auseinandersetzung zwischen strengen Anglikanern und Reformierten der britischen Insel einerseits und kontinentalen Lutheranern andererseits, der zur Abspaltung der Bibelgesellschaften in England von ihren kontinentalen Schwestergesellschaften führte.

Die Frage, ob die Apokryphen würdig seien, mit den kanonischen Schriften gedruckt und verbreitet zu werden, wie dies in Deutschland aufgrund der Einschätzung Luthers verlangt und bis heute geübt wird, wurde in England meist verneint. Nach langen Verhandlungen ließ die British and Foreign Bible Society die Apokryphen weg und entzog den Gesellschaften, welche die Apokryphen verbreiteten, ihre Unterstützung, während die Bibelgesellschaften auf dem Kontinent sich von der britischen ablösten.[1]

Hintergrund des Streites

Im ältesten Sprachgebrauch sind die Apokryphen Schriften der Häretiker im Gegensatz zu denen der Katholiken; seit Hieronymus diejenigen Bücher des griechischen Alten Testaments (Septuaginta) und der aus diesem geflossenen Übersetzungen, die nicht in der Hebräischen Bibel stehen. Vor Hieronymus nannte man diese „kirchliche Vorlesebücher“ (Jesus Sirach heißt deshalb in der lateinischen Kirche geradezu Ecclesiasticus).

Zu den Apokryphen des Alten Testaments gehören: die drei Bücher der Makkabäer (von denen Luther nur die zwei ersten übersetzt hat), das Buch Judith, das Buch Tobias, das Buch Jesus Sirach (mit der von Luther gleichfalls nicht übersetzten Vorrede), das Buch der Weisheit Salomos, das Buch Baruch, der Brief des Jeremia (bei Luther das 6. Kapitel des Buches Baruch), das sogenannte dritte Buch Esra (auch Esra I, von Luther nicht übersetzt, eine Erweiterung einer griechischen Übersetzung des kanonischen Esrabuches), einige spätere Zusätze zu den Büchern Daniel und Esther.

Alle diese Schriften fanden in den hebräischen Kanon der palästinensischen Juden keine Aufnahme, teils weil sie sich von vornherein hierzu wegen ihrer Abfassung in griechischer Sprache nicht eigneten, teils weil ihr junger Ursprung bekannt war. So ist das ursprünglich hebräische Spruchbuch des Jesus Sirach nicht aufgenommen, weil es unter dem Namen seines Verfassers umlief, wohl aber die jüngere Danielapokalypse, weil sie sich auf einen berühmten Namen zurückführt.

Da die christliche Kirche das Alte Testament in der Form der griechisch-alexandrinischen Bibel übernommen hat, benutzten die ältesten kirchlichen Schriftsteller diese Apokryphen ebenso wie die kanonischen Bücher des Alten Testaments als heilige Schriften. Unsicherheit entstand über ihre dogmatische Bedeutung erst, als man sich dessen bewusst wurde, dass sie im palästinisch-hebräischen Kanon fehlen.

In der griechisch-morgenländischen Kirche werden sie schon im 3. Jahrhundert als zum Lesen nützliche kirchliche Vorlesebücher bezeichnet. Ähnlich urteilten im Abendland noch Rufin und Hieronymus (Ende des 4. und Anfang des 5. Jahrhunderts), wogegen sich die afrikanischen Kirche auf der Synode von Hippo (393) für die Aufnahme der Apokryphen in den alttestamentlichen Kanon entschied. Diese Entscheidung fand allmählich auch im übrigen Abendland Nachahmung, doch schwankt das Urteil das ganze Mittelalter hindurch.

Erst das Konzil von Trient hat in seiner vierten Session am 8. April 1546 die Gleichstellung der in der lateinischen Kirchenbibel (der sogenannten Vulgata) enthaltenen Apokryphen (außer dem 3. und 4. Esrabuch) mit den übrigen Schriften des Alten Testaments ausgesprochen. 1672 hat sich auf der Synode zu Jerusalem die griechische Kirche für die Inspiration der Apokryphen entschieden.

Dagegen achtete Luther, obwohl er die Apokryphen mit wenigen Ausnahmen ins Deutsche übersetzte und als Anhang zum Alten Testament herausgab, diese für Bücher, „so der Heiligen Schrift nicht gleichzuhalten und doch nützlich und gut zu lesen sind“.[2]

Die Apokryphen des Alten Testaments haben, teils ursprünglich griechisch geschrieben, teils aus dem Hebräischen übersetzt, in der Septuaginta Aufnahme gefunden, während sie im hebräischen Kanon fehlen. Daher galten sie auch in der Alten Kirche zunächst nur als kirchliche Vorleseschriften. In der griechischen Kirche erhielten sie nie völlig gleichen Rang mit den kanonischen Büchern, während die lateinische Kirche seit Augustinus von Hippo die Unterschiede verwischte.[3]

Anlass des Streites

Papst Leo XII. verurteilte 1824 die protestantische Initiative, Bibeln frei und weiträumig zu verteilen, in seiner Enzyklika Ubi primum. Das löste 1825/26 den „Apokryphenstreit“ in der protestantischen Bewegung aus. Evangelikale innerhalb der Kirche von England verboten die ihnen als katholisch geltenden Apokryphen in ihren Bibeln mit dem Ergebnis, dass sich die Bibelgesellschaften in England von ihren kontinentalen Schwestergesellschaften abspalteten.

„Die totale Ablehnung der Apokryphen stammte aus der schottisch-puritanischen Tradition. Schon 1648 hatte die Westminster Confession bezüglich der alttestamentlichen Apokryphen erklärt: „... of no authority in the Church of God, nor to be otherwise approved, or made use of, than other human writings“ – [sie seien] „ohne Autorität in der Kirche Gottes, auch nicht anders anerkannt oder gebraucht als andere menschliche Schriften“. Aus dieser Tradition kamen nun zum großen Teil nicht nur die Gründer, sondern auch die Geldgeber der BFBS. Es waren einerseits die Dissenters, die Nonconformists, andererseits aber auch vor allem jene Kreise der Church of England, die wir als Evangelikale bezeichnen würden.“[4]

Auch die Reformierten betonten also den Unterschied zwischen den kanonischen und den apokryphen biblischen Schriften streng, und so kam es, dass die Britische und ausländische Bibelgesellschaft (BFBS) seit 1827 die Apokryphen sogar ganz aus den Ausgaben der Heiligen Schrift ausließ.

Dagegen erhoben die deutschen Lutheraner Einspruch. Luther selbst hatte nämlich die Apokryphen als Bücher beibehalten, „die der Heiligen Schrift nicht gleich zu achten, doch gut und nützlich zu lesen seien“.[5]

Wirkung

„Unter den gehässigsten persönlichen Angriffen ward der namentlich auch gegen den Druck der katholischen Bibeln gerichtete Streit durch zwei Jahre geführt, um mit dem Sieg der Apokryphenfeinde zu enden.“[6] Damit waren alle kontinentalen Bibelgesellschaften, welche die Apokryphen zuließen, von der englischen geschieden. Carl Friedrich Adolf Steinkopf, der lutherische Auslandssekretär der BFBS, legte daraufhin 1826 sein Amt nieder.

Mit dem Abbruch der Verbindungen zu der BFBS durch den Apokryphenstreit bildete sich eine besondere Eigenart bei den kontinentalen Bibelgesellschaften bezüglich der Bibelverbreitung heraus. Die bestand darin, dass man nicht nur für die Verbreitung, sondern auch für das Lesen und für das Verstehen des Wortes Gottes Verantwortung empfand. Immer wieder wurde demnach von dem Gebrauch der Bibel in Hauskreisen berichtet und auch dem Dienstpersonal das Lesen der heiligen Schrift empfohlen.[7]

Bedeutung der Apokryphen im norddeutschen Raum

Schon im ersten Jahr 1815 vertrieb die Schleswig-Holsteinische Bibelgesellschaft 3.266 Schriften, deutsche und dänische Hausbibeln, deutsche Schulbibeln und 215 Exemplare des Jesus Sirach, einer apokryphen Schrift, die für mehrere Jahre im schleswig-holsteinischen Raum sich einer gewissen Beliebtheit erfreute.[8]

Im Jahre 1825 war Pinkerton, Sekretär der Britischen Bibelgesellschaft, in Wismar und Rostock gewesen. Noch einmal war eine Spende von 500 Bibeln aus Schleswig eingetroffen. Da kam im folgenden Jahr ganz unerwartet die Nachricht, dass die Britische und Ausländische Bibelgesellschaft künftig nur noch Bibeln ohne Apokryphen vermitteln könne. Die calvinistischen Schotten hatten auf diese Entscheidung gedrängt. Die überkonfessionelle Londoner Gesellschaft drohte an dieser Frage zu zerbrechen. Um der Zusammenarbeit in England willen musste im Apokryphenstreit so ablehnend entschieden werden.

Im lutherischen Norddeutschland liebte man dagegen die Apokryphen ganz besonders. Die Rostocksche Bibelgesellschaft zum Beispiel hatte neben und mit den Psalmen das Buch Jesus Sirach in großer Zahl verbreitet, das der Aufklärungsfrömmigkeit stark entsprach. Bibeln ohne Apokryphen waren nicht gefragt. So bedeutet diese Entscheidung praktisch die Lösung von der Muttergesellschaft, die allein nach Rostock in zehn Jahren 2400 Bibeln und 1250 Neue Testamente geschenkt und damit recht eigentlich die Arbeit in Gang gebracht hatte.

In Schwerin und erst recht in Neustrelitz war es ebenso. Die Bestürzung in Mecklenburg war groß. Man verstand diese Entscheidung nicht. Die theologische und konfessionelle Scheidung vollzog sich hier erst sehr viel später. Aber es war damals ein Segen, dass die Unterstützung von außen fast ganz aufhörte und die Gesellschaften in Mecklenburg zur vollen Selbständigkeit kamen.[9]

Bei dem am 14. Mai 1826 gefeierten Jubelfest der Einführung des Christentums durch Ansgar in Nordalbingien und Skandinavien vor 1000 Jahren wurde besonders der Bibelverbreitung durch die Bibelgesellschaft und die Bibelvereine gedacht. Im von der British and Foreign Bible Society entfachten Apokryphenstreit entschied sich die Schleswig-Holsteinische Bibelgesellschaft im Einvernehmen mit den übrigen kontinentalen Bibelgesellschaften, deren Gründung die BFBS ursprünglich veranlasst hatte, auch weiterhin Bibeln mit Apokryphen zu drucken und zu verteilen. Der Bruch mit der englischen Muttergesellschaft bezüglich der finanziellen Unterstützung von Bibeln mit Apokryphen war damit bedauerlicherweise vollzogen.[10]

Literatur

  • Rudolf Stier: Die Apokryphen. Vertheidigung ihres althergebrachten Anschlusses an die Bibel. Braunschweig: C. A. Schwetschke und Sohn 1853.
  • Rudolf Stier: Letztes Wort über die Apokryphen. Schwetschke und Sohn, Braunschweig 1855 (Online)
  • Gottfried Ernst Hoffmann: 150 Jahre Schleswig-Holsteinische Bibelgesellschaft. In: Jahrbuch. Bd. 8, Witten/Berlin 1965, S. 26–50.
  • Gerhard Voß: Das Bibelwerk in Mecklenburg – sein Ursprung und seine Entwicklung. In: Die Bibel in der Welt. Jahrbuch des Verbandes der evangelischen Bibelgesellschaften in Deutschland. Band 11, Witten und Berlin 1968, S. 79–93 (online auf pkgodzik.de).
  • Otto F. A. Meinardus: Schleswig-Holsteinische Bibelgesellschaft in Geschichte und Gegenwart. In: Die Bibel in unserem Land. 175 Jahre Schleswig-Holsteinische Bibelgesellschaft. Schleswig 1990, S. 9–33.
  • Otto F. A. Meinardus: 175 Jahre Lauenburg-Ratzeburgische Bibelgesellschaft. In: Hermann Augustin (Hrsg.): Lauenburger Land, achte des Herren Wort! Festschrift zum 175-jährigen Bestehen der Lauenburg-Ratzeburgischen Bibelgesellschaft 1816–1991. Ratzeburg 1991, S. 17–39.
  • Peter Godzik (Hrsg.): Geschichte der nordelbischen Bibelgesellschaften. 2004 (online auf pkgodzik.de) (PDF; 411 kB).
  • Hermann Barth: Freude verlängert Leben. Nützlich, lustig, geistreich: Die Weisheit des Jesus Sirach. (Texte für die Seele, edition chrismon). Hansisches Druck- und Verlagshaus, Frankfurt am Main 2010.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Brockhaus Konversationslexikon, 14. Auflage, 1894-1896 (online)
  2. Brockhaus Konversationslexikon, 14. Auflage, 1894-1896 (online)
  3. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 619 (online)
  4. Otto F. A. Meinardus: 175 Jahre Lauenburg-Ratzeburgische Bibelgesellschaft. In: Hermann Augustin (Hrsg.): Lauenburger Land, achte des Herrn Wort! Festschrift zum 175jährigen Bestehen der Lauenburg-Ratzeburgischen Bibelgesellschaft 1816–1991. Ratzeburg 1991, S. 17–39, hier S. 25.
  5. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 619 (online)
  6. Artikel Steinkopf, Karl Friedrich Adolf in deutsche-biographie.de
  7. Peter Godzik (Hrsg.): Geschichte der nordelbischen Bibelgesellschaften, 2004, S. 24 (online auf pkgodzik.de) (PDF; 411 kB)
  8. Siehe dazu: Hermann Barth: Freude verlängert Leben. Nützlich, lustig, geistreich: Die Weisheit des Jesus Sirach. (Texte für die Seele, edition chrismon), Hansisches Druck- und Verlagshaus, Frankfurt am Main 2010, S. 56–63, 199–203.
  9. Gerhard Voß: Das Bibelwerk in Mecklenburg, sein Ursprung und seine Entwicklung, in: „Die Bibel in der Welt“, Band 11. Jahrbuch des Verbandes der evangelischen Bibelgesellschaften in Deutschland, Witten und Berlin 1968, S. 79–93, hier S. 88 f.
  10. Otto F. A. Meinardus: Schleswig-Holsteinische Bibelgesellschaft in Geschichte und Gegenwart. In: Die Bibel in unserem Land. 175 Jahre Schleswig-Holsteinische Bibelgesellschaft. Schleswig 1990, S. 9–33.