Ukrainische Gegenoffensive in der Region Charkiw 2022
Datum | Anfang September 2022 bis andauernd |
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Ort | Oblast Charkiw |
Ausgang | Rückeroberung von Balaklija, Kupjansk und Isjum durch die Ukraine und Rückzug der russischen Streitkräfte |
Folgen | Befreiung der nördlichen und östlichen Teile der Oblast Charkiw, Abschneiden einer russischen Nachschublinie im Donbas |
Konfliktparteien | |
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Befehlshaber | |
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Die ukrainische Gegenoffensive in der Region Charkiw ist ein militärischer Vorstoß der ukrainischen Streitkräfte seit Anfang September 2022 im Rahmen des russischen Überfalls seit Februar 2022. Durch diesen Vorstoß gelang der ukrainischen Seite ein Durchbruch durch die russische Frontlinie und die Rückeroberung u. a. der Orte Balaklija, Kupjansk und Isjum in der Oblast Charkiw im Nordosten der Ukraine.
Verlauf
Ende August 2022 lancierten die ukrainischen Streitkräfte eine langerwartete Offensive in der Oblast Cherson im Süden der Ukraine – die russische Seite hatte den Sommer über in Erwartung dieser Offensive massiv Kräfte in die Gegend verlegt (und dabei andere Frontabschnitte ausgedünnt), während die ukrainische Artillerie deren Versorgungs- und Rückzugslinien über den Dnepr systematisch abschnitt. Parallel dazu hatte die ukrainische Seite in der Oblast Charkiw, von den Russen unbemerkt, Truppen für eine Offensive konzentriert.
Am 8. September konnte die Ukraine die strategisch wichtige Kreisstadt Balaklija befreien. Noch am 9. September hatten russische Kriegsblogger geschrieben, eine Einnahme Isjums sei gänzlich unmöglich.[2] Trotzdem hatten ukrainische Truppen schon am Folgetag die russische Frontlinie um mehr als 50 Kilometer durchstoßen und die als Eisenbahnknotenpunkt strategisch bedeutsame Stadt Kupjansk am 10. September befreit. Als Folge daraus gab Russland am Nachmittag desselben Tages den Abzug seiner Truppen aus der Stadt Isjum, unmittelbar an der Grenze zum Donbas, bekannt. Nur Minuten später rief die russische Militärverwaltung alle Menschen in der gesamten Oblast Charkiw auf, die Region zu verlassen; russische Truppen traten unter hohem Materialverlust die Flucht an, um eine Einkesselung zu vermeiden. Am frühen Abend desselben Tages gab die Ukraine bekannt, dass ihre Truppen bereits am Stadtrand der Großstadt Lyssytschansk in der benachbarten Oblast Luhansk stünden. Am 11. September zog sich Russland sowohl aus dem Nordosten als auch dem Norden der Region Charkiw zurück. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, bezifferte am selben Tag die zurückeroberten Gebiete auf einen Umfang von 3000 Quadratkilometern.[3]
Laut Einschätzung des britischen Militärgeheimdienstes war es die 1. Gardepanzerarmee (welche zu Beginn des Überfalls schwere Verluste erlitten hatte und nicht wieder aufgestockt worden war), die im September 2022 in der Oblast Charkiw stationiert war und sich infolge der ukrainischen Gegenoffensive von eben dort zurückzog.[4] Bei ihrem fluchtartigen Rückzug aus der Oblast Charkiw ließen russische Truppen (u. a. durch die Evakuierung von Waffenlagern) sehr viele funktionsfähige Handwaffen und Fahrzeuge (darunter Panzer) zurück, die von ukrainischen Streitkräften erbeutet wurden.[5] Möglicherweise gerieten viele Russen in Gefangenschaft.[2] Der Generalleutnant Roman Berdnikow soll nur 16 Tage, nachdem er sein Kommando angetreten hatte, von Präsident Putin entlassen worden sein.[6]
Offensive bei Balaklija
Die Kreisstadt Balaklija hat etwa 30.000 Einwohner und liegt im Osten der Oblast Charkiw. In Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde die Stadt am 3. März 2022 durch die russische Armee besetzt.[7] Ende August 2022 startete die ukrainische Armee eine Gegenoffensive in der Oblast Charkiw. In den ersten Septembertagen gelang es der Ukraine, eine Fläche von mehr als 1000 Quadratkilometern mit mehr als 20 Orten und Dörfern zurückzuerobern und auf Balaklija vorzurücken.[8] Am Abend des 8. September gab der ukrainische Präsident Selenskyj die Befreiung von Balaklija bekannt. Zeitgleich konnten die ukrainischen Streitkräfte auch Schewtschenkowe, etwa 40 Kilometer nördlich von Balaklija, erobern.[9][10][11]
Frontbogen von Kupjansk und Rückeroberung
Nach der Einnahme von Balaklija stieß die ukrainische Armee am 9. und 10. September 2022 mehr als 50 Kilometer weit durch die russische Front in Richtung Kupjansk vor und eröffnete damit einen großen Frontbogen. Am Mittag des 10. September gab die Ukraine die Befreiung von Kupjansk bekannt.[12] Die Stadt, am 27. Februar 2022 durch die russische Armee erobert, stellte den wichtigsten Eisenbahnknotenpunkt für die Versorgung der russischen Streitkräfte in der gesamten Oblast Charkiw und im westlichen Donbas dar, da von dort aus die Bahnstrecke nach Belgorod in Russland verläuft. Außerdem liegt die Stadt am wichtigen Fluss Oskol. Um den Vormarsch der Ukraine zu verlangsamen, sprengte Russland unter anderem einen Brückenkopf.[13]
Russischer Rückzug aus Isjum
Durch die Einnahme von Kupjansk konnte die Ukraine auf die strategisch ebenfalls wichtige Stadt Isjum von Norden, Westen und Süden aus vorrücken mit der Möglichkeit, die dortigen russischen Streitkräfte einzukesseln während die östliche Flanke durch den Fluss Oskil gedeckt wurde.[14] Am 10. September 2022 gab das russische Verteidigungsministerium bekannt, man habe im Zuge einer „Umgruppierung“ Isjum verlassen. Damit kam man einer ukrainischen Einkesselung zuvor, musste allerdings viele Militärgeräte zurücklassen. Kurz darauf rief der Leiter der russischen Militärverwaltung in der Region, Witali Gantschew, alle Bewohner der Oblast Charkiw auf, ihr Leben zu retten und die Region zu verlassen.[15]
Ukrainischer Vormarsch in den Donbas
Nachdem es der Ukraine im Verlauf des 10. September gelungen war, an zahlreichen Stellen die Frontlinien der russischen Armee zu überrennen und eine Stadt nach der anderen zurückzuerobern, gab der ukrainische Militärgouverneur der Oblast Luhansk, Serhij Hajdaj, am frühen Abend desselben Tages bekannt, dass die ukrainischen Truppen bereits am Stadtrand der Großstadt Lyssytschansk im Donbas stehen.[16]
Russischer Rückzug aus dem Nordosten der Region Charkiw
Am 11. September zeigte das Verteidigungsministerium in Moskau Karten, aus denen hervorgeht, dass sich die russischen Streitkräfte auch aus einem Großteil des Gebiets im Nordosten von Charkiw zurückgezogen hatten. Die russischen Einheiten hatten den Norden des Gebiets bis zur Grenze nach Russland komplett geräumt und zogen sich im Osten auf eine Linie hinter die Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez zurück. Allerdings teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht mit, dass nicht alle russischen Truppen den Rückzug geschafft hätten: „Im Raum Charkiw sind feindliche Einheiten aus dem Bestand der 3. motorisierten Schützendivision der 20. Armee von den Versorgungswegen abgeschnitten und in Panik.“ Einwohner in der Ortschaft Kosatscha Lopan, 30 Kilometer nördlich von Charkiw und nur 4 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, hissten nach mehr als sechs Monaten russischer Besatzung am 11. September die ukrainische Flagge.[17][18]
Die russischen Streitkräfte sollten zunächst entlang des Oskil eine Verteidigungslinie aufbauen.[19] Am 19. September 2022 behauptete die ukrainischen Seite auf Telegram, dass der Oskil überschritten worden war und ukrainische Truppen sich am Ostufer des Flusses befänden.[20]
Einzelnachweise
- ↑ Der Generaloberst, der den Ukrainern Hoffnung gibt. In: spiegel.de. 13. September 2022, abgerufen am 13. September 2022.
- ↑ a b Der Kollaps der unbesiegbaren, ruhmreichen vaterländischen Armee, Republik, 17. September 2022
- ↑ Russland-Ukraine-Krieg: Lawrow signalisiert offenbar Verhandlungsbereitschaft mit Ukraine. In: Der Spiegel. 11. September 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 11. September 2022]).
- ↑ https://twitter.com/defencehq/status/1569550041194405890/photo/1. Abgerufen am 13. September 2022.
- ↑ Panzer und Granaten: Die russische Armee hinterlässt in der Provinz Charkiw ein gigantisches Waffenarsenal. In: Neue Zürcher Zeitung. 12. September 2022, abgerufen am 19. September 2022.
- ↑ Putin ‘fires army commander after just 16 days’ amid major losses in Kharkiv, The Independent, 12. September 2022
- ↑ Republic World: Russia's Defense Ministry claims Balakliya 'liberated from Ukrainian nationalists'. Abgerufen am 10. September 2022 (englisch).
- ↑ Ukraine-News am Donnerstag: Gegenoffensive nimmt laut Selenskyj an Fahrt auf. In: Der Spiegel. 8. September 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 10. September 2022]).
- ↑ Ukrainische Offensive: Russland droht eine Niederlage. Abgerufen am 10. September 2022.
- ↑ tagesschau.de: Liveblog: ++ Weitere Einreisebeschränkungen für Russen ++. Abgerufen am 10. September 2022.
- ↑ n-tv NACHRICHTEN: +++ 21:26 Selenskyj bestätigt Einnahme von Balaklija +++. Abgerufen am 10. September 2022.
- ↑ n-tv NACHRICHTEN: Ukraine meldet Einnahme von Kupjansk im Osten. Abgerufen am 10. September 2022.
- ↑ Florian Sädler: Ukraine-News: +++ Russland gibt Abzug aus Isjum zu +++. In: DIE WELT. 10. September 2022 (welt.de [abgerufen am 10. September 2022]).
- ↑ RedaktionsNetzwerk Deutschland: Ukraine-Krieg: Ukrainische Truppen erobern strategisch wichtige Stadt bei Charkiw. Abgerufen am 10. September 2022.
- ↑ Ukraine-Krieg: Russland-Vertreter ruft alle Menschen in Charkiw auf, die Region zu verlassen. In: Der Spiegel. 10. September 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 10. September 2022]).
- ↑ Liveblog: Krieg in der Ukraine. In: ZEIT Online. Abgerufen am 10. September 2022.
- ↑ tagesschau.de: Ukraine-Liveblog: ++ Putin und Macron sprechen über AKW ++. Abgerufen am 11. September 2022.
- ↑ Russland-Ukraine-Krieg: Lawrow signalisiert offenbar Verhandlungsbereitschaft mit Ukraine. In: Der Spiegel. 11. September 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 11. September 2022]).
- ↑ Ukrainisches Militär will Fluss Oskil überquert haben, Spiegel Online vom 19. September 2022.
- ↑ Ukraine troops focus on Donbas ‘de-occupation’ from Russia, Al Jazeera vom 19. September 2022.