Grauer Alltag

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist die aktuelle Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 1. Oktober 2022 um 00:31 Uhr durch imported>Marcus Cyron(74472).
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Fließbandarbeit als Beispiel für den grauen Alltag im Arbeitsleben

Als Grauer Alltag werden die Gleichförmigkeit und sich wiederholenden Tätigkeiten und Ereignisse der Werktage bezeichnet. Der Begriff stellt einen Pleonasmus dar, mit dem die negativ konnotierten Aspekte des Alltags gesteigert werden. Ihm wird die Farbigkeit der Sonn- und Feiertage, des Feierabends und der Freizeit gegenübergestellt.

Bedeutung und Gebrauch

Schon der Begriff des Alltags ist bezogen auf die sich wiederholenden, „banalen“ Tätigkeiten und Geschehnisse der Erwerbsarbeit, Haus- und Familienarbeit und die täglichen Notwendigkeiten des zivilisierten Lebens wie das morgendliche Aufstehen, die Körperpflege, die Nahrungszubereitung, Essen, Trinken und Schlafen.[1] Das zugefügte Adjektiv grau steigert die schon vorhandene negative Konnotation des Eintönigen, Langweiligen, des täglichen Einerleis, des immer gleichen Trotts und der fehlenden Abwechslung bis hin zur Freudlosigkeit. Die Farbe Grau gilt als reizarm, unscheinbar, nichtssagend, unauffällig, öde und langweilig. Auch wenn Grau de facto nicht nur ein Mischung von Schwarz und Weiß sein muss, sondern andere Farben enthalten kann, wird es in metaphorischen Begriffsbildungen meist der Farbigkeit, Buntheit und dem Glanz gegenübergestellt, etwa in der Wetterbeschreibung des grauen Himmels gegenüber dem blauen Himmel und dem Sonnenlicht.

Der graue Alltag wird daher mit fehlender Abwechslung, Monotonie, Tristesse, einem Mangel an Lebendigkeit und Spannung assoziiert. Er wird der Freizeit gegenübergestellt, in der man tun und lassen kann, was man will, keine Pflichten hat, etwas unternehmen kann. Auch wenn dem Alltag im Tageslauf der Feierabend, im Wochenlauf das Wochenende oder der Sonntag und im Jahreslauf die Feiertage und Urlaub gegenübergestellt sind, ist die Abgrenzung zwischen dem grauen Alltag und der Farbigkeit einer davon abgegrenzten Zeit nicht immer klar gegeben: Wenn der Feierabend nur im täglichen Fernsehen, das Wochenende zwar von der Erwerbsarbeit unterschieden, aber durch Hausarbeit und weitere Pflichten ausgefüllt ist, können in der Empfindung auch diese zum grauen Alltag werden.

Der graue Alltag erscheint als derjenige Teil des Lebens, dem man entfliehen möchte, den man mit bunten Einlagen zu gestalten oder dem man durch eine innere Haltung einen Sinn zu geben versucht. Das zeigt sich in Redensarten wie im grauen Alltag gefangen sein, ihm nicht entrinnen können. Nach dem Urlaub hat der graue Alltag einen wieder eingeholt oder es werden Tipps gegeben, wie sich der graue Alltag aufhellen oder farbiger gestalten lässt.[2] Damit lassen sich Reiseziele, Einrichtungsgegenstände, Ratgeberliteratur, Veranstaltungen und Spiele bewerben.[3]

Psychologie

In der Psychologie werden den sich wiederholenden Tätigkeiten und gleichbleibenden Strukturen des Alltags zunächst durchaus positive Aspekte zugeordnet, wie die Entstehung von Sicherheit, Geborgenheit und Verlässlichkeit. Gerade für die frühe Kindheit wird die Bedeutung einer Alltagsstrukturierung hervorgehoben.[4] Betont wird die Bedeutung der Alltagsstrukturierung auch als Hilfestellung bei psychischen Störungen wie Hochsensibilität, ADHS, Depressionen oder für Menschen, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters zu wenige Möglichkeiten einer eigenständigen Alltagsgestaltung haben.[5] Dabei wird angestrebt ein ausgewogenes Maß an gleichbleibenden Aktivitäten, Ritualen und Abwechslungen zu finden, während mit dem Begriff des grauen Alltags das Zuviel an Gleichem ein nicht mehr als günstig erlebtes Übergewicht bekommen hat. So wird es z. B. als Ziel Kognitiver Verhaltenstherapie als Selbsthilfe gegen Depression beschrieben, den Alltag so zu strukturieren, dass ein Erleben von Farbigkeit im Alltag wiederentstehen kann.[6][7]

In der Entwicklungspsychologie wie in der Erziehungswissenschaft besteht weitgehend Konsens darüber, dass feste Rhythmen, Rituale und Strukturierungen des Alltags eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen von Sicherheit, Vertrauen und Geborgenheit für Kinder darstellen. Der feste Tagesablauf muss dabei unterschiedlichen Bedürfnissen, wie denen nach Nahrung, Schlaf, Aktivitäten und Ruhe, gerecht werden. Unterschiedliche Auffassungen bestehen demgegenüber darüber, was jeweils das „richtige Maß“ an Struktur und Varianz in welchem Alter und für welches Kind ist.[8]

In der morphologischen Psychologie führten psychologische Untersuchungen von Alltagsphänomenen zu einer Wertschätzung des nur vermeintlich grauen Alltags: „Der Alltag ist nicht grau; er ist nicht das (nur) ‚Banale‘, das Selbstverständliche, das Durchschnittliche, er ist keine Ansammlung von Einförmigem. Im Alltag treffen vielmehr das Höchste und das Niedrigste zusammen.“[9]

Mit qualitativen Beschreibungen von Alltagsphänomenen wie dem Aufstehen, Frühstücken, Putzen, Autofahren, Sich-Kleiden oder Zeitungslesen wurde der Frage nachgegangen, was den Alltag psychologisch zusammenhält, und aufgezeigt, dass die alltäglichen Handlungen und Abläufe dramatische und kunstvolle psychologische Gebilde sind. Alltagspsychologische Untersuchungen könnten demnach, so Salber, einen ebenso bedeutsamen Beitrag zum Verstehen seelischen Funktionierens liefern wie die Untersuchungen von Träumen oder Neurosen.[10]

Literatur und Kunst

In dem Kinderbuch Vom Alltag der nicht mehr grau sein wollte von Eva Matscher finden sich für die grauen Alltag typische Charakterisierungen: Er ist ein trostloses Einerlei, hält die Menschen gefangen, frisst sie auf, in ihm geht die Liebe verloren, man möchte ihm entfliehen, aber er holt einen immer wieder ein. Die mit ihm verbundenen Plagegeister sind „die Alte Leier“ und der „Gleiche Trott“. Die ihm gegenüber gestellten Fest-, Feier- und Sonntage hingegen sprühen vor Leben, sind bunt und in der Geschichte charakterisiert durch Blumen, Schmetterlinge, Marienkäfern und Vögel, die der Alltag in seiner von den Festtagen empfohlenen Auszeit wiederentdeckt und integrieren kann. Derweil entdecken die vom Alltag zurückgelassenen Menschen, dass ihnen mit dem Alltag auch positive Aspekte fehlen, wie Gleichmaß und Ordnung, der Wert der täglichen vertrauten Aufgaben, die ihnen Sicherheit schenken, die Zufriedenheit am getanen Tagwerk.[11]

In dem zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts spielenden Roman Der graue Alltag und sein Licht von Felicitas Rose erscheint der graue Alltag zunächst als der aus dem 18. Jahrhundert stammende Name eines Gutshofes in Lage, den die junge Brigitte aus Erfurt überraschend von einer verstorbenen Tante geerbt hat.[12] Im Laufe des Romans, der die allmähliche Übernahme des Gutshofes, nebst den mit ihm verbundenen Ländereien, Personal und finanziellen Mitteln, aber auch der Verantwortung für den Ort und seine Einwohner durch die junge Baronin schildert, setzt sich dann mehr und mehr die metaphorische Bedeutung des Begriffs durch.[13] Der graue Alltag steht dabei für die reale und emotionale Armut der Dörfler, ihre Düsterkeit, Bigotterie, soziale Härte und innerfamiliäre Gewalttätigkeit. Ihm wird das Licht der Nächstenliebe, im Sinne christlicher Karitas oder Diakonie, der Protagonistin gegenübergestellt, das sich in Empathie, Naturverbundenheit, Jugendlichkeit, Hilfsbereitschaft, Offenheit und Freundlichkeit der jungen Frau zeigt. Es gründet erzählerisch in einer glücklichen Kindheit mit liebevollen, aber früh verstorbenen Eltern und einer eher aufgeklärten städtischen Umgebung, die damit zugleich der zu überwindenden Düsterkeit des dörflichen Lebens des vergangenen Jahrhunderts gegenübergestellt wird. Auf einer weiteren Ebene werden die beiden Begriffe auch auf die Höhen und Tiefen der den Roman durchziehenden Liebesgeschichte angewandt. Die Wandlungen auf beiden Ebenen schlagen sich am Ende des Romans in der Umbenennung des Gutshofes in Auf der Sonnenseite nieder.[14]

Die Tristesse des grauen Alltags spiegelt sich in den grauschattierten Fotografien des Sozialwissenschaftlers und Fotografen Heiko Sievers mit monoton wirkenden Motiven im Umfeld der West-Berliner Verkehrsbetriebe der 1980er Jahre.[15]

Einzelnachweise

  1. Alltag in: Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. Abgerufen am 18. September 2022.
  2. Alltag aufhellen. Abgerufen am 18. September 2022.
  3. Tilman Ernst: Computerspiele: bunte Welt im grauen Alltag; ein medien-und kulturpädagogisches Arbeitsbuch. Medienpädagogische Arbeitsmaterialien für Erzieherinnen/Erzieher und für Eltern. Bundeszentrale für Politische Bildung, 1993, ISBN 3-89331-182-3.
  4. Melanie Gräßler, Eike Hovermann: Kinder brauchen Rituale: So unterstützen Sie Ihr Kind in der Entwicklung. Stressfrei durch den Familien-Alltag. Humboldt Verlag, Hannover 2015, ISBN 978-3-86910-634-2.
  5. Gisela Mötzing: Aktivitäten und Alltagsgestaltung mit alten Menschen. 5. Auflage. Urban & Fischer Verlag, 2021, ISBN 978-3-437-25625-7.
  6. Julia Zwick, Martin Hautzinger: Dem Leben wieder Farbe geben. Beltz-Verlag, Weinheim 2018, ISBN 978-3-621-28496-7.
  7. Ute Becker: Wenn der Alltag grau wird. In: Pflegezeitung. Band 72, 2019, S. 28–31. doi:10.1007/s41906-018-0010-2
  8. Marit Borcherding: Kinder brauchen einen festen Tagesablauf. In: kizz, Herder. (herder.de)
  9. Wilhelm Salber: Der Alltag ist nicht grau. Bouvier-Verlag, Bonn 1989, ISBN 3-416-02212-2, S. 11.
  10. Wilhelm Salber: Der Alltag ist nicht grau. Bouvier-Verlag, Bonn 1989, ISBN 3-416-02212-2, S. 11–13.
  11. Eva Matscher: Vom Alltag der nicht mehr grau sein wollte. Verlag am Eschbach, Verlagsgruppe Patmos, Ostfildern 2018, ISBN 978-3-86917-614-7.
  12. Felicitas Rose: Der graue Alltag und sein Licht. Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin 1922, S. 5, S. 160 und S. 129: Zeichnung des Gutshofes Der graue Alltag von Hermann Krahforst.
  13. Felicitas Rose: Der graue Alltag und sein Licht. Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin 1922, S. 104, 129, 134f, 146, 178.
  14. Felicitas Rose: Der graue Alltag und sein Licht. Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin 1922, S. 297.
  15. Miriam Lenz: Fotografien von Heiko Sievers: Grauer Alltag im West-Berlin der Achtziger. In: Tagesspiegel. 29. November 2018. Abgerufen am 18. September 2022. (tagesspiegel.de)