Überrest
Überrest im Sinne der Geschichtswissenschaft bezeichnet, ausgehend von der von Johann Gustav Droysen erstellten Quellentypologie und -systematik, eine „unabsichtlich“ hergestellte Quelle, also einen Gegenstand oder ein Dokument, der oder das aus anderen Gründen erstellt wurde als dem, die Nachwelt über Gegenwart oder Vergangenheit zu unterrichten. Droysen unterscheidet unabsichtlich überlieferte Überreste von Denkmälern (bei ihm vor allem Urkunden) und Traditionen, bei denen eine Überlieferungsabsicht gegeben ist. Nach einer von Ernst Bernheim überarbeiteten, vereinfachten Typologie stellen Überreste den Gegenpart zu Traditionsquellen dar, die vornehmlich zum Zweck der absichtlichen Überlieferung hergestellt wurden.[1] Zu unterscheiden sind:
- Sachüberreste, zum Beispiel Menschen- und Tierleichen, Gebrauchsgegenstände (etwa Werkzeug, Kochgeschirr), Kleidung, Bauten;[2]
- abstrakte Überreste, zum Beispiel Sprache und Namen, Institutionen, Gebräuche;[2]
- schriftliche Überreste, also im Wesentlichen Schriftdokumente für den täglichen Gebrauch, die ohne Überlieferungsabsicht für die Nachwelt produziert worden sind. Beispiele sind: Urkunden, Akten, Alltagsschriftgut.[2]
Aus der Perspektive der Quellenkritik, der Methode, aus Quellen verlässliche Aussagen über die Vergangenheit zu gewinnen, ist diese Unterscheidung von Bedeutung, da Überreste kein durch Absicht verfälschtes Bild liefern können. Allerdings können sie erst durch bisweilen aufwendige methodische Aufarbeitung und Interpretation für historische Fragestellungen verwertbar gemacht werden.
Die Unterscheidung ist darüber hinaus von der jeweiligen historischen Fragestellung abhängig, das bedeutet, dass dieselbe Quelle je nach Fragestellung Überrest oder Tradition sein kann. Ein Denkmal beispielsweise ist für eine Fragestellung nach dem Ereignis oder der Person, an die es erinnert, Tradition, für eine Fragestellung nach der Memorialkultur der Epoche, in der es errichtet wurde, Überrest.
Zu beachten ist, dass Überreste, vor allem rechtsrelevante Texte, insbesondere Urkunden, gefälscht und auch verfälscht sein können, um einen rechtlichen Vorteil in Gegenwart und Zukunft zu erlangen. Solche Fälschungen werden damit für die wissenschaftliche Forschung nicht wertlos, denn eine sachgemäß angewendete Quellenkritik fragt stets auch nach den Motiven, hier der Fälscher, und kann so zu aufschlussreichen Erkenntnissen führen. Damit stellen solche Fälschungen in sich wieder eine Quelle dar, die von historischem Interesse sein kann.
Literatur
- Ernst Opgenoorth, Günther Schulz: Einführung in das Studium der Neueren Geschichte. 7. Auflage. Schöningh, Paderborn u. a. 2010, S. 49–55; 86–179
- Alfred Heuß: Überrest und Tradition. Zur Phänomenologie der historischen Quellen. In: Archiv für Kulturgeschichte 25, 1935, S. 134–183.
- Ernst Bernheim: Einleitung in die Geschichtswissenschaft. 3. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin/Leipzig 1926, besonders S. 104–132.
- Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Herausgegeben von Rudolf Hübner, R. Oldenbourg Verlag, München 1937, S. 38–84; bes. S. 38–50.
- Johann Gustav Droysen: Grundriss der Historik. Veit, Leipzig 1868, S. 14–15 [2]
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Manfred K.H. Eggert: Prähistorische Archäologie. Konzepte und Methoden. (= UTB 2092), 4. Auflage, A. Franke Tübingen/Basel 2012, ISBN 978-3-8252-3696-0, S. 44–49
- ↑ a b c Andreas Frings, Andreas Linsenmann, Sascha Weber: Vergangenheiten auf der Spur: Indexikalische Semiotik in den historischen Kulturwissenschaften, Degruyter, 2014, ISBN 9783839421505, S. 109 [1]