Alexander Iljitsch Ginsburg

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Alexander Ginsburg (1980)

Alexander Iljitsch Ginsburg (russisch Александр Ильич Гинзбург, * 21. November 1936 in Moskau; † 19. Juli 2002 in Paris) war ein russischer Journalist, Schriftsteller, Herausgeber und Bürgerrechtler.

Ginsburg gilt als einer der führenden Dissidenten der Sowjetunion und war Herausgeber der ersten bedeutenden Samisdat-Zeitschrift. Die Behörden warfen ihm antikommunistische Propaganda vor. Er wurde dreimal zur Haft in Arbeitslagern verurteilt: 1960 zu zwei, 1968 zu fünf sowie 1978 zu acht Jahren. Im April 1979 wurde er ausgebürgert und zusammen mit vier weiteren Häftlingen gegen zwei sowjetische Spione ausgetauscht. Nach knapp eineinhalb Jahren Aufenthalt in den USA zog er mit seiner Familie nach Paris.

Herkunft und Ausbildung

Alexander Ginsburg wurde 1936 in Moskau geboren. Sein Vater Sergei Sergejewitsch Tschischow, der aus dem russischen Landadel stammte, hatte in den 1930er Jahren als sowjetischer Student bei Le Corbusier in Frankreich Architektur studiert; 1936 wurde er im Zuge des Großen Terrors verhaftet und 1937 starb er in der Untersuchungshaft.[1] Seine Mutter Ljudmila Iljinitschna Ginsburg arbeitete nach ihrer kaufmännischen Ausbildung in der Planungsabteilung eines Unternehmens. Alexander wuchs ohne Geschwister auf.[2] Seine Mutter veranlasste, dass in der Geburtsurkunde ihr Name eingetragen wurde.

Er besuchte die Moskauer Schule Nr. 12, auf die auch viele Kinder sowjetischer Kader aus dem Haus an der Uferstraße sowie Kinder von Bewohnern des Hauses der Schriftsteller gingen. 1952 begann er eine Karriere als Schauspieler. Eine der ersten Stationen war das Jugend-Theater in Nowosibirsk, dort begann er zudem mit Regiearbeiten.[3]

Frühe journalistische Aktivitäten und erster Samisdat

1956 nahm er sein Journalistik-Studium an der Universität Moskau auf. Als Nachwuchsjournalist arbeitete Ginsburg unter anderem in der Redaktion von Moskowski Komsomolez. Er vermied es, für Propaganda-Abteilungen von Zeitungen zu arbeiten, und widmete sich vordergründig unpolitischen Themen wie Sport oder Ballett.[4]

Die engen Grenzen, die die Zensur für literarische Veröffentlichungen setzte, beschäftigte Ginsburg und andere Künstler des nicht-offiziellen Bereichs. 1959 gab er daher erstmals die Zeitschrift Sintaksis (russ. „Синтаксис“) heraus, benannt nach einem Hund aus einer Erzählung von Anton Tschechow. Die Sintaksis war die erste Samisdat-Zeitschrift der Sowjetunion, die eine größere Verbreitung erreichte und auch nachgedruckt wurde.[5] Außerdem war sie die erste inoffizielle Zeitschrift, die mit vollem Namen und der Adresse des Herausgebers erschien, was einen großen Eindruck auf die Leser machte. Damit sollte eine Normalität der Namensnennung demonstriert werden. Die Bedeutung dieser Handlung drückte der Menschenrechtsaktivist Juri Nikolajewitsch Jarym-Agajew mit folgenden Worten aus:

„Eine unabhängige Zeitschrift in der Sowjetunion zu verlegen, war nicht nur unmöglich, sondern kam in der Vorstellungswelt nicht vor. Nachher erschien es so einfach, aber zuvor kam es in der Vorstellungswelt nicht vor und erforderte eine wirkliche Entdeckung.“[6]

Die in der Zeitschrift veröffentlichten Gedichte stammten von unbekannten wie bekannten Lyrikern wie Bulat Okudschawa, Bella Achmadulina und Joseph Brodsky.[7]

Die Iswestija veröffentlichte 1960 über die Sintaksis einen spöttischen Artikel mit dem Titel Die Müßiggänger erklimmen den Parnass.[8]

Erste Haft

Während der Vorbereitung der vierten Sintaksis-Ausgabe, die nicht mehr erscheinen konnte, verhaftete der KGB Ginsburg im Juli 1960 wegen des Besitzes von „antisowjetischer Literatur“. Die Ermittlungen verliefen lange ohne greifbares Ergebnis. Ginsburg wurde 1960 schließlich der Urkundenfälschung bezichtigt – er hatte rund ein Jahr zuvor für einen Freund eine schriftliche Prüfungsaufgabe gelöst – und zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt; die Anklage wegen des Besitzes „antisowjetischer Literatur“ wurde dagegen fallen gelassen. Die Fortsetzung seines Fernstudiums an der Universität Moskau wurde ihm untersagt. Ginsburg verbüßte seine Haft im WjatLag in der Oblast Kirow und musste dort Holzfällerarbeiten leisten. Am 14. Juli 1962 wurde er entlassen.[9][10]

Weißbuch und zweite Haft

Nach seiner Freilassung arbeitete Ginsburg an den inoffiziellen Zeitschriften Sphinx 65 und Phönix 61 mit.[11]

Am 14. Februar 1966 verurteilte ein sowjetisches Gericht die Schriftsteller Andrei Sinjawski und Juli Daniel, weil sie im Westen unter Pseudonym nicht-konforme Literatur veröffentlicht hatten („Tamisdat“). Der Westen kritisierte diesen Schauprozess und das Urteil scharf. Vor diesem Hintergrund stellte Ginsburg gemeinsam mit den Ehefrauen der Verurteilten und einigen ihrer Freunde eine Dokumentation zusammen, die er dem KGB vorlegte und von der er eine Veröffentlichung ankündigte, falls die Urteile nicht aufgehoben werden. Ebenso sprach er mit Abgeordneten des Obersten Sowjets. Ein Exemplar des Manuskripts gelangte in den Westen, wo seine Veröffentlichung angekündigt wurde. Daraufhin verhafteten die sowjetischen Behörden Ginsburg ein weiteres Mal und verurteilten ihn 1968 wegen „Propaganda gegen den Staat“ zu fünf Jahren Arbeitslager.[12]

Die von Ginsburg zusammengestellte Prozessdokumentation erschien 1966 in Deutschland auf Russisch unter dem Titel «Белая книга» по делу писателей Андрея Синявского и Юлия Даниэля und 1967 in deutscher Übersetzung als Weissbuch in Sachen Sinjawskij-Daniel in dem von der antikommunistischen Exilorganisation Bund der russischen Solidaristen betriebenen Possev-Verlag.

Ginsburg verbrachte den ersten Teil seiner Haft im mordwinischen Arbeitslager Potma. Im Sommer 1969 setzte er mit Hilfe von Hungerstreiks die Heirat mit seiner Verlobten Irina Sokolowskaja durch, einer Universitätsdozentin. Als Hochzeitstermin legten die Behörden den 21. August 1969 fest, den ersten Jahrestag des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei. Ginsburg und Mithäftlingen gelang es wiederholt, Manuskripte und Audioaufnahmen aus dem Lager Potma herauszuschmuggeln, die später im Westen publiziert beziehungsweise gesendet wurden. Die Behörden bestraften ihn dafür mit der Verlegung in die Wladimirowka.[13][14][11]

Menschenrechtsarbeit und dritte Haft

Nach seiner Haftentlassung im Januar 1972 durfte Ginsburg nicht nach Moskau zu seiner Frau und seinen beiden Kindern zurückkehren. Er zog daraufhin ins rund 100 Kilometer entfernte Tarussa. Mittlerweile galt er als einer der führenden Dissidenten. Er wurde Sekretär von Andrei Sacharow, und auch der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn nahm Kontakt zu ihm auf. Nach dessen Ausweisung im Februar 1974 übernahm Ginsburg die Verwaltung des Russischen Gesellschaftsfonds zur Unterstützung der Verfolgten und ihrer Familien (auch: Solschenizyn-Fond), der die Einnahmen aus Solschenizyns Werk Der Archipel Gulag und Spenden sowjetischer Bürger erhielt. Der Fonds unterstützte politische Gefangene der Sowjetunion und ihre Familien.[11][15] 1976 gehörte Ginsburg zu den Gründungsmitgliedern der Moskauer Helsinki-Gruppe, die über die Einhaltung der 1975 ausgehandelten Menschenrechtsbestimmungen der Schlussakte von Helsinki wachte.[11][10]

Die sowjetischen Behörden verhafteten ihn am 3. Februar 1977 erneut. Dieses Mal warfen sie ihm Devisenvergehen vor. Per Dekret von Leonid Breschnew wurde die gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer von zwölf Monaten Untersuchungshaft überschritten. Das Gerichtsverfahren gegen Ginsburg begann im Juli 1978 und erregte erneut internationale Aufmerksamkeit. Laut seiner Ehefrau, die das Verfahren verfolgte, wurde Ginsburg mit hohen Dosen Neuroleptika behandelt und konnte daher der Verhandlung kaum folgen.[16] Das Gericht in Kaluga verurteilte ihn zu acht Jahren Lagerhaft. Eine Berufung lehnte das Oberste Gericht der Sowjetunion ab.[11][10]

Ausbürgerung und Exil

Kurz nach der dritten Verhaftung bat Ginsburgs Mutter die Mutter des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter, sich für ihren Sohn einzusetzen. Auf Drängen des amerikanischen Präsidenten und seines Sicherheitsberaters Zbigniew Brzeziński begannen Geheimverhandlungen mit Vertretern der UdSSR.[17][11] Die Unterhändler der Sowjetunion und der USA einigten sich schließlich auf den Austausch von zwei Spionen der UdSSR gegen fünf Gefangene der UdSSR. Ausgetauscht wurden Wladik Enger und Rudolf Tschernjajew, die in den USA zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren, gegen Ginsburg, Walentin Moroz, Eduard Kusznezow, Georgi Vins und Mark Dimtschiz.

Am 27. April 1979 wurde Ginsburg ausgebürgert und in die USA ausgeflogen, wovon Irina Ginsburg erst aus einer Radiosendung der Voice of America erfuhr.[18][19] Anfang 1980 konnte sie mit den beiden leiblichen Kindern in die USA folgen, dem 19-jährigen inoffiziell adoptierten Sohn Sergej Schibatew blieb die Ausreise verwehrt. Ginsburg war zunächst Gast bei Solschenizyn in Cavendish und hielt eine Reihe von Vorträgen in den USA. Außerdem beteiligte er sich weiterhin an der Verwaltung des Solschenizyn-Fonds.

Im Sommer 1980 zog Ginsburg mit seiner Familie nach Paris. Dort übernahm er die Leitung des russischen Kulturzentrums und betätigte sich journalistisch, in erster Linie für die Emigranten-Zeitschrift Russkaja Mysl (dt. „Russischer Gedanke“), sowie als Lobbyist der sowjetischen Dissidentenbewegung.[11]

Ginsburg kommentierte nach dem Zerfall der Sowjetunion von Paris aus die Menschenrechtslage beispielsweise in Tschetschenien kritisch. Die Chancen einer demokratisch-liberalen Entwicklung Russlands betrachtete er skeptisch. Nach 18-jährigen Anstrengungen erhielt er 1998 schließlich, unterstützt durch öffentliche Proteste, die französische Staatsbürgerschaft.[11]

Veröffentlichungen, Nachlass, Dokumente

  • Weißbuch in Sachen Sinjawskij-Daniel. Possev, Frankfurt am Main, 1967.
  • Der persönliche Nachlass von Alexander Ginsburg wird in den Hoover Archives an der Stanford University, USA aufbewahrt. Eine detaillierte Bestandsübersicht kann über den Online-Katalog abgerufen werden.[20]
  • Ausgewählte Dokumente seiner dissidentischen Tätigkeit in den 1960ern und 1970ern befinden sich im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.

Weblinks

Commons: Alexander Ginzburg – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Angaben Ginsburgs über seinen Vater in: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 1, 1:44 Min. bis 4:30 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011.
  2. Angaben Ginsburgs über seine Mutter und seine Familiensituation in: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 1, 4:31 Min. bis 7:12 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011. Zu den Eltern siehe ferner den Nachruf zu Alexander Ginsburg im Magazin Kontinent, 2002, Nr. 113 (Abruf am 12. Dezember 2011). Siehe ferner Eintrag über Alexander Ginsburg im Munzinger-Archiv, Stand: 14. Dezember 2011.
  3. Angaben Ginsburgs über seine Schul- und Theaterzeit in: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 1, 7:28 Min. bis 9:40 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011. Siehe ferner Eintrag über Alexander Ginsburg im Munzinger-Archiv, Stand: 14. Dezember 2011.
  4. Angaben Ginsburgs über seine Anfänge als Journalist in: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 1,15:05 Min. bis 16:10 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011.
  5. Memorial über die Zeitschrift, Abruf am 18. Dezember 2011.
  6. To publish an independent magazine in the Soviet Union was not only impossible but also unimaginable. It seems so simple afterwards, but before it was unimaginable and required real discovery. Interview in der Zeitschrift FrontPage am 6. August 2002, Abruf am 18. Dezember 2011.
  7. Angaben Ginsburgs über Sintaksis in: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 1, 16:10 Min. bis 21:02 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011.
  8. Ju. Iwaschtschenko: Bezdel'niki karabkajutsja na Parnas. Fotokopie 1 und Fotokopie 2 des Artikels in Iswestija, 2. September 1960.
  9. Angaben Ginsburgs über seine Verhaftung, die Ermittlungen, seine Verurteilung und erste Haft in: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 1, 21:20 Min. bis 32:26 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011.
  10. a b c Nachruf auf Ginsburg in The Telegraph, 22. Juli 2002, (Abruf am 10. Dezember 2011).
  11. a b c d e f g h Alexander Ginsburg im Munzinger-Archiv, abgerufen am 14. Dezember 2011 (Artikelanfang frei abrufbar)
  12. Angaben Ginsburgs zum Weißbuch in: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 1, 39:18 Min. bis 48:57 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011.
  13. Angaben Ginsburgs zur Haft in Mordwinien und in Wladimir: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 1, 49:08 Min. bis 54:00 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011.
  14. Meldung über die Eheschließung, in Der Spiegel, 37/1969 vom 8. September 1969, (Abruf am 14. Dezember).
  15. Angaben Ginsburgs über den Kontakt zu Sacharow und Solschenizyn in: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 2, 22:08 Min. bis 23:27 Min. sowie 29.25 Min. bis 38.00 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011.
  16. Zitiert nach Anna Politkowskaja: In Putins Russland, DuMont Literatur und Kunstverlag, 3. Aufl. 2006, S. 126.
  17. Angaben Irina Ginsburgs über die amerikanischen Bemühungen in: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 2, 38:52 Min. bis 39:00 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011.
  18. Angaben der Ginsburgs über die Ausbürgerung und Ausweisung in: Zeugenschaft aus dem GULag (Regie: Laurène L'Allinec), Teil 2, 38:18 Min. bis 45:22 Min., Ausstrahlung auf arte am 7. Dezember 2011.
  19. Berühmte Agenten-Tauschhandel zwischen Russland und USA (Memento vom 20. Januar 2012 im Internet Archive), Abruf am 18. Dezember 2011.
  20. A register of the Aleksandr Il'ich Ginzburg Papers, 1921–2007. Abgerufen am 27. Mai 2021.