Aliden
Als Aliden (ʿAlawīyūn) bezeichnet man die Nachkommen von ʿAlī ibn Abī Tālib, einem Cousin und Schwiegersohn des Religionsstifters Mohammed. Sie sind eine Gruppe innerhalb der sogenannten Tālibiden (Ṭālibīyūn), der Nachkommen von ʿAlīs Vater Abū Tālib ibn ʿAbd al-Muttalib. Zu den Tālibiden gehören neben den Aliden auch die Nachkommen von ʿAlīs Brüdern ʿAqīl und Dschaʿfar. Da Abū Tālib ein Enkel von Hāschim ibn ʿAbd Manāf war, waren die Aliden auch Banū Hāschim. Zu dieser Gruppe gehörten neben den Aliden auch die Abbasiden, mit denen die Aliden im 8. und 9. Jahrhundert um die Macht rivalisierten.
Die Aliden sind nicht mit den Alawiten oder Aleviten, zwei modernen religiösen Sondergemeinschaften Vorderasiens, zu verwechseln, die auf Arabisch ebenfalls als ʿAlawīyūn bezeichnet werden. Ihr Name bezieht sich zwar gleichfalls auf ʿAlī ibn Abī Tālib, doch werden diese Gemeinschaften nicht durch eine genealogische Abkunft von ihm begründet.
Untergruppen
Zugehörig zu den Aliden sind alle Kinder, die ʿAlī mit seinen Frauen und Konkubinen gezeugt hat, sowie deren Nachkommen. Eine Untergruppe der Aliden stellen diejenigen Nachkommen dar, die aus seiner Ehe mit Mohammeds Tochter Fatima hervorgegangen sind. Sie werden in einigen arabischen Quellen im Gegensatz zu den anderen Aliden als Fatimiden (Fāṭimīyūn) bezeichnet. Auch die Herrscher der gleichnamigen Dynastie nahmen in Anspruch, zu dieser Gruppe zu gehören. Die Nachkommen Alis und Fatimas werden wiederum nach den Namen ihrer beiden Söhne (Prophetenenkel) in Hasaniden (nach al-Hasan ibn ʿAlī) und Husainiden (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen, aber nicht-alidischen Regionaldynastie Tunesiens) unterteilt.
Die Nachkommen Hasans werden seit dem 10. Jahrhundert als Scherifen (Schurafa) bezeichnet, die Nachkommen Husains als Sayyids oder Mirzas. Auch die Imame der Schiiten sind allesamt Aliden.
Die Aliden während der Umayyadenzeit
Aliden spielten eine wichtige politische Rolle während der Umayyadenzeit. So unternahm Alis Sohn al-Husain einen Aufstand gegen den umayyadischen Kalifen Yazid I. Fünf Jahre später kam es im Namen von Alis Sohn Muhammad ibn al-Hanafīya zum Aufstand des Muchtar.
Mit den Abbasiden, die wie sie Haschimiten waren, beteiligten sich die Aliden ab den 720er Jahren an der sogenannten daʿwa Hāšimiyya (hāschimitischen Propaganda), einer Untergrundbewegung, die im Namen des „desjenigen aus dem Hause Muḥammads, der Zustimmung findet“ (ar-riḍā min āl Muḥammad) auf den Sturz der Umayyaden hinarbeitete. Nachdem die Aufstände des Husainiden Zaid ibn Ali im Jahre 740 und seines Sohnes Yahya 743 niedergeschlagen worden waren, schmiedete 744 der Hasanide ʿAbdallāh ibn Hasan, der zu dieser Zeit das Oberhaupt der Aliden war, Pläne zur Übernahme der Herrschaft im islamischen Reich. Schließlich brachte die daʿwa Hāšimiyya nach dem Aufstand von Abu Muslim 749 aber doch die Abbasiden an die Macht.[1]
Alidische Aufstände unter den Abbasiden
Nach dem abbasidischen Herrschaftsantritt war das Verhältnis zwischen Aliden und Abbasiden zunächst relativ entspannt. ʿAbdallāh machte dem ersten abbasidischen Kalifen Abu l-Abbas as-Saffah seine Aufwartung und erkannte seine Herrschaft an.[2]
Während des Kalifats von al-Mansur sammelten jedoch zwei Söhne ʿAbdallāhs, Muhammad an-Nafs az-Zakīya und Ibrāhīm, Anhänger um sich und machten den Abbasiden die Herrschaft streitig. 762 unternahmen sie einen großangelegten Aufstand in Medina und Basra,[3] bei dem sie von ʿĪsā, einem Sohn Zaid ibn Alis, und dessen Anhängerschaft, den Zaiditen, unterstützt wurden.[4] In einem Brief an al-Mansūr hielt Muhammad den Abbasiden vor, dass sie ihre Herrschaft den Aliden zu verdanken hätten: "Nur durch uns konntet ihr den Anspruch auf diese Macht erheben, mit unserer Partei (šīʿa) seid ihr ausgezogen, um sie zu erlangen, und unseretwegen habt ihr sie erhalten."[5] Der Aufstand der beiden wurde allerdings schon ein Jahr später niedergeschlagen.
Im Jahre 786, unter dem kurzen Kalifat al-Hādīs, unternahm ein weiterer Alide mit dem Namen al-Husain ibn ʿAlī einen Aufstand in Medina, der allerdings mit einem Debakel endete: er wurde in Fachch bei Medina von abbasidischen Truppen besiegt.[6] Unter dem Kalifat Hārūn ar-Raschīds gelang es einem dritten Sohn ʿAbdallāhs, Idrīs, in den westlichen Maghreb auszuweichen und dort 789 mit Unterstützung einheimischer Berberstämme einen hasanidischen Staat zu begründen. Seine Nachkommen, die Idrisiden, herrschten bis zum Anfang des 10. Jahrhunderts über weite Gebiete des heutigen Marokko.
Ein vierter Sohn ʿAbdallāhs, Yahyā, zog im Irak und in Persien herum und bereitete 792 in Dailam einen Aufstand gegen den Kalifen vor.[7] Auch dieser Aufstand erhielt die Unterstützung der Zaiditen. So soll zum Beispiel der bekannte zaiditische Theologe Sulaimān ibn Dscharīr aus Raqqa Yahyā gehuldigt haben.[8] Nachdem sich aber Yahyā mit seiner zaiditischen Anhängerschaft, insbesondere den Butriten, überworfen hatte, akzeptierte er ein Amnestieangebot, das ihm der Barmakide al-Fadl ibn Yahyā unterbreitete. Das Schreiben, das ihm und 70 seiner Anhänger für den Fall, dass sie sich ergäben, Straffreiheit zusicherte, war vom Kalifen, Rechtsgelehrten, Qādīs und prominenten Abbasiden unterschrieben. Yahyā legte daraufhin die Waffen nieder und wurde vom Kalifen in Bagdad festlich empfangen. Das Ereignis wurde als Versöhnung zwischen Abbasiden und Aliden gefeiert.[9] Yahyā zog sich mit seiner Familie nach Medina zurück. Da er aber nicht bereit war, die Namen seiner 70 Anhänger namentlich zu nennen, für die die Sicherheitsgarantie gelten sollte, und es immer wieder Gerüchte über konspirative Aktivitäten seiner Anhänger gab, ließ der Kalif eine Gruppe von Rechtsgelehrten zusammenrufen, um die Sicherheitsgarantie von ihnen für ungültig erklären zu lassen. Während sich asch-Schaibānī weigerte, diesen Schritt zu autorisieren, und damit den Ärger des Kalifen auf sich zog, erklärte der Qādī Abū l-Bachtarī Wahb ibn Wahb (gest. 815) das Schreiben für ungültig und zerriss es. Der Kalif konnte somit Yahyā erneut gefangen nehmen lassen, und dieser starb einige Zeit später im Gefängnis.[10]
Zu einem weiteren alidischen Aufstand kam es im Jahre 814, nachdem zwei Jahre zuvor der Abbaside al-Ma'mūn seinen Bruder al-Amin besiegt und sich mit seinem Hof nach Merw zurückgezogen hatte. Das auf diese Weise im Zentrum des abbasidischen Reiches entstandene Machtvakuum nutzte ein gewisser Abū s-Sarāyā aus. Er zettelte im Irak im Namen des riḍā min āl Muḥammad einen großangelegten Aufstand an, der von verschiedenen schiitischen Gruppen, darunter erneut den Zaiditen, unterstützt wurde. In Kufa, Basra, dem Hedschas und dem Jemen ergriffen verschiedene fatimidische Aliden die Macht und vertrieben die abbasidischen Gouverneure aus ihren Positionen. Der Aufstand konnte erst zwei Jahre später endgültig niedergeschlagen werden.[11]
Bekannte alidische Dynastien in der islamischen Geschichte
- die Idrisiden in Marokko, von denen auch die Hammudiden, Meriniden und Wattasiden abstammten, so dass heute in Marokko die meisten Schurafa leben.
- die Fatimiden in Tunesien und Ägypten, deren Abstammung allerdings umstritten ist
- verschiedene zaiditische Imam-Dynastien in Nordiran und im Jemen,
- die Safawiden in Persien (Iran), wo heute fast 2,7 Millionen Sayyids leben,
- die Scherifen von Mekka, deren Nachkommen, die Haschimiten noch heute in Jordanien regieren,
- die Alawiden, die heutige Königsdynastie in Marokko, betrachten sich als hasanidische Aliden. Sie werden auch als Filaliten (nach der Oase Tafilalt) bezeichnet.
Literatur
Quellen
- Eine der wichtigsten arabischen Quellen zu den alidischen Aufständen der Umayyaden- und Abbasidenzeit ist das Buch Maqātil aṭ-Ṭālibīyīn von Abū l-Faradsch al-Isfahānī, das eigentlich von den Talibiden handelt, sich aber besonders intensiv mit den Aliden beschäftigt.
Studien
- Teresa Bernheimer: The 'Alids: The First family of Islam, 750-1200. Edinburgh University Press, Edinburgh, 2013.
- Chiara Formichi, R. Michael Feener: Shi‘ism in Southeast Asia. ‘Alid Piety and Sectarian Constructions. London 2015.
- Francesco Gabrieli: Al-Maʾmūn e gli ʿAlidi. Leipzig 1929, OCLC 6211795.
Einzelnachweise
- ↑ Vgl. dazu Saleh Said Agha: The Revolution which toppled the Umayyads. Neither Arab nor Abbasid. Leiden 2005.
- ↑ Vgl. K.V. Zetterstéen: Art. "ʿAbdallāh ibn al-Ḥasan" in 'Encyclopaedia of Islam'. Second Edition. Bd. I, S. 45b.
- ↑ Vgl. die Artikel zu "Muḥammad ibn ʿAbd Allāh an-Nafs az-Zakiyya" und "Ibrāhīm ibn ʿAbd Allāh" in der Encyclopaedia of Islam. Second Edition. Bd. VIII, S. 388–389 und Bd. III, S. 983–985.
- ↑ Zu ʿĪsā ibn Zaid und seinen Anhängern vgl. Abū l-Faraǧ al-Isfahānī: Maqātil aṭ-Ṭālibiyyīn. Ed. as-Sayyid Ahmad Saqar. Beirut 1987, S. 342–361.
- ↑ Der Brief wird bei at-Tabarī Annales III 209 zitiert: http://menadoc.bibliothek.uni-halle.de/ssg/content/pageview/466687 (hier Zeile 15-17). Italienische Übersetzung bei Gabrieli 7.
- ↑ Vgl. Laura Veccia Vaglieri: Art. Art. "Ḥusain ibn ʿAlī, Ṣāḥib Fakhkh" in The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Bd. III, S. 615b-617b.
- ↑ Vgl. W. Madelung: Art. "Yaḥyā b. ʿAbdallāh" in Encyclopaedia of Islam. Second Edition. Bd. XI, S. 242–243.
- ↑ Vgl. Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert der Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. 6 Bde. Berlin: De Gruyter 1991-97. Bd. II, S. 472.
- ↑ Vgl. Madelung in EI² Bd. XI, S. 242b.
- ↑ Vgl. Madelung in EI² Bd. XI, S. 243.
- ↑ Vgl. Gabrieli 10-23 sowie H.A.R. Gibb: Art. "Abū s-Sarāyā" in Encyclopaedia of Islam. Second Edition. Bd. I., S. 149b-150a.