Andreas Rödder
Andreas Rödder (* 11. Juli 1967 in Wissen/Sieg) ist ein deutscher Historiker. Er ist seit 2005 Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Leben
Andreas Rödder studierte von 1986 bis 1991 Geschichte und Germanistik an den Universitäten Bonn, Tübingen sowie Stuttgart und legte 1991 das Erste Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien in Tübingen ab. Von 1992 bis 1994 war Rödder Promotionsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung und 1992/1993 bei der Edition „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ am Institut für Zeitgeschichte in München und dem Auswärtigen Amt in Bonn tätig. Nach dem Abschluss seiner Dissertation bei Klaus Hildebrand in Bonn wechselte er 1994 an die Universität Stuttgart, wo er Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Eberhard Jäckel wurde. 2001 habilitierte er sich dort mit einer Studie über „Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne 1846–1868“, für die er 1998/1999 Forschungsstipendien der Fritz Thyssen Stiftung für Archivstudien in England erhalten hatte.
Von 2001 bis 2005 war Rödder Hochschuldozent am Historischen Institut der Universität Stuttgart, 2001/02 Stipendiat am Historischen Kolleg München und 2004 Visiting Professor an der Brandeis University in Waltham, Massachusetts (USA). Im April 2005 wurde Rödder zum ordentlichen Professor für Neueste Geschichte an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz berufen. Im akademischen Jahr 2012/2013 nahm er die Gerda-Henkel-Gastprofessur an der London School of Economics and Political Science und am Deutschen Historischen Institut London wahr. Im Kollegjahr 2017/2018 war Rödder Honorary Fellow am Historischen Kolleg in München, im akademischen Jahr 2020/21 sowie 2021/22 Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der School of Advanced International Studies an der Johns Hopkins University in Washington[1].
Rödder gehört unter anderem dem Herausgeberbeirat der European Council Studies sowie den Wissenschaftlichen Beiräten der Historischen Zeitschrift und des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn/ Leipzig/ Berlin an. Er ist seit 2008 Präsident der Stresemann-Gesellschaft. Im Jahr 2019 wurde Rödder von der Bundesregierung in die Fachkommission zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit berufen.[2]
An der Bischöflichen Kirchenmusikschule Essen absolvierte Rödder die C-Kirchenmusikerprüfung. Er ist seit 1987 als Kirchenorganist und war von 2000 bis 2006 als Jazzpianist bei der Jazzband „Tambosi“ engagiert.
Rödder forscht und publiziert zu diversen Themen der neueren Geschichte und Zeitgeschichte, darunter das Viktorianische Zeitalter, die Geschichte des europäischen Konservatismus, den Wertewandel in Moderne und Postmoderne, die Weimarer Republik und die internationale Politik der Zwischenkriegszeit, die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sowie die Zeitgeschichte nach 1990.
Wirken
Politische Positionen und gesellschaftspolitisches Engagement
Rödder ist Mitglied der CDU. Während des Landtagswahlkampfs 2011 und des Landtagswahlkampfs 2016 in Rheinland-Pfalz war Rödder im Schattenkabinett von Julia Klöckner für den Bereich Bildung, Wissenschaft und Kultur verantwortlich. Nach der Wahl des CDU-Bundesvorsitzenden Friedrich Merz wurde Rödder im Frühjahr 2022 zum Leiter der Fachkommission „Wertefundament und Grundlagen der CDU“ berufen. Als Leiter der CDU-Grundwertekommission arbeitet er an dem neuen Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands mit.[3]
In einem Tagesspiegel-Interview vom 20. Juni 2016, in dem er zu aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland Stellung nahm, definierte Rödder konservativ als Bezeichnung für eine Haltung, die auf behutsame Verbesserung anstelle radikaler Umgestaltung setze. Konservatives Denken sei eher durch Aristoteles als durch Platon geprägt, „durch praktische Vernunft anstatt abstrakte Modelle, durch Besonnenheit statt Unbedingtheit“. Züge solcher Unbedingtheit zeigten sich auch bei einem alternativlos propagierten „humanitären Imperativ“ in der Flüchtlingspolitik. Die Erfolge der AfD führt Rödder unter anderem auf die „Kultur der Postmoderne“ zurück, die er auf Diversität, Antidiskriminierung und Gleichstellung gerichtet sieht. Hierbei hätten sich „Züge einer repressiven Toleranz“ entwickelt, die den psychologischen Mechanismus der Reaktanz ausgelöst haben könnten: „Es gibt eine politisch-intellektuelle Tiefenströmung, die als Gegenbewegung auf die ideologische Überhöhung der politischen Kultur der Inklusion zurückgeht.“ In der AfD erkennt Rödder antiliberale, antiparlamentarische und antipluralistische Strömungen. Teile der Partei überschritten die Grenze zum völkischen Denken: „All das hat mit einem modernen Konservatismus nichts zu tun.“ Dieser ließe sich aber nicht auf Endgültiges festlegen: „Es gibt keine ewigen Werte, und der Konservative verteidigt heute, was er gestern noch bekämpft hat. Das ist die Paradoxie des Konservativen – und sie hat zugleich eine menschenfreundliche Komponente, denn sie schützt vor doktrinärer Rigidität und moralischer Selbstüberhebung.“[4]
Der Fridays-for-Future-Bewegung und dem YouTuber Rezo attestierte er auf einer Podiumsdiskussion beim Evangelischen Kirchentag 2019 einen „moralischen Absolutheitsanspruch“, der wenig Raum zur Auseinandersetzung lasse, und warf ihnen „Panikmache“ vor.[5]
Anfang 2021 beteiligte er sich an der Gründung des Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, das für freie und kontroverse Sachdebatten und gegen Cancel Culture und Political Correctness eintritt.[6]
Zudem leitet Rödder die „Denkfabrik Republik 21. Neue bürgerliche Politik“, die im November 2021 an die Öffentlichkeit ging.[7][8]
Zum Russischen Überfall auf die Ukraine 2022 sagte Rödder, Putins Vorgehen stamme „aus dem Lehrbuch des militaristischen Expansionismus, und zwar mit aller Skrupellosigkeit.“ Ein Genozidvorwurf mache die Opfer zu Tätern. Das sei besonders perfide.[9]
Rödder lehnt eine paritätische Frauenquote in der CDU Deutschlands ab. Zur Diskussion im Vorfeld des Bundesparteitages im September 2022 sagte er: „Die Parität ist ein Geschäftsmodell für Frauen, die schon in der CDU sind, aber kein Instrument, um neue Frauen zu gewinnen.“ Er positioniert sich damit öffentlich gegen Quoten-Vorschläge der Frauen-Union.[10]
„Deutschland einig Vaterland“ (2009)
Unter dem Titel „Deutschland einig Vaterland“ veröffentlichte Rödder 2009 eine Geschichte der deutschen Wiedervereinigung, die er im Vorwort als Epochenwende bezeichnet, und zwar „quer zu den großen Tendenzen der Zeit: gerade als Europa sich angesichts der mikroelektronischen Revolution und der wirtschaftlichen Internationalisierung, der Integration seiner Staaten und des postmodernen Wertewandels von der Idee des Nationalstaats klassischer Prägung entfernte, wurde er in Deutschland wieder hergestellt – und dies auf eben jene Weise, die im Westen in längst vergangener Zeit einmal erhofft und inzwischen als unrealistisch abgetan worden war. Die deutsche Einheit war voller Merkwürdigkeiten.“[11]
Axel Schildt schrieb dazu in der Zeit, die große Stärke des Buches liege in der Darstellung des Weges zur deutschen Einheit, „die auf der Basis intensiver Recherchen verfasst wurde“. Rödder kombiniere geschickt die Darstellung der internationalen Rahmenbedingungen, des turbulenten Geschehens in der DDR und der Handlungshorizonte in der Bundesrepublik.[12] Auch Claudia Schwartz lobte in der NZZ die Einbeziehung der außenpolitischen Dimension der Vereinigung und das „diplomatische Tauziehen“, das Rödder mit einem „Blick fürs Wesentliche“ rekapituliere. So trage Rödders Buch „seinen Teil dazu bei, zählebigen Legenden entgegenzuwirken“.[13]
Konrad Hugo Jarausch sieht die Darstellung Rödders zu Mauerfall und deutscher Wiedervereinigung als markanten Beitrag im Kontext einer „kanonisierenden Geschichtsinszenierung“ des 20-jährigen Jubiläums. Dessen Vereinigungsperspektive relativiere zwar die These von der friedlichen Revolution etwas, bringe aber eine Reihe eigener Probleme mit sich. „Indem sie sich auf die internationalen, west- und ostdeutschen Politiker konzentriert, verliert sie manchmal die ostdeutschen und osteuropäischen Bürger aus den Augen, deren Aufbegehren den Anstoß zum Sturz des Kommunismus gab.“ Jarausch bemängelt eine fehlende Auseinandersetzung mit lokalen Dokumenten aus der DDR und mit konkurrierenden Interpretationen angloamerikanischer Forschung.[14]
Franziska Augstein lobt Rödders „prägnante“ Analyse der außenpolitischen Dimension der Wiedervereinigung, kritisiert aber seine Bewertung der Wendepolitik als zu einseitig. Seine uneingeschränkte Zustimmung zu Kohls Wiedervereinigungspolitik sei „irritierend“. Ferner stört sich Augstein an Rödders Forderung nach weniger staatlicher Lenkung, die die Rezensentin als „neoliberal“ auffasst.[15]
„21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015)
Öffentliche Resonanz fand auch Rödders 2015 erschienenes Buch „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“. Hans-Peter Schwarz schrieb dazu in der FAZ: „Ein erstaunliches Buch, ein erstaunlicher Autor! […] Seit Ralf Dahrendorf und Erwin Scheuch ist in der Bundesrepublik niemand mehr aufgetreten, der die gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und moralischen Probleme unserer Gegenwart mit so viel Sinn für Empirie, Theorie und geschichtlichem Differenzierungsvermögen zu erörtern versteht.“[16] Frank Bösch bescheinigt Rödder, ein mutiges Buch verfasst zu haben. Es zeige, wie man aus der Beschäftigung mit Geschichte Urteilskraft in der Gegenwart gewinnen könne. Dabei sei es nicht nur für die anvisierte breite Leserschaft interessant, sondern hinsichtlich der Konzeption wie auch in den eher essayistischen Teilen ebenfalls für Fachhistoriker, indem sich Rödder mit zeithistorischen Rückblicken zu gegenwärtigen Veränderungen einerseits positioniere, aber zudem unterschiedliche Deutungen anführe. „Er umgeht vertraute Narrative und Zäsuren und erkundet Themen, die viele Menschen mit Besorgnis verfolgen. Zudem entgeht er der Gefahr, aus der Gegenwart Teleologien zu entwerfen. Rödder betont die nicht-intendierten Folgen von Veränderungen und damit auch die jeweils offene Zukunft.“[17]
Ehrungen und Auszeichnungen
- 2020: Jürgen-Moll-Preis für verständliche Wissenschaft (mit 5.000 Euro dotiert)[18]
Schriften
Monographien
- Stresemanns Erbe. Julius Curtius und die deutsche Außenpolitik 1929–1931. Schöningh, Paderborn 1996 (zugleich Dissertation, Universität Bonn, 1994).
- Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne 1846–1868. Oldenbourg, München 2002 (zugleich Habilitationsschrift, Universität Stuttgart, 2000).
- Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte. Bd. 19a). Oldenbourg, München 2003.
- Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. Beck, München 2009.
- Geschichte der deutschen Wiedervereinigung (= C. H. Beck Wissen). Beck, München 2011.
- Was ist heute konservativ? Eine Standortbestimmung. Gollenstein, Merzig 2012.
- 21.0 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Beck, München 2015.
- Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-3-10-397238-2.
- Konservativ 21.0: Eine Agenda für Deutschland. Beck, München 2019, ISBN 978-3-406-73725-1.
Herausgegeberschaften
- Weimar und die deutsche Verfassung. Zur Geschichte und Aktualität von 1919. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Nationalstiftung. Mit Beiträgen von Helmut Schmidt, Karl Dietrich Bracher, Carl-Ludwig Holtfrerich, Horst Möller, Fritz Stern und Michael Stolleis. Klett-Cotta, Stuttgart 1999.
- mit Thomas Hertfelder: Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion? Mit Beiträgen von Dieter Langewiesche, Peter Pulzer, Gerhard A. Ritter, Manfred G. Schmidt, Mark Spoerer, Andreas Wirsching u. a. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007.
- mit Wolfgang Elz: Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels. Mit Beiträgen von Christoph Böhr, Bernhard Bueb, Ute Frevert, Hans Joas, Klaus Naumann, Gerhard A. Ritter, Andreas Wirsching u. a. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008.
- mit Thomas Raithel und Andreas Wirsching: Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren. Oldenbourg, München 2009.
- mit Wolfgang Elz: Deutschland in der Welt. Weichenstellungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010.
- mit Bernhard Dietz und Christopher Neumaier: Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren. Oldenbourg, München 2014.
- mit Daniel S. Hamilton und Gregor Kirchhof: Paradigm Lost? The European Union and the Challenges of a New World. Brookings. Washington D.C. 2021; dt.: Zeitenwende? Zur Selbstbehauptung der Europäischen Union in einer neuen Welt. Mohr Siebeck. Tübingen 2022.
Film
Weblinks
- Literatur von und über Andreas Rödder im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Andreas Rödder auf der Website der Universität Mainz
- Martin Reeh: „Panik ist nicht vernünftig“. In: taz.de. 16. Juli 2019 (Andreas Rödder im Interview).
Einzelnachweise
- ↑ Andreas Rödder | Johns Hopkins SAIS. Abgerufen am 25. April 2021.
- ↑ Website der Fachkommission Integrationsfähigkeit.
- ↑ Informationen zur Erarbeitung der Grundwertecharta der CDU. In: cdu.de. 30. Mai 2022, abgerufen am 27. August 2022.
- ↑ Der Tagesspiegel, 20. Juni 2016, S. 4.
- ↑ Michael Güthlein: Ist das noch konservativ oder kann das weg?, evangelisch.de vom 22. Juni 2019, abgerufen am 11. August 2019.
- ↑ Meinungsklima: Wissenschaftler gründen „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“. forschung-und-lehre.de, 4. Februar 2021.
- ↑ Denkfabrik, auf denkfabrik-r21.de, abgerufen am 20. Januar 2021
- ↑ Nach 16 Jahren Merkel: Ex-Ministerin Kristina Schröder will mit Denkfabrik neue Konzepte bürgerlicher Politik entwickeln, Münchner Merkur vom 11. November 2021
- ↑ Historiker Andreas Rödder: „Das ist eine tiefere Zäsur als der 11. September 2001“, RND, 28. Februar 2022
- ↑ CDU droht auf Parteitag neuer Ärger mit der Frauenquote. In: Der Spiegel 35/2022. 26. August 2022, abgerufen am 27. August 2022.
- ↑ Rödder 2009, S. 12.
- ↑ Axel Schildt, in: Die Zeit vom 19. März 2009.
- ↑ Claudia Schwartz: Wider die Verklärung. In: Neue Zürcher Zeitung vom 4. Juli 2009.
- ↑ Konrad H. Jarausch: Rezension zu Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. In: H-Soz-Kult vom 28. September 2010.
- ↑ Andreas Rödder: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. In: perlentaucher.de. 19. März 2009, abgerufen am 10. Januar 2017.
- ↑ Hans-Peter Schwarz: Acht spannende Bücher in einem. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. September 2015. Abgerufen am 4. September 2016.
- ↑ Frank Bösch: Rezension zu Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart.. In: H-Soz-Kult vom 10. Januar 2016.
- ↑ Andreas Rödder erhält Jürgen-Moll-Preis für verständliche Wissenschaft. 23. Juli 2020, abgerufen am 24. Juli 2020.
Personendaten | |
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NAME | Rödder, Andreas |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Historiker |
GEBURTSDATUM | 11. Juli 1967 |
GEBURTSORT | Wissen |