Anita Lasker-Wallfisch

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Anita Lasker-Wallfisch, 2007

Anita Lasker-Wallfisch, MBE (* 17. Juli 1925 in Breslau) ist eine deutsch-britische Cellistin und die letzte bekannte Überlebende des Mädchenorchesters von Auschwitz.

Leben

Anita Lasker ist die jüngste von drei Töchtern des deutschen Rechtsanwalts Alfons Lasker und dessen Ehefrau Edith (geb. Hamburger), einer Violinistin.

Die Familie war deutsch-jüdischer Herkunft, assimiliert, bildungsbürgerlich und nicht religiös, laut Lasker-Wallfisch sei sie als Kind „unjüdisch aufgewachsen“.[1] Ein Onkel Anita Laskers war der US-amerikanische Schach-Meister Edward Lasker. Anita hatte seit 1938 Cello-Unterricht bei Leo Rostal in Berlin, einem älteren Bruder von Max Rostal.[2]

Ende 1939 gelang es den Eltern, die älteste Schwester Marianne als Begleiterin eines Kindertransports nach England in Sicherheit zu bringen. Die beiden jüngeren Schwestern Renate und Anita mussten in Breslau bleiben. 1942 wurden die Eltern nach Izbica deportiert und ermordet. Die Töchter kamen in ein Waisenhaus und mussten Zwangsarbeit in einer Papierfabrik leisten. Die zwei jungen Mädchen versuchten, mit Hilfe eigenhändig gefälschter Pässe sowie der Unterstützung durch Werner Krumme und dessen mit ihnen verwandter Ehefrau Ruth nach Frankreich zu entkommen, wurden aber schon am Bahnhof verhaftet und am 5. Juni 1943 wegen Urkundenfälschung (auch zugunsten französischer Kriegsgefangener, wofür sie nach dem Krieg mit der Médaille de la Reconnaissance française ausgezeichnet wurden) zu Zuchthausstrafen verurteilt.

Anita Lasker-Wallfisch auf einer Lesung im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen am Rhein (2018)

Anita wurde im Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert. Als verurteilte Kriminelle war sie ein Karteihäftling, wurde mit einem Gefangenentransport in das Lager gebracht und entging so der bei Sammeltransporten mit Juden üblichen Massenselektion, bei der die meisten sofort in die Gaskammern geschickt und dort ermordet wurden. Sie bekam die Häftlingsnummer 69388. Unmittelbar nach ihrer Ankunft wurde im Lager bekannt, dass sie Cello spielen konnte. Man gab ihr ein mit nur drei Saiten bestücktes Instrument und ließ sie in dem bislang nur aus Violinisten und Mandolinenspielern bestehenden Häftlingsorchester unter der Leitung von Alma Rosé mitspielen. Nach ihrer Befreiung gab sie zu Protokoll:

„Als 1944 Tausende von ungarischen Juden in das Lager gebracht wurden und aufgereiht standen, um in die Gaskammern geführt zu werden, mussten wir auch diesen Unglücklichen etwas vorspielen.“

Wiener Library[3]

Später wurde auch Anitas ältere Schwester Renate nach Auschwitz deportiert. Die Schwestern fanden einander und überlebten trotz einer Typhus-Infektion die Haft. Im November 1944 wurden sie ins Konzentrationslager Bergen-Belsen transportiert, wo die Zustände wesentlich schlechter waren. Das Lager war drastisch überbelegt, es kam zu zahlreichen Todesfällen wegen Unterernährung. Anita Lasker sah auch Fälle von Kannibalismus. In dem Lager war sie in einer Gruppe von elf Musikerinnen des ehemaligen Auschwitz-Orchesters.

Am 15. April 1945 befreiten britische Truppen das Lager.[4] Sie war Zeugin im Bergen-Belsen-Prozess, der Mitte November 1945 endete.[5]

Anita Lasker-Wallfisch in Ludwigshafen am Rhein (2018)

Ihr gelang es, zunächst nach Belgien und 1946 nach Großbritannien auszuwandern. Sie wurde Mitbegründerin des Londoner English Chamber Orchestra und spielte dort bis um die Jahrtausendwende als Cellistin. Lasker heiratete den Pianisten Peter Wallfisch (1924–1993), der ebenfalls aus Breslau stammte und als Professor am Royal College of Music in London lehrte. Seitdem trägt sie den Familiennamen Lasker-Wallfisch. Aus der Ehe gingen der Sohn Raphael Wallfisch (* 1953), ein bekannter Cellist, und die Tochter Maya Lasker-Wallfisch (geb. 1958) hervor. Auch ihre Enkel Benjamin, Joanna und Simon Wallfisch sind Musiker.

1994 besuchte Anita Lasker-Wallfisch zum ersten Mal seit ihrer Emigration wieder Deutschland. In den folgenden Jahren unternahm sie viele Vortragsreisen, besuchte immer wieder Deutschland, wo sie insbesondere an Schulen von ihrem Schicksal und dem anderer Opfer des Nationalsozialismus und des Holocaust berichtete.[6] Immer wieder erzählte sie ihre Lebensgeschichte in Oral History-Interviews, so 2006 für das Online-Archiv Zwangsarbeit 1939–1945. Auf diesem Interview basiert der Kurzfilm Anita Lasker-Wallfisch. Musikerin – Jüdin – Überlebende in der Online-Anwendung Lernen mit Interview: Zwangsarbeit 1939–1945.[7]

In dem im Jahre 2014 ausgestrahlten Dokumentationsfilm Night will fall – Hitchcocks Lehrfilm für die Deutschen berichtete sie über ihre Erlebnisse im KZ Bergen-Belsen. Sie war eine der Überlebenden von Bergen-Belsen, die beim Staatsbesuch Königin Elisabeths II. im Juni 2015 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers eingeladen waren. Ihr mit Löchern übersäter roter Pullover, den Lasker-Wallfisch im KZ gegen viel Brot eingetauscht hatte und bis zur Befreiung des Lagers immer so trug, dass die Aufseher ihn nicht sehen konnten – es war verboten, wärmende Angora-Wolle zu tragen –, ist in der Ausstellung des Londoner Imperial War Museum zu sehen.[8]

Heute lebt Anita Lasker-Wallfisch in London.

Im Januar 2018 hielt Anita Lasker-Wallfisch eine Rede im deutschen Bundestag zum Thema Antisemitismus[9][10] und im September 2019 wurde sie von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier „für ihren Einsatz gegen Judenhass und Ausgrenzung“ mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet.[11]

2020 hielt Anita Lasker-Wallfisch bei den Salzburger Festspielen eine emotionale Rede über das Jahrhundert und erzählte, wie ihr Musik durch den Krieg und später zurück ins Leben half.[12] Im gleichen Jahr wurde sie von Bundespräsident Steinmeier mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.[13]

Ehrungen

Werke

  • Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. Erinnerungen. Rowohlt, Reinbek 2000, ISBN 3-499-22670-7 (zuerst Bonn, Weidle Verlag 1997, ISBN 3-931135-26-8).
  • Man hofft, solange man atmet. In: Martin Doerry (Hrsg.): Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. DVA, München 2006, ISBN 3-421-04207-1 (auch als CD), S. 160–171.
  • Vorwort zu: Richard Newman, Karen Kirtley: Alma Rosé. Wien 1906 – Auschwitz 1944. Eine Biographie. Weidle Verlag, Bonn 2003, ISBN 978-3-931135-66-9.

Literatur

Lieder über sie

  • Die Band Janus widmete ihr ein Lied mit dem Namen Anita spielt Cello, das sie auf dem Album Nachtmahr im Jahr 2005 veröffentlichte. Hier wird ihre Geschichte so dargestellt, dass sie für den Teufel (die Wachen des KZ) spielen muss. Sie wendet sich beschämt an Gott und betet ums Überleben.
  • Hanne Kah schrieb inspiriert von Lasker-Wallfischs Rede im Bundestag im Januar 2018 den Song 100 People. Der Song ist auf dem am 10. Mai 2019 bei kosmopolit records erschienenen Album "Y".[16]

Porträt

  • Anlässlich des National Holocaust Memorial Day 2022 gab Prinz Charles den Auftrag, sieben Holocaust-Überlebende malen zu lassen, um ihr Leben und ihren Einsatz als Zeitzeugen zu würdigen. Eine der sieben Porträtierten ist Anita Lasker-Wallfisch. Ihr Bildnis wurde von Peter Kuhfeld geschaffen.[17]

Film

Tonträger

Weblinks

Commons: Anita Lasker-Wallfisch – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. „Der Holocaust war nie ein Thema“ – Die Musikerfamilie Wallfisch: Drei Generationen sprechen über ihre Vergangenheit. In: Süddeutsche Zeitung Magazin 51/2015, S. 54–61.
  2. Susanna Keval: Gedenken an den 9. November 1938: Neue Formen der Erinnerung, Artikel in der Jüdischen Gemeindezeitung Frankfurt. Dezember 2019, 52. Jahrgang, Nr. 4 (S. 9)
  3. Dörte Hinrichs, Hans Rubinich: Schwerpunktthema: Ernst Klee. In: deutschlandfunk.de. 15. August 2013, abgerufen am 27. Januar 2019.
  4. „Auschwitz erlaubt keine Rührung“. Interview. In: Die Zeit. Nr. 19, 6. Mai 2014 (online [abgerufen am 10. Mai 2014]).
  5. United Nations War Crimes Commission (Hrsg.): Law reports of trials of war criminals, selected and prepared by the United Nations War Crimes Commission. – Volume II, The Belsen Trial. London 1947, S. 21 f.
  6. Zum Beispiel 2009 schuelerradio.at (langes Interview), Europaschule Köln (Memento vom 7. November 2012 im Internet Archive), http://www.bbgbonn.de/content/view/425/2/ (Link nicht abrufbar), 2006 Leipzig (Memento vom 10. Dezember 2012 im Internet Archive)
  7. Online-Anwendung Lernen mit Interview: Zwangsarbeit 1939–1945
  8. Der rote Pullover von Anita Lasker-Wallfisch, Ausstellungsstück des Imperial War Museum
  9. Richard Herzinger: „Judenhass ist ein 2000 Jahre alter Virus“. In: https://www.welt.de/. https://www.welt.de/, 31. Januar 2018, abgerufen am 31. Januar 2018.
  10. Deutscher Bundestag Textarchiv
  11. Nationalpreis-Verleihung – Steinmeier: „Mit Antisemitismus niemals abfinden“, deutschlandfunk.de, erschienen und abgerufen am 3. September 2019.
  12. Reden über das Jahrhundert: „Der Musik verdanke ich, dass ich hier bin“
  13. Verdienstorden: Steinmeier ehrt Holocaust-Überlebende . tagesschau.de, abgerufen am 18. Dezember 2020.
  14. Holocaust-Überlebende Lasker-Wallfisch erhält Verdienstorden. Süddeutsche Zeitung, 31. Mai 2018, abgerufen am 25. August 2020.
  15. https://www.uibk.ac.at/events/2019/10/17/die-gegenwart-und-zukunft-der-erinnerung abgerufen am 18. Oktober 2019.
  16. Kuriere präsentierten heisses Musik Event Hanne Kah und Band
  17. What’s on. Abgerufen am 2. Februar 2022.
  18. Großmutter überlebte den Holocaust. FAZ, 23. August 2010, S. 27.