Archaismus (Psychologie)

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Unter Archaismus (latinisiert vom altgriechischen ἀρχαῖος archaĩos „alt, ehemalig“) in der Psychologie, Soziologie und Ethnologie versteht der Schweizer Psychiater C. G. Jung eine Betrachtung psychischer Inhalte und Funktionen unter besonderer Würdigung ihres langfristigen entwicklungsgeschichtlichen Charakters. Diese Sichtweise achtet besonders auf die Rolle von Relikten aus früheren Stadien der phylogenetischen oder ontogenetischen Entwicklungsschritte.

Viele zunächst schwer verständliche psychische Phänomene stellen keineswegs einen Verlust oder Ausfall der Funktion dar, sondern lassen sich auf Hintergründe der jeweils kulturellen und historisch-menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsstufen bzw. auf äußere Besonderheiten der lebensgeschichtlichen Entwicklung zurückführen.[1] Die Parallelen zwischen Stammesgeschichte und individueller Lebensgeschichte eines Menschen ergeben sich aus dem psychogenetischen Grundgesetz.[2] Diese Voraussetzung besagt, dass nebeneinander neuere und ältere Entwicklungsstadien psychischer Fähigkeiten bestehen können ggf. abhängig von unterschiedlichen Befindlichkeiten eines Menschen. Sie werden auch als reifere (rezente) oder unreifere (ältere) Stadien bezeichnet.[3][2][4]

Beispiele nach Jung

Archaische Relikte werden von Jung beispielsweise in der primitiven Mentalität gesehen. Hierzu verweist er auf die participation mystique. Sie ist eine Identitätsbeziehung von Subjekt und Objekt und ist in ähnlicher Form auch als normales menschliches Entwicklungsstadium in der europäischen Zivilisation zu beobachten, vgl. den von Freud so bezeichneten primären Narzissmus einschließlich der primärprozesshaften Denkweise.[1] Eine archaische Sichtweise stellt auch die Auffassung dar, dass sich weite Teile des Unbewussten ebenso wie unterschiedliche Elemente innerhalb des Strukturmodells aus Anteilen herleiten, die entwicklungsgeschichtlich unterschiedlich alte Erwerbungen spezifischer Funktionen darstellen.[1] Insofern als der Traum den „Königsweg zum Unbewussten“ darstellt, bestehen auch manifeste Trauminhalte (von Jung lediglich als „Traummaterial“ bezeichnet) vielfach aus einer archaischen und prälogischen Sprache, die vom Traumdeuter in eine rational nachvollziehbare und alltagsgeläufige Sprache übersetzt werden muss.[5]a Ein Archaismus ist auch der Konkretismus. Dieser kann als unreife Vorstufe des erst im Laufe der Entwicklung erreichten Symbolverständnisses angesehen werden.[1]

In Anlehnung an Jacob Burckhardt sprach Jung von urtümlichen inneren Bildern, deren Charakter er auch als archaisch bezeichnete. Sie sind nach Jung Ausdruck der Kollektivpsyche und werden in den Mythen und Märchen offenbar. Er nannte sie Archetypen.[1][6]

Rezeption

Auch die Psychoanalyse hat die Vorstellung des Archaismus verwendet, so z. B. in der Kinderpsychologie.[7] Ebenso hat die klassische deutsche Psychiatrie sich mit diesem Konzept auseinandergesetzt, insbesondere mit der Frage der Ähnlichkeit oder möglichen Identität von archaischen Seelenzuständen mit psychischen Erkrankungen. Diese Identität zumindest wurde abgelehnt.[8][9] Allerdings hat Jolande Jacobi (1890–1973) Übergänge von archaisch-primitiven Bewusstseinsinhalten in die Psychose für möglich gehalten, wenn z. B. geeignete kollektive Projektionen etwa im Zuge der Aufklärung über den Realitätscharakter von Göttern und Dämonen entfielen.[5]b Dies könnte u. U. das Auftreten des Hexenwahns und der unheilvollen politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts begünstigt haben, vgl. a → Dialektik der Aufklärung.[10][11][12][13]

Kritik

Der Begriff „archaisch“ enthält keine Wertung, da er ebenso wie die Bezeichnung der primitiven Mentalität oder Kultur eine historisch weit zurückliegende Tatsache beschreibt und keine Aussage zur Gegenwart enthält. Andere Kulturen haben nur teilweise die gleichen uranfänglichen Voraussetzungen.[14] Die Ethnopsychiatrie setzt für alle Beurteilungen eine besondere Empathie voraus. Insbesondere der Vorwurf des Eurozentrismus ist daher zu überdenken. Auch die entwicklungspsychologisch bestätigten Parallelen der Kindheitsentwicklung sind hier zu berücksichtigen und dürfen auch nicht umgekehrt zu kulturellen Vorurteilen führen.[15][16]

Literatur

  • Rudolf Bergius: Entwicklung als Stufenfolge. In: H. Thomae (Hrsg.): Hdb. der Psychologie. Bd. 3. 2. Auflage, Göttingen, 1972, S. 104–195.

Weblinks

Wiktionary: Archaismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. a b c d e Carl Gustav Jung: Definitionen. In: Gesammelte Werke. Walter-Verlag, Düsseldorf 1995, Paperback, Sonderausgabe, Band 6, Psychologische Typen, ISBN 3-530-40081-5, (a) S. 442 f., § 684 zu Abs. „Archaismus“ (Definition); (b) S. 442 f., § 684 zu Stw. „Narzissmus“ (s. a. S. 504, § 812); (c) S. 444 f., § 688 zu Stw. „Das Unbewusste“ (s. a. 1. und 2. Topik Freuds); (d) (c) S. 479 f., § 767 zu Abs. „Konkretismus“; (e) S. 446 f., § 692 zu Stw. „Archetypus“.
  2. a b Wilhelm Karl Arnold et al. (Hrsg.): Lexikon der Psychologie. Bechtermünz, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-508-8; (a) Sp. 1729 zu Lex.-Lemma: „Psychogenetisches Grundgesetz“; (b) Sp. 1871 zu Lex.-Lemma: „Reife“.
  3. Jung, Carl Gustav: Analytische Psychologie und Erziehung. (1926/1969) u. a. Aufsätze In: Gesammelte Werke. Walter-Verlag, Düsseldorf 1995, Paperback, Sonderausgabe, Band 17, Über die Entwicklung der Persönlichkeit, ISBN 3-530-40094-7; S. 160 f., 163, 166 ff., 194 f., 219 - §§ 238, 244, 249 ff., 288, 331a zu Stw. „reif und unreif“.
  4. Uwe Henrik Peters: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. Urban & Schwarzenberg, München 31984; S. 478 zu Wb.-Lemma: „Reifung“.
  5. a b Jolande Jacobi: Die Psychologie von C.G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Mit einem Geleitwort von C.G. Jung. Fischer Taschenbuch, Frankfurt März 1987, ISBN 3-596-26365-4, (a) S. 75, 85 zu Stw. „Traumdeutung“; (b) S. 96 zu Stw. „Götter und Dämonen“; .
  6. Peter Sloterdijk: Weltfremdheit. Suhrkamp Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-518-11781-5; S. 19 ff. zu Stw. „Otto Rank“.
  7. Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst. In: Gesammelte Werke, Band XIV, „Werke aus den Jahren 1925–1931“, Fischer Taschenbuch, Frankfurt / M 1999, ISBN 3-596-50300-0; S. 201 zu Stw. „Herkunft der Kleinkinderangst“.
  8. Hans Walter Gruhle: Verstehende Psychologie. Erlebnislehre. Georg Thieme, Stuttgart 21956; S. 438 zu Stw. „archaisches Denken“.
  9. Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. 9. Auflage, Springer, Berlin 1973, ISBN 3-540-03340-8; S. 180, 618 ff.; 278 ff., 280 f., 618 ff. zu Stw. „archaische Seelenzustände“.
  10. Carl Gustav Jung: Tiefenpsychologie. (Lexikonartikel, Bern 1951) . In: Gesammelte Werke. Walter-Verlag, Düsseldorf 1995, Paperback, Sonderausgabe, Band 18/2, Das symbolische Leben. ISBN 3-530-40095-5; S. 519 f. § 1161 Zu Stw. „Hexenwahn und Utopien des 20. Jahrhunderts“.
  11. Carl Gustav Jung: Psychologie des Unbewußten. (1943/1966) Kap. 5. Persönliches und überpersönliches Unbewußtes. In: Gesammelte Werke. Walter-Verlag, Düsseldorf 1995, Paperback, Sonderausgabe, Band 7, Zwei Schriften über Analytische Psychologie. ISBN 3-530-40082-3, S. 78 ff. § 110 ff. zu Stw. „Projektion der Zauberer, Dämonen- und Götterbilder“.
  12. Carl Gustav Jung: Psychologie des Unbewußten. (1916/1943/1966) Kap. 7. Die Archetypen des kollektiven Unbewußten. In: Gesammelte Werke. Walter-Verlag, Düsseldorf 1995, Paperback, Sonderausgabe, Band 7, Zwei Schriften über Analytische Psychologie. ISBN 3-530-40082-3, S. 100 ff. § 150 ff. zu Stw. „Projektion der Zauberer, Dämonen- und Götterbilder“.
  13. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. S. Fischer, Frankfurt 1969, Nachdruck als Taschenbuch 1988, ISBN 978-3-596-27404-8. Buchbesprechung.
  14. Archaisch. In: M. A. Wirtz (Hrsg.): Dorsch – Lexikon der Psychologie. 18. Auflage, Hogrefe Verlag, Bern 2014, S. 191. online Am 16. September 2017 abgerufene, seit der Buchausgabe 2014 aktualisierte Version.
  15. Pierre Marty, De M’Uzan: La pensée operatoire. Revue Française Psychoanalytique 27 (1963) 354–356 (Suppl.) [Dt. in Psyche 32 (1978) 947–984].
  16. Jean Piaget: Die Entwicklung des Erkennens III: Das biologische Denken. Das psychologische Denken. Das soziologische Denken. In: Gesammelte Werke (Studienausgabe). Band 10. Klett-Cotta, 1975, ISBN 3-12-929200-4, S. 139 und 156.