Strukturmodell der Psyche

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Der psychische Apparat nach Freuds zweitem Modell

Das Strukturmodell der Psyche oder Drei-Instanzen-Modell ist ein von dem österreichischen Tiefenpsychologen Sigmund Freud beschriebenes Modell der Psyche des Menschen, bestehend aus drei Instanzen mit unterschiedlichen Funktionen: das „Es“, das „Ich“ und das „Über-Ich“.

Freud arbeitete dieses topische Modell erstmals 1923 in seiner Schrift Das Ich und das Es aus (siehe dort zur Entwicklung dieses Instanzenmodells). Das Modell wird auch als zweite Topik oder zweites topisches Modell bezeichnet.

Das Es

Es, Ich und Über-Ich

„Es“ bezeichnet jene unbewusste Struktur, deren Inhalt psychischer Ausdruck der Triebe (etwa Nahrungstrieb, Sexualtrieb, Todestrieb), Bedürfnisse (Geltungsbedürfnis, Angenommenseinsbedürfnis) und Affekte (Neid, Hass, Vertrauen, Liebe) ist.[1] Zentral sind dabei die Grundtriebe, der Vereinigungstrieb (auch „Libido“) und der Zerstörungstrieb (auch „Destrudo“). Sie nehmen zentrale Rollen im Ödipuskomplex ein.

„Es ist der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit; das wenige, was wir von ihm wissen, haben wir durch das Studium der Traumarbeit und der neurotischen Symptombildung erfahren und das meiste davon hat negativen Charakter, läßt sich nur als Gegensatz zum Ich beschreiben. Wir nähern uns dem Es mit Vergleichen, nennen es ein Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregungen.“

Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen.[f 1]

Das Es handelt nach dem Lustprinzip, das heißt, es strebt nach unmittelbarer Befriedigung seines Strebens. Die Triebregungen des Es prägen und strukturieren das menschliche Handeln unbewusst, das heißt, sie wirken, ohne dass dem Handelnden diese Wirkung immer explizit bewusst ist.

Entstehung des Es

Das Es (englisch fachsprachlich id) ist die psychisch zuerst entstandene, teilweise auch angeborene Instanz der Seele. Wenn ein Mensch geboren wird, scheint er psychisch nichts anderes zu sein als ein Triebbündel. Folgende angeborene Triebe (u. a.) lassen sich feststellen:

  • mit dem Mund etwas zu vereinnahmen, aufzunehmen, zu spüren, satt sein zu wollen (orale Phase),
  • ein angenehmes Hautgefühl haben zu wollen (nicht frieren, trockengelegt sein zu wollen, Bedürfnis nach großflächigem Hautkontakt, Berührung).

Die Art und Weise, wie die Bedürfnisbefriedigung immer wieder erlebt wird, das Maß und die Art der Lust- und Unlusterfahrungen, bildet nach der Freud'schen Triebtheorie die weiteren Bedürfnisse und Emotionen eines Menschen aus, seine „Triebstruktur“ bzw. seinen unbewussten Charakter. Vernachlässigung wie Überversorgung seitens der Umwelt prägen den Charakter des Kindes suboptimal. Je nachdem, wie die Mitwelt – etwa die Mutter – auf die Triebäußerungen des Kindes eingeht, entstehen aus Triebimpulsen Gefühle und Bedürfnisse.

Das Ich

Ich“ (englisch fachsprachlich ego) bezeichnet in Freuds Modell jene Instanz, die dem bewussten Denken des Alltags, dem Selbstbewusstsein entspricht. Das Ich vermittelt nach Rupert Lay „zwischen den Ansprüchen des Es, des Über-Ich und der sozialen Umwelt mit dem Ziel, psychische und soziale Konflikte konstruktiv aufzulösen“.[2] Der reife und psychisch gesunde Mensch setzt so an die Stelle des triebhaften Lustprinzips das Realitätsprinzip.

Zu den Elementen des Ichs zählt man in erster Linie die Bewusstseinsleistungen des Wahrnehmens, des Denkens und des Gedächtnisses. Zum Ich zählt man in weiterentwickelten psychoanalytischen Theorien auch das Ich-Gewissen (die vom Ich kritisch und selbstkritisch geprüften handlungsleitenden moralischen Prinzipien, Werte und moralischen Einzelnormen aus dem Über-Ich und aus den Ansprüchen der sozialen Umwelt) sowie die Vorstellungen über die eigene Person, das Selbstbild bzw. Selbst.

Entstehung des Ichs

Nach den ersten Lebensmonaten erfährt ein Neugeborenes immer deutlicher, dass es von Dingen und anderen Menschen unterschieden ist. Es entwickelt ein erstes Bewusstsein der eigenen Körpergrenzen und Selbstgefühle. Rupert Lay: „In den folgenden vier Lebensjahren lernt ein Kind (vorsprachlich und deshalb auch unbewusst) die Fragen zu beantworten: ‚Wer bin ich?‘ – ‚Was kann ich?‘ und somit sein Selbstbewusstsein auch inhaltlich zu füllen.“[3] Um das Es herum wird also eine Zone aufgebaut, die man als „frühes Ich“ bezeichnen kann. Dieses frühe Ich, das sich wie eine Hülle um das Es legt, wird somit von den frühen Körperrepräsentanten und den frühen Selbstrepräsentanten gebildet. Die frühen Körperrepräsentanten sind die kindlich grundgelegten Bewusstseins- und Gefühlsinhalte über Körperbereiche. Zu den frühen Selbstrepräsentanten zählen die kindlich grundgelegten Bewusstseins- und Gefühlsinhalte bezüglich der eigenen Person. Sie bestimmen den Sozialcharakter und all unsere später erworbenen Selbstvorstellungen (wer wir sind, was wir fürchten und erhoffen, was wir uns zutrauen) auf unterschiedliche Weise mit.

„Die Auffassung bedarf kaum einer Rechtfertigung, daß das Ich jener Teil des Es ist, der durch die Nähe und den Einfluß der Außenwelt modifiziert wurde, zur Reizaufnahme und zum Reizschutz eingerichtet, vergleichbar der Rindenschicht, mit der sich ein Klümpchen lebender Substanz umgibt.“

Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen.[f 2]

Zum frühen Ich zählte Freud auch den sozialisationsgebildeten Charakter eines Menschen: die bewusstseinsfähigen Emotionen und Bedürfnisse, die in Art und Intensität aus den Grundtrieben des Es durch den Sozialisationsprozess geformt worden sind. Dabei bezeichnete Freud die sozialisationsgeformten Emotionen und Bedürfnisse als „Triebabkömmlinge des Es im Ich“. Das Es mit seinen angeborenen Triebimpulsen wird hier mit einem Baumstamm verglichen, aus dem das frühe Ich als Krone herauswächst. Deswegen nennt Freud diesen Teil des Ichs ein Produkt des Es: Er ist aus dem Material des Es (aus Grundtrieben) entwickelt worden.

Das Über-Ich

„Über-Ich“ bezeichnet nach dem Psychoanalytiker Freud jene psychische Struktur, in der soziale Normen, Werte, Gehorsam, Moral und somit als Gebots- und Verbotsinstanz das Gewissen angesiedelt seien. Sie seien vor allem durch Erziehung erworben und spiegeln die von außen an das Kind herangetragenen, verinnerlichten Werte der Gesellschaft, insbesondere der Eltern wider. Erst durch die Herausbildung des Über-Ichs erwerbe der Mensch die Fähigkeit, sich sozialgerecht zu verhalten und seine ursprünglichen Triebregungen eigenständig zu kontrollieren.[4]

„Das Über-Ich ist für uns die Vertretung aller moralischen Beschränkungen, der Anwalt des Strebens nach Vervollkommnung, kurz das, was uns von dem sogenannt Höheren im Menschenleben psychologisch greifbar geworden ist.“

Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen.[f 3]

Das Über-Ich (englisch fachsprachlich super-ego) ist auch Träger des sogenannten „Ichideals“, welches das Ich zu seinem Streben anreizt und mit dem es sich vergleicht. Eine Fehlfunktion führt beispielsweise so auch zu Minderwertigkeitsgefühlen.[f 4] Schuldgefühle tauchen auf, wenn die Gebote und Verbote des Über-Ichs nicht befolgt würden.[5]

Große Teile des Über-Ichs sind Freud zufolge meist unbewusst. Diese Inhalte können deshalb erst mit einigem Aufwand bewusst gemacht werden.[f 5]

Das Über-Ich spielt zusammen mit dem Ich eine wichtige Rolle bei der Verdrängung.[f 3]

Entstehung des Über-Ichs

Nach Freud übernimmt vor der Entwicklung des Über-Ichs Angst vorerst dessen Funktion. Der elterliche Einfluss findet in Form von Liebesbeweisen und Angst vor Bestrafung durch Liebesverlust statt. Dadurch entsteht die Realangst des Kindes, welche ein Vorläufer der späteren Gewissensangst ist.[f 6] Der Umwandlungsprozess der Elternbeziehung in das Über-Ich ist nach Freud recht komplex. Wird der Ödipuskonflikt beendet, verzichtet das Kind auf die Objektbesetzungen, die es bei den Eltern untergebracht hatte. Das Über-Ich entsteht dann mittels der sogenannten Identifizierung. Bei diesem Vorgang finden Vergleiche und Anpassungen an ein anderes Ich statt. Diese stehen im Konflikt mit den Aggressionen gegen den Elternteil, mit dem das Kind um den zweiten Elternteil konkurriert. Das Über-Ich wird erstmals als Gegengewicht zu diesen Aggressionen etabliert, wobei es seine Funktion durch passive Aggression (Werte, Normen etc.) gegen das Es erfüllt. Das Über-Ich bildet somit den Nachfolger der Elterninstanz und ist nach Freud eine überlegene Instanz im Ich.[f 7]

Mit der Zeit übernimmt das Über-Ich auch Einflüsse der Eltern, nachfolgenden Erziehungspersonen (Autoritäten) und idealen Vorbildern.[f 8]

Letztlich sei das Über-Ich ein abgetrennter Teil des Es', d. h. für Freud sind Moral und Gewissen Elemente der Gefühlswelt. Darin unterscheidet er sich grundlegend einerseits von Immanuel Kant, demzufolge Moral ein „Faktum der Vernunft“ sei, die nicht mit Gefühlen außer dem Gefühl der Achtung für andere Vernunftwesen einhergehe, andererseits von Gauthier, für den Moral Zweckrationalität ist.

Das Bewusstsein

In vielen vereinfachenden topischen Modellen wird diese Instanz meist weggelassen.

„Die psychoanalytische Spekulation knüpft an den bei der Untersuchung unbewußter Vorgänge empfangenen Eindruck an, daß das Bewußtsein nicht der allgemeinste Charakter der seelischen Vorgänge, sondern nur eine besondere Funktion derselben sein könne. In metapsychologischer Ausdrucksweise behauptet sie, das Bewußtsein sei die Leistung eines besonderen Systems, das sie Bw nennt.“

Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips.[6]

Dieses System hat nach Freud die Aufgabe, die Wahrnehmungen der Erregungen aus der Außenwelt und der Empfindungen der Innenwelt zu liefern.[6] Besonderheit dieses Systems gegenüber den anderen Instanzen sei, dass Erregungsvorgänge in ihm keine Spuren hinterlassen, sondern mit ihrem Bewusstwerden „verpuffen“.[7]

Das System Bw, in Verbindung mit den Wahrnehmungen W-Bw genannt, hat nach Freud seinen Sitz an der Grenze zwischen Außenwelt und Psyche und umhüllt die anderen, tieferliegenden Schichten. Als Neurologe macht er die Bemerkung, dass dies auch beim Gehirn so sei und vergleicht die höheren kognitiven Funktionen auch mit ihrer Lokalisation in den außenliegenden Schichten des Gehirns, wörtlich der Hirnrinde.[8]

Das System W-Bw wurde zusammen mit den anderen Instanzen von Freud in seinen Topologie-Zeichnungen dargestellt (siehe hierzu die Schrift Das Ich und das Es).

Verhältnis zu Freuds älterem Seelenmodell

Zusammenhang zwischen Freuds erstem und zweitem Seelenmodell

Bei allen drei psychischen Instanzen gibt es Bewusstes, Unbewusstes und Vorbewusstes. Das Ich/Es/Über-Ich-Modell deckt sich insofern nicht mit Freuds früher entwickelten, ebenfalls dreigliedrigen Modell der Psyche, welches zwischen Bewusstem, Vorbewusstem und Unbewusstem unterscheidet, auch wenn beide als miteinander verflochten gedacht werden können.[9]

Das ältere Seelenmodell Freuds wird auch als erstes topisches System bezeichnet. Mit der Bezeichnung „topisch“ wird bei beiden Modellen auf ihre räumliche Struktur hingewiesen, wobei das zweite Modell stärker auf die Prozesse zwischen den jeweiligen Instanzen abhebt: „In diesem mehr anthropologisch gedachten System besitzen die Instanzen den Charakter relativ selbständiger Personen, die zueinander in freundliche oder feindliche Beziehungen treten können.“[9]

Siehe auch

Literatur

  • Sigmund Freud: Das Ich und das Es. 1923. In: Studienausgabe. Band 3: Psychologie des Unbewußten. Fischer, Frankfurt/M. 1975, ISBN 3-10-822723-8.
  • Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Band 15: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Imago, London 1944.

Weblinks

Einzelnachweise

  • (f) Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Band 15: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Vorlesung 16: Die Zerlegung der Psychischen Persönlichkeit. Imago, London 1944.
  1. Freud 1944, S. 80.
  2. Freud 1944, S. 82.
  3. a b Freud 1944, S. 75.
  4. Freud 1944, S. 71.
  5. Freud 1944, S. 76.
  6. Freud 1944, S. 68.
  7. Freud 1944, S. 69/70.
  8. Freud 1944, S. 70.
  • Sonstige Belege
  1. Jean Laplanche, J. B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Suhrkamp, 1972, ISBN 3-518-27607-7, S. 147 (original: Vocabulaire de la Psychanalyse. 1967).
  2. Rupert Lay: Vom Sinn des Lebens. München 1985, S. 212.
  3. Rupert Lay: Ethik für Wirtschaft und Politik. München 1983, S. 68.
  4. Sigmund Freud: Abriß der Psychoanalyse. Fischer, Frankfurt/M. 1964, S. 8.
  5. Stavros Mentzos: Psychodynamische Modelle in der Psychiatrie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2. Auflage 1992, ISBN 3-525-45727-8; (a) zu Kap. „Scham- und Schuldgefühle“: S. 79; (b) zu Stw. „Über-Ich“: S. 37, 44, 74, 84.
  6. a b Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Band 13: Jenseits des Lustprinzips und andere Arbeiten aus den Jahren 1920-1924. Imago, London 1940, Kapitel 4, S. 23.
  7. Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Band 13: Jenseits des Lustprinzips und andere Arbeiten aus den Jahren 1920-1924. Imago, London 1940, Kapitel 4, S. 25.
  8. Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Band 13: Jenseits des Lustprinzips und andere Arbeiten aus den Jahren 1920-1924. Imago, London 1940, Kapitel 4, S. 23 ff.
  9. a b Uwe Henrik Peters: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. Urban & Schwarzenberg, München, 3. Auflage 1984; Wb-Lemma: „Totpgraphie, psychische“: S. 567.