Benutzer:3mnaPashkan/Massaker von Debre Libanos
Beim Massaker von Debre Libanos ermordeten Offiziere des faschistischen Italien mit von ihnen befehligten libyschen Kolonialtruppen (sogenannten Askaris) vom 19. bis 26. Mai 1937 etwa 1.800 bis 2.200 Geistliche, Theologiestudenten und Pilger der Klosterstadt Debre Libanos – einer der heiligsten Stätten der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche. Das Massaker gilt als eines der schwersten Kriegsverbrechen des faschistischen Italien auf dem Territorium des früheren Kaiserreiches Abessinien (heutiges Äthiopien), das infolge des italienischen Überfalls 1936 annektiert und in die neugebildeten Kolonie Italienisch-Ostafrika eingegliedert worden war.
Der Massenmord erfolgte auf persönlichen Befehl von Marschall Rodolfo Graziani, des faschistischen Vizekönigs der Kolonie. Graziani unterstellte der Klosterstadt eine direkte Unterstützung von Attentätern der abessinischen Widerstandsbewegung, die im Februar 1937 einen gescheitereten Mordanschlag auf ihn verübt hatten. Darüber hinaus galt das im „Rebellengebiet“ liegende Debre Libanos als Zentrum der alten christlichen Kultur Abessiniens, die der neuen italienischen Besatzungsmacht im Wege stand. Trotz fehlender Beweislage rückte am 18. Mai auf seine Anweisung ein Militärkonvoi unter General Pietro Maletti ins Klostergelände ein. Die italienischen Offiziere und die von ihnen befehligten libysche Askari-Einheiten trieben alle anwesenden Geistlichen, Theologiestudenten und Pilger zusammen und sperrten sie in der Kirche Sankt Tekle Haymanot ein. Die Verhaftungswelle umfasste am nächsten Tag auch das Umland von Debre Libanos, im Rahmen derer italienische Soldaten auf freiem Feld Gefangenenlager beim Dorf Chagel einrichteten. Das Massaker begann am 19. Mai mit den Morden an etwa 30 Kranken und Behinderten. Diese wurden in ihren Behausungen oder nahe des Klosters erschossen. Danach wurden am 21. Mai die 1.000 bis 1.600 ausgesonderten Geistlichen mit bis zu 40 Militärlastern zur Hinrichtungsstätte in der umliegenden Ebene von Laga Wolde gefahren, wo sie nach nach dem Schießbefehl eines italienischen Offiziers von libyschen Askaris hingerichtet wurden. Am 26. Mai folgte schließlich die Ermordung die verbliebenen 400 bis 500 Theologiestudenten und Pilger auf der abgeschiedenen Ebene von Engecha nahe der Stadt Debre Berhan.
Vor ihrem Abrücken wurden von den italienischen Soldaten noch der Klosterschatz geplündert, wobei hunderte von unersetzlichen Gegenständen entwendet wurden, darunter Goldkronen einstiger abessinischer Kaiser, alte Messgewänder und religiöse Schriften. Dem schwer angeschlagenen Land gingen dadurch zusätzlich wertvolle Teile seines kulturellen Erbes unwiederbringlich verloren. Nach dem Zweiten Weltkrieg strebte Äthiopien eine Auslieferung italienischer Kriegsverbrecher an und bemühte sich deren strafrechtliche Verfolgung, scheiterte damit aber letzlich am Widerstand Italiens sowie der allierten Siegermächte. In der neueren Forschung zum italienischen Angriffskrieg und der Besatzungspolitik 1935 bis 1941 gilt das Massaker als ein in der gesamten weltweiten Kolonialgeschichte einzigartiger Fall von Brutalität gegen eine religiöse Gemeinschaft. Diskutiert werden außerdem mögliche Parallelen zwischen der Okkupationspolitik des faschistischen Italien in Äthiopien und der ersten Phase der späteren deutschen Besatzungsherrschaft in Polen.
Vorgeschichte
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts führten die wachsenden imperialistischen Bestrebungen des Königreichs Italien in Ostafrika zu einer Reihe von militärischen Auseinandersetzungen mit dem Kaiserreich Abessinien. Infolge eines ersten Krieges 1886 bis 1889 musste Abessinien das Gebiet des heutigen Eritrea an Italien abtreten, der Versuch einer vollständigen Kolonialisierung des abessinischen Kaiserreiches im Krieg von 1895/96 endete für die Italiener jedoch mit einer vernichtenden Niederlage. Die abessinischen Truppen Kaiser Meneliks II. besiegten die Italiener bei der Schlacht von Adua, wobei die italienische Armee 4000 Soldaten verlor. Menelik ließ die meist unversehrten italienischen Kriegsgefangenen in ihr Heimatland zurückkehren und erlaubte den Italienern auch weiterhin ihre Kolonie Eritrea zu behalten. Die Italiener ernteten für ihre Niederlage jedoch den Hohn der übrigen europäischen Kolonialmächte, und die „Demütigung von Adua“ verfolgte Italien in den folgenden Jahrzehnten.[1]
Am 9. Mai 1936 wurde Badoglio zum Vizekönig Äthiopiens ernannt, und General Graziani als Oberbefehlshaber der Südfront zum Marschall befördert. Badoglio beabsichtigte das Land unter Einbindung der traditionellen Stammesführer zu regieren, stieß jedoch mit seinen Vorschlägen auf die Ablehnung des faschistischen Kolonialministers Alessandro Lessona, der für eine Strategie direkter totalitärer Kontrolle plädierte. Daraufhin trat Badoglio von seinem Amt zurück und wurde am 21. Mai von Marschall Graziani ersetzt. Dieser war stolz auf seinen Ruf als „Mussolinis starker Mann“, den er sich während der italienischen „Rückeroberung Libyens“ 1922 bis 1932 mit willkürlichen Massakern an der Zivilbevölkerung und ihrer Internierung in Konzentrationslager erworben hatte. Nun, als Vizekönig Äthiopiens, wurde Graziani von Mussolini mit nahezu unbeschränkten Befügnissen ausgestattet.[2]
Ablauf
18. Mai: Ankunft des Militärs
19. Mai: Die ersten Morde
20. Mai:
21. Mai: Massenerschießung des Klerus
22.–25. Mai:
26. Mai: Exekutionen in Engecha
27. Mai
Nachwirkungen
Opferzahlen
Rezeption
Dem italienischen Historiker Angelo Del Boca (2014) zufolge habe es in der gesamten weltweiten Kolonialgeschichte keinen einzigen Fall gegeben, bei dem eine religiöse Gemeinschaft mit vergleichbarer Brutalität angegriffen und vernichtet worden wäre. Er konstatiert: „Italien, solch ein zivilisiertes Land, Sitz des Vatikan, attackierte und vernichtete eine der ältesten und berühmtesten Institutionen der christlich-orthodoxen Religion – kein Ort, an dem Verschwörungen ausgebrütet wurden, sondern ein Ort, an dem man Theologie, Literatur und Poesie studierte.“[3]
Auch der Schweizer Historiker Aram Mattioli (2006) weißt auf die durch Ian Campbells Studie bedeutend nach oben korrigierten Opferzahlen hin. Mattioli hält fest, dass damit allein in diesem fürchterlichen Gewaltakt weit mehr Menschen ihr Leben verloren haben, als in einigen der bekannten Massaker des Zweiten Weltkrieges wie Lidice, Oradour oder den Fosse Ardeatine. Das Massaker von Debre Libanos erfülle zusammen mit weiteren kollektiven Vernichtungsbefehlen, die Graziani in seiner eineinhalb jährigen Regierungszeit gegen den Klerus der äthiopisch-orthodoxen Kirche, den amharischen Adel und die Intelligenz des Landes erlassen hat, den Tatbestand des „Soziozids“. Für Mattioli sind diese Phase der italienischen Liquidierungspolitik in Äthiopien und die ersten Phase des deutschen Besatzungsterrors in Polen vergleichbar, da deutsche Einheiten bekanntlich bald nach dem Einmarsch mit der gezielten Ausrottung der polnischen Bildungsschichten, des Offizierskorps, der höhren katholischen Geistlichkeit und tausender Juden begannen. Erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 habe die deutsche Okkupationspolitik mit Abermillionen von Ermordeten eine beispiellose Gewaltdimension angenommen. Allerdings weise das von Italien realisierte Massaker von Debra Libanos zumindest in einzelnen Aspekten auch Parallelen mit mit dem deutschen Vorgehen in der Sowjetunion auf, beispielsweise dem im Erlass Hitlers vom März 1941 befohlenen sofortigen Exekution von Kommissaren der Roten Armee nach ihrer Gefangennahme.[4]
Drastischer als Mattioli vergleicht der italienische Historiker Brunello Mantelli (1994) das Vorgehen des faschistischen Italien mit jenem des nationalsozialistischen Regimes. Mussolini und seine Generäle hätten Äthiopien mit Methoden unterworfen, die „denen, die Adolf Hitler später anwandte, in nichts nachstanden“.[5] Im Jahr 2007 urteilte Mantelli zur Aufarbeitung der faschistischen Kriegsverbrechen in der italienischen Gesellschaft: „Es scheint mir problematisch, dass die italienischen Jugendlichen und oft auch ihre Lehrer und jene, die über durchschnittliche Kenntnisse verfügen, zwar – zu Recht! – wissen, was Auschwitz, Dachau, Mauthausen und vielleicht auch Kolima sind, aber daß sie nichts oder fast nichts von Debrá Libanós und Arbe wissen.“[6]
Literatur
- Ian Campbell: The Massacre of Debre Libanos. Ethiopia 1937. The Story of One of Fascism’s Most Shocking Atrocities. Addis Ababa University Press, Addis Ababa 2014, ISBN 978-99944-52-51-4.
- Aram Mattioli: Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltkriegsepoche. In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hg.): Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941 (= Italien in der Moderne. Bd. 13). SH-Verlag, Köln 2006, ISBN 3-89498-162-8, S. 9–26.
- Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941 (= Kultur – Philosophie – Geschichte. Band 3). Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca. Orell Füssli, Zürich 2005, ISBN 3-280-06062-1.
- Alberto Sbacchi: Ethiopian Opposition to Italian Rule, 1936–1940. In: ders.: Legacy of Bitterness: Ethiopia and Fascist Italy, 1935–1941. The Red Sea Press, Lawrenceville 1997 [1978], ISBN 978-0932415745, S. 165–204.
Anmerkungen
- ↑ Ian Campbell: The Massacre of Debre Libanos. Ethiopia 1937. The Story of One of Fascism’s Most Shocking Atrocities. Addis Abeba 2014, S. 18 f.
- ↑ Ian Campbell: The Massacre of Debre Libanos. Ethiopia 1937. The Story of One of Fascism’s Most Shocking Atrocities. Addis Abeba 2014, S. 25 f.
- ↑ Vgl. Angelo Del Bocas Vorwort zu Ian Campbell: The Massacre of Debre Libanos. Ethiopia 1937. The Story of One of Fascism’s Most Shocking Atrocities. Addis Ababa 2014.
- ↑ Aram Mattioli: Ein vergessenes Schlüsselereignis der Weltkriegsepoche. In: Asfa-Wossen Asserate, Aram Mattioli (Hg.): Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935–1941. Köln 2006, S. 9–26, hier S. 18, 20 u. 22.
- ↑ Brunello Mantelli: Kurze Geschichte des italienischen Faschismus. 4. Auflage, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008 [Mailand 1994], ISBN 978-3-8031-2300-3, S. 109.
- ↑ Brunello Mantelli: Die verdrängte Erinnerung: Verfolgungspolitik und Kriegsverbrechen des faschistischen Italien. In: Christiane Liermann et al. (Hg.): Vom Umgang mit der Vergangenheit: Ein deutsch-italienischer Dialog / Come affrontare il passato? Un dialogo italo-tedesco. Max Niemayer Verlag, Tübingen 2007, ISBN 978-3-484-67019-8, S. 75–90, hier S. 77.