Benutzer:Bikeprofessor/Fahrrad Physik
Einleitung und Zusammenfassung
In diesem Artikel wird die sehr komplexe Physik des Fahrradfahrens in einer möglichst einfachen Form vorgestellt. Spezielle Aspekte davon, insbesondere lineare Näherungen, sind in wissenschaftlichen Publikationen umfassend diskutiert worden. Daneben existieren populärwissenschaftliche Artikel, die leider immer noch häufig von Mythen, Halbwahrheiten und Falschaussagen durchsetzt sind.
Die vielleicht wichtigste Arbeit zur Physik des Fahrradfahrens stammt von David Jones, einem englischen Chemiker, aus dem Jahr 1970. Jones war vermutlich der erste, der das Fahrrad nicht als zwei rollende Einzelräder modellierte, sondern den dominierenden Einfluss der Lenkgeometrie berücksichtigte. Ein genügend schnell rollendes Rad wird durch Kreiseldrehmomente am Kippen gehindert. Jones wies mit genialen Experimenten nach, dass diese beim Fahrradfahren keine Rolle spielen. Er ersetzte die Räder durch winzige Kugellager und eliminierte dadurch die Kreiselkräfte. In einem weiteren Experiment liess er ein parallel montiertes und, um Bodenkontakt zu vermeiden, ein etwas kleineres Rad im Gegensinn drehen. Damit konnte er Kreiseldrehmomente kompensieren oder sogar überkompensieren. All dies hatte keinen Einfluss auf das Fahrverhalten.
Dagegen erwies sich der sogenannte Nachlauf als ein entscheidender Parameter. Liegt bei einem Fahrrad der Kontaktpunkt des Vorderpneus mit dem Boden hinter der Steuerrohrachse (in der Ebene des Vorderrades gemessen), so spricht man von Nachlauf. Jones zeigte, dass ein genügend schnell angeschobenes, fahrerloses Fahrrad mit Nachlauf einigermassen stabil fährt. Ein Fahrrad mit Vorlauf dagegen, kippt bereits nach sehr kurzer Distanz. Viele Argumente von Jones zur Stabilität des Fahrradfahrens blieben qualitativer Natur. Sie wurden grösstenteils später durch Rechnungen bestätigt.
Erstaunlicherweise wurden die Erkenntnisse von Jones von sehr vielen Verfassern von populärwissenschaftlichen Artikeln zum Fahrradfahren ignoriert. Heute werden immer noch oft Kreiseldrehmomente als verantwortlich oder mindestens wichtig für die erstaunliche Stabilität eines schnell fahrenden Fahrrades dargestellt. Dies hat die amerikanische Zeitschrift "Physics Today" veranlasst, im Jahr 2006 den Artikel von Jones in voller Länge nachzudrucken. Leider wird auch dies nicht genügen, um den Mythos auszurotten.
Im vorliegenden Beitrag wird gezeigt, dass oberhalb Fussgängertempo die Zentrifugalkraft das Kippen verhindert. Beim extrem langsam fahren ist es eine der Zentrifugalkraft verwandte Kraft, die "Knickkraft". Sie beruht darauf, dass eine rasche Bewegung des Lenkers zu einem momentan sehr kleinen Kurvenradius der Trajektorie des Vorderrades (im Extremfall zu einem Knick) führt. Der instantane Kurvenradius führt zu einer Kraft (Knickkraft), analog wie ein stationärer Kurvenradius zur Zentrifugalkraft. Da die Knickkraft proportional zur Drehgeschwindigkeit des Lenkers ist, muss das Fahrrad durch laufende Korrekturbewegungen stabilisiert werden.
Daraus folgt, dass man sich eine Lenkgeometrie wünscht, bei der oberhalb Fussgängertempo eine stabile Gleichgewichtsausdrehung des Lenkers existiert, die mit Hilfe der Zentrifugalkraft Kippen verhindert. Beim sehr langsam Fahren dagegen, wünscht man sich ein instabiles Verhalten derart, dass die laufenden Korrekturbewegungen am Lenker durch ein Drehmoment unterstützt werden. Entscheidend für das gewünschte Verhalten sind Drehmomente an der Steuerrohrachse. Sie kommen zu Stande als Produkt zwischen dem Nachlauf als Kraftarm und den am Kontaktpunkt des Vorderpneus angreifenden Kräften. Dabei wirkt das Drehmoment der Normalkraft (Gegenkraft zur Schwerkraft) auslenkend und destabilisiert die Nullgrad-Lage des Lenkers. Erst oberhalb einer kritischen Geschwindigkeit ist das rückstellende Drehmoment der Zentripetalkraft (Gegenkraft zur Zentrifugalkraft) genügend gross um ein Gleichgewicht bei kleinen Lenkerausdrehungen zu ermöglichen. Nur oberhalb der kritischen Geschwindigkeit ist Freihandfahren möglich. Unterhalb der kritischen Geschwindigkeit ist die Gleichgewichtslage des Lenkers durch die Bedingung Nachlauf (Kraftarm) gleich Null festgelegt. Für eine typische Lenkgeometrie entspricht dies einer Ausdrehung von ungefähr +/- 60°. Bei einem guten Fahrrad fällt die kritische Geschwindigkeit ungefähr mit dem Übergang von Zentrifugualkraft - kontrollierter Stabilität zur dynamischen, Knickkraft - kontrollierten Stabilität zusammen.
Oft wird postuliert, das System Fahrrad-Fahrer sei von sich aus stabil. Ein autonomes Fahrrad mit einem rein passiven "Dummy" Fahrer und Antriebsmotor könnte demnach stabil geradeaus fahren. Dies ist jedoch nur sehr eingeschränkt korrekt. Oberhalb etwa 18 - 19 km/h tritt eine Kippinstabilität auf, unterhalb etwa 14 - 15 km/ eine oszillatorische Instabilität. Genau so oft wird Freihandfahren mit dem autonomen Fahrrad verwechselt. Die Steuergrösse beim Freihandfahren ist der Kippwinkel des Rahmens, der unabhängig vom Kippwinkel des Schwerpunkts eingestellt werden kann und der die Ausdrehung des Lenkers bestimmt.
Ein weiterer Mythos betrifft die zwingende Notwendigkeit eines Regelkreises, als Voraussetzung für das Fahren mit der Hand am Lenker. Davon, dass die Regelung zwar hilfreich, aber nicht erforderlich ist, kann man sich leicht überzeugen: Man hängt ein Gewicht, beispielsweise eine schwere Einkaufstasche aussen an den Lenker. Fahren kann man jedoch weiterhin mühelos, wenn auch mit etwas Kraftaufwand zur Kompensation des durch das Gewicht erzeugten Drehmoments am Lenker. Unterhalb etwa 7 km/h ist die Regelung auch ohne absichtliche Destabilisierung instabil. Dies verunmöglicht Freihandfahren, hat aber keinen Einfluss auf das Fahren mit der Hand am Lenker.
Geometrie und Kinematik des Fahrrads
Bild 1 zeigt die für das Fahrverhalten wichtigen Geometrieparameter. Dies sind nicht die normalerweise für die optimale Anpassung an die Körpermasse verwendeten Parameter. Sehr wichtig ist der Steuerrohrwinkel , der hauptsächlich für den Nachlauf verantwortlich ist. H ist die Höhe des Schwerpunkts über Boden, A sein horizontaler Abstand vom Kontaktpunkt des Hinterrades und L ist der Radstand. Es erweist sich als notwendig zwischen dem Kippwinkel des Rahmens und dem Kippwinkel des Schwerpunkts zu unterscheiden. Der Ausdrehwinkel des Lenkers ist nicht identisch zum Fahrwinkel des Vorderrades.
In diesem Beitrag werden für Berechnungen die folgenden Parameter verwendet: = 70°, L = 105 cm, A = 33 cm, H = 120 cm, r = 36 cm, Masse von Fahrer und Fahrrad = 80 kg, Masse von Felge und Pneu = 0.8 kg.
Die Kinematik des Fahrrads ist recht komplex (Bild 2). So hat jeder Punkt entlang der x-Achse einen anderen Fahrwinkel , einen anderen Kurvenradius R und eine andere Geschwindigkeit v. Wenn nichts anderes spezifiziert ist, so wird in diesem Beitrag unter v stets die Geschwindigkeit des Schwerpunktes verstanden.
Man findet leicht:
Für kleine Winkel gilt näherungsweise:
Dabei sind die Winkel in Radian Einheiten zu verstehen (π in Radian Einheiten entspricht 180°).
Der Einfluss des Radstandes L (Abstand der Bodenkontaktpunkte der Pneus) ist aus den Gleichungen klar ersichtlich. Je grösser L, desto grösser ist der Kurvenradius für einen gegebenen Fahrwinkel des Vorderrades. Ein grosser Radstand macht das Fahrrad gutmütig, ein kleiner macht es agil und wendig.
Der Zusammenhang zwischen der Lenkerausdrehung und dem Fahrwinkel ist komplex. Für kleine Winkel gilt näherungsweise:
Gleichgewicht gegen Kippen beim gelenkten Fahren
Zusammenfassung
Liegt der Schwerpunkt des Systems Fahrer - Fahrrad nicht in der Senkrechten, so tritt infolge der Schwerkraft ein Kippmoment um die x-Achse auf, das ohne ein entgegengesetztes Drehmoment zum Kippen führt. Kippmomente können auch durch äussere Kräfte, zum Beispiel Seitenwind verursacht werden. Auch solche Momente müssen für eine stabile Fahrt kompensiert werden.
Da ein frei rollendes Einzelrad oberhalb einer kritischen Geschwindigkeit von zirka Fussgängertempo durch Kreiselkräfte am Kippen gehindert wird, glaubte man lange, auch beim Fahrrad seien Kreiseldrehmomente für die Stabilität verantwortlich. Beim Fahrrad ist jedoch das Kippmoment mehr als zwei Grössenordnungen höher als beim Einzelrad. Dies weil die totale Masse etwa zwei Grössenordnungen grösser ist und weil der Schwerpunkt etwa einen Faktor drei höher als die Nabe liegt. Der direkte Beitrag der Kreiseldrehmomente zur Stabilität gegen Kippen ist vernachlässigbar. Der indirekte Beitrag, das heisst der Beitrag zum Drehmoment am Lenker wird später besprochen. Im Appendix finden sich mathematische Ausdrücke für das Kreiseldrehmoment und für den Vergleich mit dem viel grösseren Drehmoment der Zentrifugalkraft.
Bei nicht allzu kleinen Geschwindigkeiten ist es primär die Zentrifugalkraft, die Kippen verhindert. Droht das Fahrrad nach innen zu Kippen, so kann durch eine Korrektur am Lenker eine nach aussen gerichtete Zentrifugalkraft erzeugt werden, die das Fahrrad wieder aufrichtet. Umgekehrt muss bei einer Kurvenfahrt das Drehmoment der Zentrifugalkraft durch ein Kippmoment kompensiert werden. Deshalb wird der Schwerpunkt nach innen verkippt.
In Abwesenheit von äusseren Kräften lässt sich die Gleichgewichtsbedingung sehr einfach geometrisch formulieren. Gleichgewicht ist erreicht, wenn der Summenvektor der Schwerkraft und der Zentrifugalkraft um den selben Winkel verkippt ist wie der Schwerpunkt (siehe Bild 3).
Die Zentrifugalkraft ist proportional zur Geschwindigkeit im Quadrat. Das heisst, dass sie mit abnehmender Geschwindigkeit sehr rasch abnimmt und irgendeinmal nicht mehr genügt um Kippmomente zu kompensieren. An ihre Stelle tritt eine der Zentrifugalkraft verwandte Kraft, die spezifisch für das Fahrrad ist. Hier wird sie Knickkraft genannt. Wird der Lenker instantan gedreht, so beschreibt die Trajektorie des Vorderrades einen Knick. Erfolgt die Drehung langsamer, so entsteht an Stelle eines Knicks ein vorübergehend sehr kleiner Kurvenradius. Genau wie der Kurvenradius in einer stationären Kurvenfahrt eine Zentrifugalkraft auslöst, bewirkt der momentane kleine Kurvenradius eine momentane analoge Kraft, die Knickkraft. Sie wird ausgelöst durch ein rasches Ausdrehen des Lenkers.
In der Tat stellt man fest, dass beim Verlangsamen der Geschwindigkeit unterhalb Fussgängertempo rasche Korrekturbewegungen am Lenker erforderlich werden um das Gleichgewicht zu halten. Man befindet sich dann nicht mehr im Zentrifugalkraft Regime, sondern im Knickkraft Regime. Gleichgewicht ist immer noch möglich, allerdings nicht mehr als stationäres, sondern nur noch als dynamisches Gleichgewicht.
Drehmomente der Schwerkraft und der Zentrifugalkraft
Die Schwerkraft erzeugt ein Drehmoment um die x-Achse, das für kleine Kippwinkel proportional zur Verkippung des Schwerpunkts gegenüber der Vertikalen ist.
Dabei ist g die Erdbeschleunigung (9.81 m/sec²). Für die anderen Parameter siehe Bilder 1 und 2. Im Gleichgewicht wird das Kippmoment durch ein entgegengesetztes aufrichtendes Moment Mz der Zentrifugalkraft kompensiert. Für kleine Fahrwinkel gilt:
Daraus folgt unmittelbar die Gleichgewichtsbedingung:
oder für kleine Winkel:
Die Gleichgewichtsbedingung lässt sich leicht geometrisch interpretieren.Der Summenvektor aus der Schwerkraft und der Zentrifugalkraft muss in der Ebene gebildet aus dem Schwerpunkt und den Kontaktpunkten der Pneus liegen.
Die Knickkraft (Fliehkraft)
Die Fliehkraft ist proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit und nimmt folglich mit sinkender Geschwindigkeit rasch ab. Das durch die Schwerkraft induzierte Kippmoment dagegen ist unabhängig von der Geschwindigkeit. Unterhalb einer gewissen Geschwindigkeit ist die Zentrifugalkraft nicht mehr in der Lage Verkippungen zu kompensieren. Trotzdem ist Fahhradfahren auch bei extrem kleinen Geschwindigkeiten immer noch möglich. Verantwortlich dafür ist eine der Zentrifugalkraft sehr eng verwandte Kraft, die hier Knickkraft genannt wird.
Wird der Lenker eines Fahrrades blitzartig ausgelenkt, so beschreibt die Trajektorie des Vorderrades einen Knick. Dies entspricht einem momentan unendlich kleinen Kurvenradius und hat eine Scheinkraft analog zur Fliehkraft zur Folge. Die Trajektorie des Hinterrades dagegen zeigt keinen Knick. Am Ort des Schwerpunktes ist der Knick um das Verhältnis A/L reduziert. Auslenkungen mit endlicher Geschwindigkeit führen nicht zu einem Knick, aber zu momentan reduzierten Kurvenradien des Vorderrades. Die resultierende Kraft ist proportional zum Produkt Geschwindigkeit mal Drehgeschwindigkeit des Lenkers. Daraus resultiert ein Drehmoment das eingesetzt werden kann um das Kippmoment zu kompensieren.
Die darauf basierende Stabilität ist eine dynamische. Sie erfordert laufend Korrekturen durch den Fahrer. Der Übergang von der statischen, durch die Zentrifugalkraft vermittelten Stabilität, zur dynamischen Stabilität der Knickkraft ist leicht zu spüren, wenn man langsam die Fahrgeschwindigkeit reduziert. Sobald rasche Korrekturbewegungen des Lenkers erforderlich werden, befindet man sich im Knickkraft Regime. Die Übergangsgeschwindigkeit liegt ungefähr bei Fussgängertempo. Die Knickkraft ist proportional zu A, dem horizontalen Abstand des Schwerpunktes von der Hinterrad-Nabe. Gute Mountainbike Fahrer stehen in delikaten Passagen in den Pedalen und schieben den Schwerpunkt nach vorne, um A zu vergrössern. Die Knickkraft liefert auch eine Erklärung, wieso extrem steile Anstiege mit dem Mountain Bike nicht nur konditionell anspruchsvoll, sondern auch fahrtechnisch schwierig sind. Im steilen Anstieg schiebt sich der Schwerpunkt nach hinten, A und damit die Knickkraft werden kleiner. Am Punkt an dem das Vorderrad den Kontakt zu verlieren droht, wird A = 0 und die Knickkraft verschwindet. Das Zweirad ist zum Einrad geworden. Deshalb der Ratschlag in den Lenker zu beissen, um den Schwerpunkt möglichst nach vorne zu schieben.
Die Knickkraft hat eine einfache physikalische Interpretation. Verkippungen des Schwerpunkts korrigiert man, indem man laufend mit dem Rahmen wieder unter den Schwerpunkt fährt. Genau das umgekehrte streben Rennfahrer beim Anfahren einer Kurve an. Zunächst wird der Lenker rasch und kurzzeitig in die "falsche" Richtung bewegt. Der Schwerpunkt bewegt sich weiterhin in gerader Linie, aber das Fahrrad oder Motorrad fährt darunter seitlich weg. Dies erzwingt ein extrem rasches Verkippen. Sobald der für den angestrebten Kurvenradius erforderliche Kippwinkel erreicht ist, wird der Lenker auf die Gegenseite gedreht und die Kurve angefahren. Fajans hat dies - allerdings in der Näherung = 90°, in der wichtige Aspekte der Physik verloren gehen - ausführlich diskutiert.
Elemente der Fahrtechnik
Entgegen der Intuition, kann der Fahrer durch einen Hüftknick den Kippwinkel des Schwerpunktes beim Anfahren einer Kurve nicht beeinflussen. Wird der Oberkörper in die angestrebte Kurve gekippt, so führt dies zu einer Rahmenverkippung mit umgekehrtem Vorzeichen. Diese wiederum löst ein Drehmoment entgegen der Kurvenrichtung am Lenker aus. Es ist das damit ausgelöste kurze Gegensteuern, das die Kurve einleitet und nicht der Hüftknick direkt.
Bei Kurven, die im Zuge von kurzen Ausweichmanövern gefahren werden, ist die Technik des Gegenlenkens, um das Kippen einzuleiten, nicht notwendig, wenn der Fahrer anschließend die Fahrt auf der ursprünglichen Fahrlinie fortsetzen möchte. Statt der beschriebenen Technik lenkt der Fahrer das Fahrrad an dem Hindernis vorbei, während sein Körperschwerpunkt sich fast geradeaus weiterbewegt. Demzufolge ist diese Technik auch nur zum Ausweichen vor bodennahen Hindernissen, Schlaglöchern usw. geeignet. Wird sie in der falschen Situation angewandt, führt sie zu schweren Stürzen. Die Entscheidung über die Technik trifft der Fahrer nicht bewusst, sondern in Zehntelsekundenschnelle intuitiv.
Bei hohen Geschwindigkeiten, engen Kurvenradien oder glitschiger Fahrbahn, droht ein Wegrutschen. Die Haftreibung der Pneus vermag die an den Kontaktpunkten angreifende Zentripetalkraft nicht mehr zu kompensieren. Wird beim äusseren Pedal am tiefsten Punkt das kurvenäussere Bein durchgestreckt, so lässt sich das Rutschen zwar nicht vermeiden, wohl aber ein durch das Rutschen ausgelöstes Flachlegen des Rahmens mit unvermeidlichem Sturz.
Der Kurvenradius kann erheblich verkleinert werden, wenn die Fahrbahn nicht eben, sondern in Richtung Kurvenmittelpunkt geneigt ist (Überhöhung). Diese Hilfe machen sich sowohl Cyclo-Cross-Fahrer und Mountainbiker als auch Bahnfahrer zunutze:
- Im Cyclocross- und Mountainbike-Sport nutzt man z. B. ausgefurchte Kurven, die hierdurch eine Überhöhung aufweisen, um Kurven schneller zu durchfahren.
- Im Bahnradsport weisen die Radrennbahnen grundsätzlich in den Kurven Überhöhungen zwischen 30 Grad (lange Freiluft-Zementbahnen mit größerer Haftreibung) und gewöhnlich 45 Grad Überhöhungswinkel auf (in Ausnahmefällen sogar darüber: die nicht mehr existierenden Bahnen in Münster und Frankfurt am Main hatten Überhöhungen von über 55 Grad).
Technische Passagen mit dem Mountainbike fährt man oft im Stand, mit den Pedalen in der 09:15 Stellung. Dies sichert eine optimale Beweglichkeit des Schwerpunktes und des Rahmens. In schwierigen Abfahrten bleibt der Schwerpunkt möglichst hinter dem Sattel. Dies vermeidet purzelbaumartige Stürze und ermöglicht ein einfaches Abspringen nach hinten bei Sturzgefahr. Bei extremen Steigungen dagegen, wird der Schwerpunkt möglichst nach vorne geschoben, um ein Abheben des Vorderrades zu vermeiden. Ohne Druck auf das Vorderrad, ist auch die Knickkraft nicht mehr wirksam.
Drehmomente am Lenker
Zusammenfassung
Mit Ausnahme des Freihandfahrens wird die Ausdrehung des Lenkers durch den Fahrer bestimmt und nicht durch system-interne Drehmomente. Wünschbar, aber nicht zwingend erforderlich ist, dass die internen Drehmomente den Fahrer in der Stabilisierung des Fahrrades unterstützen. Dass die Unterstützung nicht zwingend ist, lässt sich leicht verifizieren, indem man ein Gewicht (Beispiel: schwere Einkaufstasche)aussen am Lenker befestigt. Dies erzeugt ein kräftiges auslenkendes Drehmoment. Fahrradfahren ist immer noch möglich, aber unbequem. Beim Freihandfahren dagegen, treten nur interne Drehmomente auf. Sie müssen zu einer Gleichgewichtsposition des Lenkers führen, die sowohl Stabilität gegen Kippen erzeugt, wie auch ein kontrolliertes Steuern ermöglicht.
Grundsätzlich treten zwei Kategorien von Drehmomenten am Lenker, genauer um die Steuerrohrachse, auf. Die erste beinhaltet das Drehmoment, das mit dem Nachlauf als Kraftarm und den am Boden-Kontaktpunkt des Vorderrades angreifenden Kräften erzeugt wird. Die Kräfte setzen sich zusammen aus der nach innen gerichteten Zentripetalkraft (als Gegenkraft zur Zentrifugalkraft) und der nach oben gerichteten Normalkraft (als Gegenkraft zur Schwerkraft). Ausser in Spezialfällen sind dies die dominierenden Drehmomente.
Das beim stationären Kurvenfahren entstehende Kreiseldrehmoment am Vorderrad überträgt sich auf die Gabel und hat eine Komponente in der Steuerrohrachse, falls diese nicht senkrecht steht. Dies ist oft übersehen worden. Die Komponente ist von der Grössenordnung 10% des Drehmomentes der Zentripetalkraft und muss als Korrekturfaktor berücksichtigt werden (nicht zu verwechseln mit dem Beitrag des Kreiseldrehmomentes zur Stabilisierung des Schwerpunktes, der vernachlässigbar ist). Beim Drehen des Lenkers entsteht ein Kreiseldrehmoment, das allerdings keine Komponente in der Steuerrohrachse hat. Ein drittes Kreiseldrehmoment entsteht beim Verkippen des Rahmens. Es ist nur bei gleichzeitig hoher Geschwindigkeit und rascher Verkippung, zum Beispiel beim Anfahren einer Kurve mit Gegensteuer im Motorrad-Rennsport, von Bedeutung.
Bei einem Fahrrad mit Nachlauf ist die Null-Lage des Lenkers bei aufrechtem Fahrrad ein Maximum der potentiellen Energie und folglich im Stillstand instabil, d.h. der Lenker würde sich - wenn keine Reibung zwischen Boden und Reifen vorhanden wäre - aus der Geradeausrichtung wegdrehen. Das Minimum der potentiellen Energie und damit die stabile Gleichgewichtslage liegt bei der Ausdrehung, bei der der Nachlauf Null wird. Dies ist typischerweise bei etwa +/- 60° der Fall. Erst oberhalb einer kritischen Geschwindigkeit von typisch 6 - 7 km/h wird die symmetrische Null-Lage durch die Zentripetalkraft stabilisiert. Erst oberhalb dieser Geschwindigkeit ist Freihandfahren möglich. Die gewünschte Gleichgewichtslage - entweder für stationäre Stabilität oder für das Steuern entlang einer gewünschten Trajektorie - wird beim Freihandfahren über die Verkippung des Rahmens festgelegt.
Im Bereich der sehr tiefen Geschwindigkeit, dem Bereich der dynamischen, durch die Knickkraft vermittelten Stabilität, ist eine stabile Null-Lage des Lenkers unerwünscht. Man wünscht sich im Gegenteil eine Instabilität, die die laufenden Korrekturbewegungen unterstützt. Die Geometrieparameter von guten Fahrrädern sind so gewählt, dass die kritische Geschwindigkeit ungefähr mit dem Übergang von statischer, von der Zentrifugalkraft vermittelten Stabilität, zur dynamischen, Knickkraft-vermittelten Stabilität zusammenfällt.
Der Nachlauf
Im Allgemeinen liegt der Kontaktpunkt des Vorderrades nicht in der Steuerrohrachse (Bild 4). Da am Kontaktpunkt K des Pneus mit dem Boden Kräfte angreifen, wirkt der Abstand zwischen K und der Steuerrohrachse als Kraftarm und erzeugt ein Drehmoment. Liegt der Kontaktpunkt hinter dem Schnittpunkt von Boden und Steuerrohrachse, so spricht man von Nachlauf. Die hier verwendete Vorzeichenkonvention ist so, dass bei Nachlauf negativ ist und bei Vorlauf positiv.
Solange kein externes Drehmoment auf den Lenker wirkt, zum Beispiel beim Freihandfahren, ist die Gleichgewichtslage des Lenkers gegeben durch die Bedingung Drehmoment = 0. Dazu gibt es generell zwei Lösungen. Die erste ist dadurch gegeben, dass sich die Drehmomente aller Kräfte aufheben. Die zweite - eher theoretische, = 0 - dadurch, dass der Kraftarm (Nachlauf) gleich Null ist, so dass bei Drehung des Lenkers kein Drehmoment erzeugen werden kann.
Der Nachlauf entsteht durch den von 90 Grad abweichenden Winkel der Steuerrohrachse. Durch die Kröpfung kr oder gleichwertige Massnahmen bei Federgabeln (Parallelverschiebung oder Knick), wird der Nachlauf meist ungefähr halbiert. Typisch wird der Nachlauf von ursprünglich etwa -12 cm auf -6 cm reduziert.
Oft wird der Nachlauf beim Fahrrad mit dem Nachlauf bei einem Einkaufswagen verglichen. Dies ist nicht statthaft. Beim Einkaufswagen steht die Drehachse senkrecht. Die potentielle Energie des Wagens ist unabhängig von der Stellung der Räder. Was Vorlauf, resp. Nachlauf ist, wird erst durch die Fahrtrichtung definiert. Auch beim langsamen Ziehen oder Stossen ist der Nachlauf - im Gegensatz zum Fahrrad - die stabile Stellung. Kehrt man die Richtung um, so wird der Nachlauf zum Vorlauf. Folglich besitzt der Einkaufswagen weder einen intrinsischen Vorlauf, noch Nachlauf.
Beim Fahrrad dagegen ist der Nachlauf eine Eigenschaft der Lenkgeometrie und hat nichts mit der Fahrtrichtung zu tun, denn moderne Fahrräder haben alle einen von 90 Grad abweichenden Winkel der Steuerrohrachse, wodurch der Nachlauf erzeugt wird. In den beiden symmetrischen Lenkerstellungen = 0° resp. = 180° hat die potentielle Energie des Fahrrades ein kleines, resp. großes lokales Maximum, vgl. Abb. 5, d.h. der Schwerpunkt liegt am höchsten. Dies entspricht instabilen Gleichgewichten. Die tiefste Lage des Schwerpunkts und damit ein stabiles Gleichgewicht ließe sich ohne eine Kröpfung, resp. Nabenversatz erzielen und wäre bei einem Drehwinkel von +/- 90° gegeben. Die Kröpfung reduziert bei einem durch die Kröpfung halbierten Nachlauf den Gleichgewichtswinkel - also den Winkel, bei dem die potentielle Energie das Fahrrades ein Minimum hat, somit am tiefsten liegt - auf rund +/- 60°.
Bei übermässiger Kröpfung würde ein Vorlauf entstehen. Die symmetrische Nullgrad-Stellung des Lenkers wäre dann ein Minimum der potentiellen Energie, was fahrtechnisch aber unwichtig ist; dagegen würde bei Bewegung des Fahrades auf Grund von Reibung ein Drehmoment am nun von hinten geschobenen und nicht mehr nachgezogenen Rad auftreten, das - und hier stimmt der Vergleich mit dem Einkaufswagen - auf den Lenker zu einer Drehbwegung veranlassen würde, so dass er umschlüge, wenn er nicht gehalten würde. Dies ist unerwünscht. Wäre das Vorderrad dagegen motorisiert (Elektromotor), so würde der Antrieb es umgekehrt in die Geradeausrichtung "ziehen", der Vorlauf wäre also von Vorteil.
Bild 5 zeigt den Verlauf des Nachlaufs als Funktion der Lenkerdrehung bei aufrechtem Fahrrad. Die kleinere Schlaufe entspricht Ausdrehungen unterhalb +/- 60° ( negativ). Die grosse Schlaufe gilt für grössere Ausdrehungen. Die Tangente am Nulldurchgang der Kurven entspricht dem Winkel mit Nachlauf = Null.
David Jones hat als erster den Nachlauf als Funktion der Rahmenverkippung und der Lenkerausdrehung numerisch berechnet. Im Appendix werden erstmals analytische Ausdrücke vorgestellt, die eine viel tiefere Einsicht in die Physik erlauben. Die Berechnung erfolgt nach dem Lösungsprinzip das bereits Jones verwendet hat. Man berechnet den Punkt auf dem Radumfang, der am tiefsten liegt. Der Abstand dieses Punktes von der Steuerrohrachse ist der Nachlauf. Da die Berechnungen sehr involviert sind, werden nur Resultate vorgestellt.
Gleichgewicht des Lenkers im Stillstand
Im Stillstand greift nur die Normalkraft am Kontaktpunkt des Vorderpneus an. Sie ist die Gegenkraft zur Schwerkraft und vertikal nach oben gerichtet.
übt über den Nachlauf im Allgemeinen ein Drehmoment auf die Steuerrohrachse aus. Die Gleichgewichtsbedingung Drehmoment = 0 ist auf zwei Arten zu erfüllen. Erstens dadurch, dass das Drehmoment aus Symmetriegründen gleich Null ist und zweitens, dass der Kraftarm gleich Null wird. Für das aufrechte Fahrrad () entspricht der gerade stehende Lenker () der symmetrischen Lösung. Die Lösung ist jedoch nicht stabil. Die stabile Lösung ist gegeben durch die Bedingung Kraftarm = 0, resp. Nachlauf gleich Null. Für resultiert ein recht einfacher analytischer Ausdruck für die Gleichgewichtslösung Nachlauf = 0.
Aus dem oben stehenden Ausdruck ist die Bedeutung der Kröpfung kr direkt ersichtlich. Ohne Kröpfung (resp. Nabenversatz bei geraden Gabeln), würde die Gleichgewichtslage des Lenkers bei 90° liegen. Dies wäre für das Tragen, Schieben und das Hantieren mit dem Fahrrad sehr lästig. Sogar der aus dem typischen Wert von kr = 6 cm resultierende Gleichgewichtswinkel von etwas über 60° ist immer noch unbequem. Der Stabilitätsbereich bei normalen Fahrgeschwindigkeiten ist der Bereich mit < 0 (Nachlauf) und liegt innerhalb +/- . Eine zu grosse Kröpfung würde den Stabilitätsbereich zu sehr eingrenzen oder sogar ganz aufheben. Das oft gehörte Argument, kr diene dazu, den Verstärkungsfaktor eines inneren Regelkreises zu reduzieren, trifft die Wahrheit nur am Rande. Als amüsantes Experiment kann man die Vordergabel um 180 Grad drehen. kr wird dann negativ und der Nachlauf wird entsprechend um den Betrag kr vergrössert und nicht verkleinert. Das Fahrrad ist immer noch gut fahrbar. Das Handling im Stillstand dagegen ist viel unbequemer, weil der Lenker nun um 120° ausdreht.
Auch für die Nullstellen des Nachlaufs (d.h. die Gleichgewichtslage des Lenkers) bei beliebiger Verkippung, lässt sich ein analytischer Ausdruck finden. Da der Ausdruck unübersichtlich ist, wird hier nur der erste Term der Reihenentwicklung für kleine Verkippungen angegeben.
Die Ausdrehung nimmt entgegen der Intuition mit zunehmender Verkippung rasch ab. definiert die Grenze des Stabilitätsbereichs. Für alle Werte bei einer gegebenen Verkippung ist positiv. Deshalb muss genügend gross gewählt werden um auch noch bei grosser Verkippung einen ausreichenden Bereich von mit < 0 zur Verfügung zu haben. Der optimale Wert von kr ergibt sich aus einem Kompromiss zwischen Stabilität bei grosser Rahmenverkippung und Bequemlichkeit im Hantieren im Stillstand. Mit kr = 6 cm ist der optimale Wert ungefähr erreicht. kr hat eine viel wichtigere Funktion, als den Verstärkungsfaktor des Regelkreises zu reduzieren, wie oft postuliert wird.
Jones liess in einer Fernsehsendung Rennfahrer ein Fahrrad, nur am Sattel gehalten, durch einen engen Slalom stossen. Die Teilnehmer versuchten mit möglichst kleinen Verkippungen einen möglichst kleinen Lenkerausschlag zu erreichen. Dies bewirkte genau das Gegenteil. Jones löste das Problem elegant, indem er das Fahrrad extrem verkippte.
Gleichgewicht des Lenker bei mittleren und hohen Geschwindigkeiten
Am Konktaktpunkt des Vorderpneus greifen 2 Kräfte an. Die eine, die Normalkraft , ist nach oben gerichtet. Sie ist die Gegenkraft zur Schwerkraft. Die zweite Kraft, die Zentripetalkraft ist die Gegenkraft zur Zentrifugalkraft. Sie ist vom Kontaktpunkt des Vorderpneus parallel zum Kurvenradius (siehe Figur 2) nach innen gerichtet. Mit dem Nachlauf als Kraftarm erzeugen sie ein Drehmoment auf den Lenker.
Der Einfachheit halber wird im Folgenden stets die Näherung kleiner Fahr- und Kippwinkel verwendet.
Die beiden Kräfte erzeugen je ein Drehmoment (Normalkraft) resp. (Zentrifugalkraft) in der Steuerrohrachse.
Für < 90° hat das Kreiseldrehmoment (siehe Appendix) des Vorderrades eine Komponente in der Steuerrohrachse z1.
und skalieren beide mit . Für das geschwindigkeitsunabhängige Verhältnis findet man:
Für typische Werte der Parameter beträgt das Verhältnis ungefähr 0.12. Im Gegensatz zum Beitrag zur Stabilität gegen Kippen, ergibt sich für das Gleichgewicht des Lenkers ein zwar kleiner, aber nicht vernachlässigbarer Beitrag des Kreiseldrehmoments. Er kann am einfachsten durch einen Korrekturbeitrag K zu berücksichtigt werden
Im Gleichgewicht addieren sich die Drehmomente zu Null. Unter Verwendung der Kleinwinkelnäherung
findet man die Gleichgewichtsbedingung als
Die Gleichung hat nur oberhalb einer kritischen Geschwindigkeit eine Lösung.
Für ein typisches Fahrrad liegt bei 6 - 7 km/h. Natürlich existieren auch bei kleineren Geschwindigkeiten Gleichgewichtslagen des Lenkers. Die Voraussetzung für die lineare Näherung, dass kleine Verkippungen zu kleinen Auslenkungen führen, ist unterhalb nicht mehr erfüllt. Sogar beim aufrechten Fahrrad liegt die Gleichgewichtsauslenkung nicht mehr bei 0 Grad. Dies wird im nächsten Abschnitt besprochen.
Interessant ist das Verhalten bei grossen Winkeln, bei denen die Kleinwinkel-Näherung nicht mehr zulässig ist. Dies soll in Bild 6 am Beispiel v = 10 km/h dargestellt werden. Um das Verständnis für die Physik zu vereinfachen, wurde das Gleichgewicht zunächst unter Vernachlässigung des Kreiseldrehmoments berechnet (blaue Linien). Für kleine Verkippungen existiert eine stabile Lösung mit kleiner Lenker-Ausdrehung (durchgezogene Linie) und eine instabile (gestrichelte Linie) mit grosser Ausdrehung. Die instabile Linie entspricht der Lösung Nachlauf = 0. Bei einer Verkippung von ungefähr 18° kreuzen sich die Lösungen und vertauschen ihre Stabilität. Für grössere Verkippungen ist jetzt Nachlauf = 0 die stabile Lösung. Wird das Kreiseldrehmoment eingeschlossen (rote Linien), so tritt am Übergangspunkt bei 18° eine Phase auf, in der das Kreiseldrehmoment dominiert und eine Kreuzung verhindert. In den übrigen Bereichen ist der Einfluss des Kreiseldrehmoments gering.
Wie man im Bild 6 sieht, erstreckt sich der quasilineare Bereich der stabilen Lösung bis etwa = 12°. Bei 10 km/h genügt dies, da grössere stationäre Verkippungen kaum auftreten. Würde jedoch kr gegenüber dem hier angenomenen Wert von 6 cm vergrössert, so würde sich die Nachlauf = 0 Lösung in Bild 4 nach unten verschieben und der quasilineare Bereich entsprechend verkleinert. Ein Regelverhalten, das den Fahrer unterstützt, ist nur im quasilinearen Bereich erfüllt. Bild 4 zeigt, dass mit kr = 6 cm ein guter Kompromiss zwischen einem vernünftigen Stabilitätsbereich und einfachem Handling erreicht ist.
Instabilität des Lenker bei kleinen Geschwindigkeiten
Bei sehr kleinen Geschwindigkeiten ist die Verkippung von Rahmen und Schwerpunkt beinahe gleich Null. Das muss auch so sein, denn die Zentrifugalkraft nimmt mit dem Quadrat der Geschwindigkeit ab und hat ihre stabilisierende Wirkung weitgehend verloren. An ihre Stelle tritt die Knickkraft, die allerdings keine statische Stabilität gewährleisten kann. Stabilität gegen Kippen erfordert laufend Korrekturbewegungen des Lenkers.
Genau so, wie bei höheren Geschwindigkeiten der Fahrer durch das innere Regelsystem unterstützt wird, das basierend auf einer stabilen und vom Fahrer beeinflussbaren Gleichgewichtslage des Lenkers Freihandfahren erlaubt, wünscht man sich im Knickkraft- Bereich eine Instabilität mit dem für eine Korrektur erforderlichen Vorzeichen. Tatsächlich führt die Normalkraft zu einem geschwindigkeitsunabhängigen Drehmoment, das bei einer Verkippung nach rechts den Lenker nach rechts ausdreht. Es hat die Form:
Das Drehmoment ist recht kräftig und beträgt typisch -0.27 Nm pro Grad Rahmenverkippung.
Wie in Bild 7 gezeigt, liegt bei kleinen Geschwindigkeiten sogar bei senkrechtem Rahmen die Gleichgewichtsausdrehung nicht bei 0°. Sie ist zunächst durch Nachlauf = 0 (wie beim stehenden Fahrrad) festgelegt, beginnt dann bei etwa 4 km/h zu sinken und erreicht bei den Wert Null.
Um in jedem Geschwindigkeitsbereich eine optimale Unterstützung des Fahrers zu haben, wünscht man sich, dass die maximale Instabilität der Null Grad Ausdrehung für im Knickkraft Bereich auftritt. Im Übergangsbereich soll die Instabilität abnehmen und schliesslich im Zentrifugalkraft Bereich einer Stabilität Platz machen. Mit einer maximalen Instabilität unterhalb 4 km/h und Stabilität oberhalb von 6 - 7 km/h ist das recht gut erfüllt.
Der Steuerrohrwinkel von rund 70° von modernen Fahrrädern, der im wesentlichen bestimmt, führt zum gewünschten Geschwindigkeitsbereich der Instabilität. Die für das Fahrverhalten wichtigsten frei wählbaren Geometrieparamter, die Kröpfung kr und der Steuerrohrwinkel , sind offenbar durch empirische Weiterentwicklung auf optimale Werte gebracht worden.
Das autonome Fahrrad
Wir betrachten ein Fahrrad, das mit einem "dummy" Fahrer bestückt ist, der keinerlei Drehmomente auf den Lenker ausübt und dessen Schwerpunkt in der Rahmenebene fixiert ist. Die Frage ist, ob und unter welchen Bedingungen ein derartiges autonomes Fahrrad in der Lage ist sturzfrei zu fahren.
Falls die Gleichgewichtslage des Lenkers bei einer gegebenen Verkippung exakt dem Gleichgewichts-Fahrwinkel gegen Verkippen entspricht, so durchläuft das Fahrrad einen stationären Kreis (die Reibung wird vernachlässigt). Ist der Fahrwinkel zu klein, so durchläuft das Fahrrad eine Spirale, die im Sturz endet. Ist der Fahrwinkel zu gross, so richtet sich entweder das Fahrrad auf und geht in Geradeausfahrt über oder es treten anwachsende Oszillationen auf.
Der für eine stabile Kurvenfahrt bei einem Kippwinkel erforderliche Fahrwinkel ist gegeben durch:
Der aus der Gleichgewichtsposition des Lenkers resultierende Fahrwinkel beträgt dagegen:
Offensichtlich ist bei hohen Geschwindigkeiten der Fahrwinkel zu klein um Stabilität zu gewährleisten. Dafür verantwortlich ist in erster Linie der von 90° verschiedene Steuerrohrwinkel und in geringerem Mass das rückstellende Kreiseldrehmoment, das in diesem Geschwindigkeitsbereich destabilisierend wirkt. Der instabile Bereich beginnt typisch knapp oberhalb 18 km/h. Oberhalb dieser Geschwindigkeit ist die Zentrifugalkraft beim Gleichgewichts Fahrwinkel ungenügend um das Kippen zu verhindern. Das autonome Fahrrad geht langsam in immer engere Spiralen über und stürzt schliesslich.
Unterhalb etwa 18 km/h ist der Gleichgewichtsfahrwinkel grösser als für die Stabilität gegen Kippen erforderlich. Das Fahrrad wird entweder in eine stabile Geradeausfahrt in aufrechter Position übergehen oder darum herum oszillieren. Die beiden Gleichungen, die die Dynamik der Lenkerausdrehung und der Verkippung beschreiben sind gekoppelte Differentialgleichungen 2. Ordnung und haben grundsätzlich oszillatorische Lösungen. J.P.Meijaard, Jim M. Papadopoulos, A. Ruina und A. L. Schwab haben die linearisierten dynamischen Differenzialgleichungen eines Referenzfahrrades gelöst. Im selben Artikel findet sich auch eine umfassende Literaturliste über wissenschaftliche Publikationen zum Thema. Es zeigt sich, dass der stabile Geschwindigkeitsbereich zwischen Kipp-Instabilität und Oszillations-Instabilität sehr eng ist. Die Folgerung ist, dass das autonome Fahrrad nur in einem sehr kleinen Geschwindigkeitsbereich als intrinsisch stabil betrachtet werden kann.
Der Grund, dass die Oszillationen beim Fahrrad mit Fahrer nicht auftreten liegt darin, dass der Schwerpunkt nicht starr in der Rahmenebene liegt. Dadurch wird die Rückkopplungsschlaufe die zur Oszillation führt stark geschwächt.
Freihandfahren
Oft wird Freihandfahren mit dem autonomen Fahrrad gleichgesetzt. Das ist jedoch völlig falsch. Beim Freihandfahren verfügt der Fahrer über einen ganz entscheidenden Einflussparameter: Er kann das Verhältnis von Kippwinkel des Rahmens zum Kippwinkel des Schwerpunkts frei wählen. Durch geeignete Rahmenverkippung kann entweder ein konstanter Kurvenradius (inkl. Geradeausfahren) eingestellt werden oder der Radius kann nach Belieben vergrössert und verkleinert werden. Beim Freihandfahren ersetzt die Hand am Lenker. In Bild 8 ist das für Gleichgewicht erforderliche Verhältnis zwischen dem Kippwinkel des Rahmens und dem Kippwinkel des Schwerpunkts gezeigt. Fig. 8 gilt nur für kleine Kippwinkel. Grosse treten beim Freihandfahren sowieso nicht auf.
Bei hohen Geschwindigkeiten wird in einer Kurve der Rahmen etwas mehr gekippt als der Schwerpunkt. Unterhalb 18 km/h muss der Rahmen zunehmend weniger gekippt werden, bis schliesslich bei die geringste Verkippung genügt, um den Lenker weit ausschlagen zu lassen. Unterhalb existieren keine Kleinwinkel-Lösungen mehr. Freihandfahren wird unmöglich. Genau wie beim autarken Fahrrad existieren auch hier unterhalb etwa 16 km/h latente Tendenzen zu Oszillationen. Da der Körper des Fahrers nicht starr ist, wirkt er als Dämpfung und kann eventuell sogar aktiv den Oszillationen entgegenwirken. Unterhalb etwa 12 km/h ist Freihandfahren wegen der Oszillationstendenzen kaum mehr möglich.
Gesteuert wird durch kurzeitiges Verlassen der Gleichgewichtsverkippung des Rahmens.
Die meist verwendete Näherung ist nicht in der Lage Freihandfahren korrekt zu beschreiben.
Appendix 1: Kreiseldrehmomente
Wirkung des Kreiseldrehmoments auf den Schwerpunkt beim stationären Kurvenfahren
Bei einem Fahrrad das mit Fahrwinkel eine stationäre Kreisbahn fährt, beträgt das Kreiseldrehmoment für kleine pro Rad:
dabei wurde die effektive Masse des Rades so gewählt, dass sich das korrekte Trägheitsmoment des Rades als ergibt. ist in guter Näherung die Masse von Felge und Pneu.
Sowohl das Kreiseldrehmoment , wie auch das Drehmoment der Zentrifugal- oder Fliehkraft skalieren mit der Geschwindigkeit im Quadrat. Ihr Verhältnis ist demnach unabhängig von der Geschwindigkeit und beträgt für kleine Fahrwinkel:
ist im Vergleich zu völlig bedeutungslos.
liegt in der x-Achse (siehe Bild 1) und hat folglich eine Komponente in der Steuerrohrachse, falls diese nicht senkrecht steht. Da sowohl , wie auch die Zentripetalkraft proportional zur Geschwindigkeit sind, kann als Korrekturfaktor der Grössenordnung 10% berücksichtigt werden.
Kreiseldrehmomente beim Drehen des Lenkers
Beim Drehen des Lenkers mit der Geschwindigkeit entsteht ein Kreiseldrehmoment in der Radebene, aber senkrecht zur Steuerrohrachse. Die auf den Rahmen wirkende Komponente wirkt aufrichtend für Drehungen in die Kipprichtung und beträgt:
Das Verhältnis zum Drehmoment der Zentrifugalkraft lässt sich ausdrücken als:
Dabei ist das Zeitintervall, in dem der Lenker gedreht wird und die Kreisfrequenz des Vorderrades. Der erste Term in der obigen Gleichung ist von der Grössenordnung 0.01, der zweite beträgt ungefähr 1 und für vernünftige Geschwindigkeiten ist das Produkt gleich 1 oder grösser. Auch dieses Kreiseldrehmoment ist folglich irrelevant.
Kreiseldrehmoment am Lenker beim Verkippen
Das dritte Kreiseldrehmoment entsteht durch das Verkippen des Rahmens mit einer Geschwindigkeit . Es liegt in der z-Achse und entfaltet folglich keine aufrichtende Wirkung auf den Rahmen. Dagegen wirkt es auf die Steuerrohrachse. Die Komponente in der Steuerrohrachse beträgt:
Es wirkt in Richtung der Verkippung auslenkend. Die korrekte Vergleichsgrösse ist das ebenfalls auslenkende Drehmoment der Normalkraft. Das Verhältnis lässt sich schreiben als ein Produkt von vier dimensionslosen Quotienten.
Wie oben, ist eine charakteristische Zeit für die Rahmenverkippung. Sehr rasche Verkippungen treten fast nur beim Anfahren einer Kurve mit Gegensteuer an.
Für typische Geometrieparameter und Massen-Verhältnisse lässt sich das Verhältnis grob abschätzen als:
Mit einem Wert = 0.3 sec und den in diesem Artikel verwendeten Parameter, ergibt sich ein Verhältnis von 1 für eine Geschwindigkeit von 15 m/sec oder 54 km/h. Die Folgerung ist, dass bei sehr hohem Geschwindigkeiten beim Anfahren einer Kurve mit Gegensteuer in der kurzen Zeitspanne der erzwungenen raschen Verkippung sogar dominierend sein kann. In normalen Fahrsituationen, insbesondere beim Freihandfahren, ist irrelevant.
Appendix 2: Analytische Ausdrücke für den Nachlauf
Um die Symmetrie des Problems auszunutzen, wird der Nachlauf in einem Koordinatensystem x1, y1, z1 ausgedrückt, in dem die z1-Achse in der Steuerrohrachse liegt, die x1-Achse in der Rahmenebene und die y1-Achse senkrecht dazu (siehe Bild 4). Der Nachlaufvektor hat dann die Komponenten:
Dabei ist der Winkel der Umfangkoordinate mit der minimalen vertikalen Höhe. Nach umständlichen Rechnungen findet man:
Für die symmetrische Lage findet man sehr einfach:
Die Vorzeichenkonvention ist so, dass ein Nachlauf vorliegt, wenn negativ ist.
Die Nullstellen des Nachlaufs für eine allgemeine Rahmenverkippung lassen sich analytisch angeben. Mit
erhält man den eher unübersichtlichen Ausdruck:
Er wird hier angeführt, weil die Reihenentwicklung schon bei kleinen Verkippungen numerisch versagt.