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Der abwertende Begriff „Volksfeind“ wird benutzt, um die Bekämpfung politischer Gegner zu rechtfertigen. Im 20. Jahrhundert war er insondere während der Zeit des Stalinismus und des Nationalsozialismus als ideologischer Kampfbegriff verbreitet. Andere totalitäre Regime bedienten sich ebenfalls dieses Begriffs, um ihre jeweiligen „Volksfeinde“ – oder „Staatsfeinde“ – zu stigmatisieren und zu bestrafen.

Herkunft

„Volksfeind“ ist ein Begriff, der ursprünglich dem römischen Recht entstammt. Die lateinische Bezeichnung hostis publicus „Feind der Öffentlichkeit“ bzw. hostis populi Romani „Feind des römischen Volkes“ machte im Römischen Reich die betreffende Person zu einem Gesetzlosen und legalisierte dessen Beseitigung. Der Senat Roms bezeichnete Kaiser Nero kurz vor seinem Tod im Jahre 68 als „Volksfeind“.

In der Neuzeit wurde der Begriff (französisch ennemis du peuple) in der Französischen Revolution vielfach aufgegriffen und diente zur Rechtfertigung der Terrorherrschaft. Ebenso wurde der Begriff (russisch Враг народа, transkript. Wrag naroda) während der Stalinschen Repressionen benutzt. Anstelle des ursprünglich verwendeten marxistischen Begriffs Klassenfeind wurde im Stalinismus „Volksfeind“ zur massenweisen Bezeichnung angeblicher Konterrevolutionäre, Diversanten, Saboteure und Spione sowie für die Beschuldigten in der sogenannten „Ärzteverschwörung“. Zur Legalisierung diente der Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR, der auch in anderen Unionsrepubliken sinngemäß angewendet wurde.

Auch in anderen totalitären Staaten werden echte oder vermeintliche Regimegegner immer wieder als „Volksfeinde“ bezeichnet.

Im Englischen hat der Begriff public enemy („Feind der Öffentlichkeit“) hingegen eine etwas andere Bedeutung. Er wird hier nur im Sinne von Staatsfeind für Schwerkriminelle (Gangster) verwendet, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen.

In der Französischen Revolution

Das Gesetz vom 22. Prairial, das am 10. Juni 1794 im Nationalkonvent unter der Federführung von Maximilien de Robespierre, dem Anführer der Jakobiner, angenommen wurde, ermächtigte das Revolutionstribunal, Volksfeinde zu bestrafen. Als Volksfeinde galten insbesondere Personen des Ancien Régime, die „entweder mit Gewalt oder mit List“ die Wiedereinführung der Monarchie anstrebten, oder denen Bestrebungen gegen den Nationalkonvent zur Last gelegt wurden. Als einzige Urteilsmöglichkeit war die Todesstrafe vorgesehen (Art. 7). Jeder Bürger wurde zur Denunziation angehalten (Art. 9). Wer der Verschwörung angeklagt wurde, hatte kein Anrecht auf Verteidigung (Art. 16).

Lenin hielt den Radikalismus der Jakobiner während der Schreckensherrschaft für vorbildlich und schrieb 1917, die Bolschewiki müssten als die ,Jakobiner' des 20. Jahrhunderts etwas „Großes, Unvergängliches und Unvergessliches vollbringen“.[1]

In der Sowjetunion

Während der Oktoberrevolution bezeichnete der Rat der Volkskommissare unter dem Vorsitz von Lenin in einem Aufruf An die ganze BevölkerungImperialisten“, „Gutsbesitzer“, „Bankiers“ und „ihre Verbündeten“, die „Kosakengeneräle“, als „Volksfeinde“. Kurz darauf erließ der Rat der Volkskommissare am 28. Novemberjul. / 11. Dezember 1917greg. ein Dekret, in dem die liberal orientierte Partei der Kadetten als „Partei der Volksfeinde“ gebrandmarkt und gleichzeitig die Verhaftung ihrer Führer angeordnet wurde. Mit dem gleichzeitigen Niedergang der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki verschwand in Sowjetrussland bis zum Beginn der 1920er Jahre das Mehrparteiensystem.[2]

Der Begriff „Volksfeind“ erscheint auch im Artikel 131 der sowjetischen Verfassung von 1936.

Der Große Terror

Jeschow war als Leiter des NKWD für die Durchsetzung des von Stalin angeordneten Großen Terrors verantwortlich. Während der zweiten Moskauer Schauprozesse vom 23. bis zum 30. Januar 1937 veröffentlichten sowjetische Zeitungen eine Propagandakampagne zur Steigerung des Massenenthusiasmus und des Hasses gegenüber den „Volksfeinden“. Kurz darauf wurde die Sippenhaft für „Volksfeinde“ eingeführt. Am 5. Juli 1937 erfolgte ein Beschluss des Politbüros, wonach „alle Ehefrauen überführter Vaterlandsverräter, trotzkistischer Spione, der Inhaftierung in einem Lager für die Dauer von mindestens fünf bis acht Jahren unterliegen“, und deren Kinder in Kinderheimen und geschlossenen Internaten unterzubringen waren.[3] Jeschow wurde am 10. April 1939 selbst als besonders gefährlicher „Volksfeind“ verhaftet und am 4. Februar 1940 hingerichtet.[4]

Kulakenoperation

Auf der Grundlage des NKWD-Befehls Nr. 00447 vom 30. Juli 1937, auch „Kulakenoperation“ genannt, wurden von August 1937 bis November 1938 insgesamt 800.000 bis 820.000 Personen verhaftet, davon mindestens 350.000 – eventuell bis zu 445.000 – erschossen, die übrigen in Lager des Gulag eingewiesen.[5] Noch vor der „Kulakenoperation“, am 25. Juli 1937, wurde der geheime NKWD-Befehl Nr. 00439 in Kraft gesetzt.

Deutsche Operation

Die sogenannte „Deutsche Operation“ richtete sich gegen Sowjetbürger deutscher Abstammung, deutsche Spezialisten, die Anfang der 1930er Jahre in die Sowjetunion gekommen waren, um beim sozialistischen Aufbau zu helfen, Emigranten aus Deutschland – auch Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands – sowie jeden, der berufliche oder persönliche Beziehungen zu Deutschland oder Deutschen unterhielt. Infolge dieses NKWD-Befehls wurden 55.005 Personen verhaftet, 41.898 von ihnen wurden erschossen, 13.107 zu Lagerhaft von fünf bis zu zehn Jahren verurteilt.

Polnische Operation

Aufgrund des NKWD-Befehls Nr. 00485 vom 11. August 1937, auch „Polnische Operation des NKWD“ genannt, wurden 143.810 Sowjetbürger polnischer Abstammung oder mit polnisch klingenden Namen oder mit Arbeitskontakten oder privaten Verbindungen nach Polen verhaftet. 139.885 von ihnen wurden verurteilt, 111.091 erschossen.

Japanische Operation

Am 20. September 1937 folgte der NKWD-Befehl Nr. 00593 gegen Personen im Zusammenhang mit angeblichen terroristischen Aktivitäten sowie mit Spionage- und Sabotageakten, die von Japan initiiert worden seien. Besonders Sowjetbürger aus Harbin, das 1932 von japanischen Truppen besetzt worden war, gerieten pauschal in den Verdacht, für den japanischen Geheimdienst gegen die Sowjetunion tätig zu sein. 46.317 Personen aus diesem Kreis wurden verurteilt, 30.992 davon erschossen.

Lettische Operation

Die Lettische Operation des NKWD, angeordnet im NKWD-Rundschreiben Nr. 49990 vom 30. November 1937, führte zur Verhaftung von 22.360 Personen lettischer Abstammung, von denen 16.573 erschossen wurden.[6]

Als letzter „Volksfeind“ in der Geschichte der Sowjetunion wurde Lawrenti Beria, ab 1938 Chef des NKWD, am 26. Juni 1953 verhaftet und ein halbes Jahr später am 23. Dezember erschossen.[7]

Bewertung durch Chruschtschow

In seiner Geheimrede Über den Personenkult und seine Folgen im Anschluss an den XX. Parteitag der KPdSU 1956 bezeichnete Chruschtschow Stalin als den ausschließlichen Urheber des Begriffs „Volksfeind“.[8] In der „Bibel“ des Stalinismus Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B), welche nach den Vorgaben und unter Mitwirkung Stalins verfasst wurde, heißt es beispielsweise:

„Die Sowjetmacht straft mit fester Hand diesen Abschaum [Trotzkisten, Sinowjewleute] der Menschheit und rechnet schonungslos mit ihm ab, als mit Feinden des Volkes und Verrätern der Heimat.“

Geschichte der KPdSU (B) – Kurzer Lehrgang[9]

In der Prawda und der gesamten gelenkten Sowjetpresse wurde diese ideologische Leerformel jahrzehntelang variantenreich verbreitet, so dass der Begriff „Volksfeind“ ein Teil des Wortschatzes des „Homo sovieticus“ geworden ist.

In weiteren Staaten

Jugoslawien

Im kommunistischen Jugoslawien wurde im Jahr 1958 nach dem plötzlichen Tod des serbisch-orthodoxen Patriarchen Vikentije (1890–1958) eine Kampagne zur Wahl seines Nachfolgers durchgeführt, bei der drei Kandidaten aufgestellt wurden. Wunschkandidat des Staates war Bischof German (1899–1991, bürgerlicher Name Hranislav Đorić), der schließlich die Wahl zum Patriarchen auch gewann. Ein Gegenkandidat, Bischof Hrizostom, wurde im Laufe der Kampagne als „Volksfeind“ und Freund Justin Popovićs bezeichnet.[10]

Albanien

Enver Hoxha, jahrzehntelang der Diktator Albaniens, erklärte im Rahmen einer „Säuberungsaktion“ seinen Ministerpräsidenten Mehmet Shehu zum „Volksfeind“ und Agenten mehrerer Geheimdienste. Vinçenc Prennushi, katholischer Erzbischof von Durrës, wurde 1947 durch albanische Kommunisten verhaftet, gefoltert und als „Volksfeind“ zu zwanzig Jahren Gefängnis und Zwangsarbeit verurteilt. Geschwächt durch Folter und Haft starb er 1949 im Gefängnis.

Nordkorea

Jang Song-thaek war ein hoher nordkoreanischer Politiker. Anfang Dezember 2013 wurde er von seinem Neffen, dem regierenden Diktator Kim Jong-un, abgesetzt. In der Folge wurden Jang staatsfeindliche Akte, Korruption und Drogenmissbrauch zur Last gelegt.[11] Im staatlichen Fernsehen (Korean Central Television) wurde gezeigt, wie er während einer Sitzung des Politbüros festgenommen wurde. Nach Angaben der nordkoreanischen Medien wurde Jang aus allen Ämtern entfernt, aus der Partei der Arbeit Koreas ausgeschlossen und am 12. Dezember 2013 hingerichtet.[12][13]

Deutschland - Drittes Reich

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Begriff „Volksfeind“ ebenfalls zur rechtlichen Verfolgung und Bestrafung verschiedener Teile der Gesellschaft verwendet. Als „Volksfeinde“ galten politische Gegner der NSDAP wie Kommunisten und Sozialdemokraten. Ebenso konnten auch Homosexuelle als „Volksfeinde“ verfolgt und bestraft werden. Im Mittelpunkt dieser Verfolgungen standen Juden und Zigeuner.[14][15]

Nachkriegsdeutschland

Während des Kalten Krieges verurteilte das antikommunistische Manifest des Kongresses für kulturelle Freiheit im Juni 1950 in West-Berlin Tendenzen „in totalitären Staaten“, Abweichler als „Volksfeinde“ oder „sozial unzuverlässige Elemente“ zu verfolgen und zu verurteilen.[16]

Deutschland - heute

Bei heutigen Rechtsextremisten gelten weiterhin Vertreter der Linkspartei oder die Überfremdung durch Asylbewerber als „volksfeindlich“.[14]

Verwendung in der Kunst

Siehe auch

Literatur

  • Ralph Ardnassak: Väterchens Misstrauen. Die Welt des Josef Stalin. Zweiter Band: Vom großen Sterben bis zum Krieg. Neobooks Self-Publishing, München 2014. ISBN 978-3-8476-8958-4.
  • Hermann Bott: Die Volksfeind-Ideologie: Zur Kritik rechtsradikaler Propaganda Band 18 von Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Walter de Gruyter 2010, ISBN 3-486-70365-X.
  • Wilhelm Kube: Volksfeind Sozialdemokratie: Rüstzeug im Kampfe fürs Dritte Reich. Buchdruckerei und Verlagsgesellschaft m.b.H. 1930.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Der Spiegel, 26. Januar 2010
  2. Dekret des Rates der Volkskommissare vom 28. November (11. Dezember) 1917
  3. Memorial Krasnojarsk: „Der Große Terror“: 1937–1938. Kurz-Chronik
  4. Ralph Ardnassak: Väterchens Misstrauen. Die Welt des Josef Stalin
  5. Zur Rhetorik einer allgegenwärtigen Verschwörung siehe Gábor T. Rittersporn: The Omnipresent Conspiracy: On Soviet Imagery of Politics and Social Relations in the 1930s. In: Nick Lampert and Gábor T. Rittersporn (Hrsg.): Stalinism. Its nature and aftermath. Essays in honor of Moshe Lewin. M.E. Sharpe, Armonk, N.Y. 1992, ISBN 0-87332-876-0, S. 101–120.
  6. Ralph Ardnassak: Väterchens Misstrauen. Die Welt des Josef Stalin
  7. Preußische Allgemeine Zeitung: Online-Archiv
  8. Deutsche Übersetzung von Chruschtschows Geheimrede
  9. Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) – Kuzer Lehrgang, Dietz Verlag, Berlin 1951, S. 411
  10. Klaus Buchenau: Orthodoxie und Katholizismus in Jugoslawien 1945–1991. Otto Harrassowitz Verlag, 2004
  11. Hinrichtung in Nordkorea – Kims Werk, Lenins Beitrag. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Dezember 2013
  12. Entmachteter Spitzenkader Chang: Nordkorea demütigt Kims Onkel. Spiegel Online, 9. Dezember 2013
  13. Fernsehen in Nordkorea zeigt Festnahme von Kims Onkel Süddeutsche Zeitung, 9. Dezember 2013
  14. a b Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung Volksfeind. Abgerufen am 21. Juni 2016.
  15. "Davon haben wir nichts gewusst!": Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945 Peter Longerich
  16. Manifest des Kongresses für kulturelle Freiheit, Berlin, 26. – 30. Juni 1950
  17. GULag-Zeichnungen. Hrsg. Hans-Peter Böffgen, Thees Klahn und Andrzej Klant. Zweitausendeins, Frankfurt/M. 1993, ISBN 3-86150-001-9
  18. Abb. auch im Anhang von: I. W. Dobrowolski (Hrsg.): Schwarzbuch GULAG. Die sowjetischen Konzentrationslager. Leopold Stocker Verlag, Graz 2002, ISBN 3-7020-0975-2, S. 300–312