Benutzer:Jürgen Oetting/ Material zur Kriminologie

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Lage und Zukunft der Kriminologie – Fragen und Antworten

In: Neue Kriminalpolitik, Jahrgang 25 (2013) Heft 1, S. 26–47 (Online).

  • Hans-Jörg Albrecht: Die aktuelle Lage der Kriminologie ist problematisch. Dabei ist nur wenig zu differenzieren. Während die Kriminologie an den Universitäten in den letzten 20 Jahren erheblich an Bedeutung verloren hat, kann für die Kriminologie an Fachhochschulen (insbesondere der Polizei) und an Landeskriminalämtern ein Bedeutungszuwachs festgestellt werden. Damit ist allerdings eine im Hinblick auf Forschung und Beruf spezialisierte Kriminologie verbunden. An den Rechtswissenschaftlichen Fakultäten wird eine Kriminologie, die empirisch ausgerichtet ist und strafrechtswissenschaftliche, soziologische, psychologische, ökonomische und psychiatrische Perspektiven einbezieht, dagegen eher randständig. Kriminologie wird heute ganz überwiegend (in der Auszeichnung von Lehrstühlen) mit den klassischen Fächern des Strafrechts kombiniert und bildet sich in einen juristisch geprägten Annex zurück. (S. 26.).
Die kriminologische Ausbildung (im Jurastudium) beschränkt sich auf höchstens 2 (zweistündige) Vorlesungen, die in der Regel in einen Schwerpunktbereich fallen, der auch Strafvollzugsrecht, Jugendstrafrecht und strafrechtliche Sanktionen umfasst. Dies reicht nicht einmal im Ansatz aus für eine Ausbildung in Methoden und Statistik, die eigentlich neben der Ausbildung in Theorie und Theorieentwicklung einen Ausbildungsschwerpunkt darstellen müssten. Kriminologische Ausbildung reduziert sich damit auf Veranstaltungen mit Einführungscharakter. (S.27).
  • Heinz Cornel: Der Aufbruch der Kriminologie mit der Gründung mehrerer kriminalsoziologischer Lehrstühle in den siebziger Jahren, verbunden mit der Hoffnung, die Kriminologie werde sich als eigenständige, wenn auch interdisziplinär verbundene Wissenschaft in Deutschland etablieren können, ist nicht nur beendet. Die Abwicklung zahlreicher kriminologischer Lehrstühle hat zugleich zu einer noch festeren Anbindung an die juristischen Fachbereiche geführt. Das stellt für die großen kriminologischen Lehrstühle insoweit kein Problem dar, als sie in interdisziplinären Teams sozialwissenschaftliche Kompetenz einbeziehen können. Viele andere können das nicht. Die Masterstudiengänge der Kriminologie bieten neue Chancen interdisziplinärer kriminologischer Ausbildung auf hohem Niveau. (S. 30 f.).
  • Frank Neubacher: Die Kriminologie ist eine vom Aussterben bedrohte Disziplin. Ihr Bestand wird meines Erachtens aber weniger durch „die Politik“ oder „die Gesellschaft“ gefährdet, sondern durch Juristische Fakultäten bzw. durch Universitätsleitungen, die den Spardruck abfedern wollen, indem sie sich von kriminologischen Lehrstühlen verabschieden. An zahlreichen Fakultäten gibt es entweder keinen Kriminologen bzw. keine Kriminologin mehr oder die Kriminologie wird von einem Strafrechtler(in) mitverwaltet. (S. 40).
  • Tobias Singelnstein: Aus meiner Perspektive ist die Lage der Kriminologie prekär. Insbesondere an den juristischen Fakultäten der Universitäten als einer zentralen Stätte kriminologischer Forschung und Lehre erlebt das Fach einen erheblichen Bedeutungsverlust und teilt dabei das Los der (anderen) Grundlagenfächer: Im Zuge der überall zu beobachtenden Einsparungen werden kriminologische Lehrstühle ganz gestrichen oder in strafrechtlichkriminologische Lehrstühle umgewandelt. (S. 43 f.).
Nachdem die Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle an sozialwissenschaftlichen Fakultäten inzwischen kaum noch anzutreffen ist, verliert diese Perspektive in der Kriminologie an Bedeutung. (S. 44).
  • Torsten Verrel: Insgesamt führen wir wohl eher ein Randdasein. Rückgang in der universitären Abbildung durch entsprechende Lehrstühle, gleichgebliebene Wahrnehmungsprobleme in Kriminalpolitik und Medien; aber gewisse Einflussmöglichkeiten durch sachlich vorgetragene Argumente statt ständiger Blindheits-/Abendlanduntergangsrethorik. Zunehmendes Problem der Doppelgleisigkeit juristischer Kriminologen, mangelnde Medienkompetenz. (S. 46).


Geschichte und Strömungen der Kriminologie

Die systematische Beschäftigung mit Kriminalität beginnt im 18. Jahrhundert im Rahmen der Aufklärung. Der Begriff Kriminologie kommt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Laut Hans-Dieter Schwind soll er von Paul Topinard stammen, nachweislich verwendet wurde er erstmals von Raffaele Garofalo als Titel seines 1885 veröffentlichten Werkes Criminologia.[1]

Die klassische Schule

Die sogenannte „klassische Schule“ begründet noch kein eigenständiges Fach Kriminologie. Die Thematisierung der Kriminalität erfolgt nicht aus der Sicht von Experten sondern aus der einzelner Universalgelehrter. Aus deren Sicht ist das Verbrechen eine allgegenwärtige Versuchung für alle Menschen. Der Frage, warum einige Menschen dem Verbrechen verfallen und andere nicht, wird nicht nachgegangen.[2]

Hauptvertreter und Begründer des „Klassischen Schule“ ist Cesare Beccaria. Der Mailänder veröffentlichte 1764 eine Schrift mit dem Titel Dei delitti e delle pene (deutsch: Von den Verbrechen und von den Strafen), die bals ins Französische und Deutsche übersetzt wurde und europaweit eine Debatte eine Debatte über Strafgesetzgebung und Kriminalpolitik entfachte. Beccarias Argumentation basiert auf der Annamhem der Aufklärung, dass alle Menschen gleich und frei seien. Für das Kriminalitätsverständnis folgt daraus, das im Prinzip jeder Mensch fähig ist, eine Straftat zu begehen und es keine individuellen Ursachen jenseits der freien Entscheidung dafür gibt. Damit werden mögliche täterorientierte Erklärungen der Delinquenz verworfen. Als Ursache von Kriminalität benennt Beccaria besonders eine unvernünftige Gesetzgebung, die die Zahl der mit Strafe berohten Handlungenvermehrt statt sie zu vermindern. Als weitere Ursachen nennt er eine korrupte Rechtsprechung, unzureichend geregelt Strafverfahren und die Begünstigung des Denunziatentums durch geheime Anklagen. Somit sind die Ursachen für Kriminalität im Kriminaljustizsystem selbst angelegt. Zudem prangert er in seiner Schrift die Nutzlosigkeit und Ungerechtigkeit der Todesstrafe und der Folter an.[3]

Laut Karl-Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein folgt die von Beccaria geprägte „Klassische Schule“ die Notwendigkeit einer rechtsstaatlichen Mäigung der Strafgewalt aus Nützlichkeitserwägungen. Es werde einem „ökonomischen Kalkül des Strafens“ gefolgt, das dessen Wirksamkeit und soziale Akzeptanz erhöhen soll. Es soll nicht mehr maßlos gesraft werden sondern gerade so viel, wie ausreciht um Delikte zu verhindern. Das sei die Grundlage für ein, sozialtechnisch bestimmtes, präventionsbezogenes und effizienzorientiertes Strafrecht.[2] Diese Entwicklungslininie wurde besonders vom Jermy Bentham im Rahmen des britischen Utilitarismus weiter verfolgt. Im Bemühen um höchste technologische Strafeffizienz schlug der das Panopticon vor, einen Gefängnisbau, der totale Überwachung ermöglicht.[2]

Als weitere Impulsgeber der „Klassischen Schule“ nennt Bernd-Dieter Meier, den En gländer Samuel Romilly, der die Abschaffung der Todesstrafe für Diebstahl und Bettelei durchsetzt, den englischen Gefängnisreformer John Howard und Paul Johann Anselm von Feuerbach, der sich ebenfalls für die Abschaffung der Todestrafe aussprach, die Abschaffung der Folter durchsetzte und unter dessen Einfluss in Bayern das erste moderne Strafgesetzbuch entstand.[4]

Die positivistische Schule

Cesare Lombroso
Alexandre Lacassagne
Émile Durkheim

Als eigenständiges Wissenschaftsgebiet entstand die Kriminologie im Rahmen des Positivismus im 19. Jahrhundert. Der ist durch die Annahme geprägt, dass die Betsimmungsgründe menschlichen Handelns nicht aus der Entscheidungsfreiheit ableitbar sind, sondern dass das menschlichen Handlen allgemeinen Gesetzen (Ursachen) folgt, die |erfahrungswissenschaftlich erkannt werden können. Um welche Ursachen es geht, ist in der poitivistischen Kriminologie des 19. und 20. Jahrhunderts umstritten. Es entstanden drei Hauptrichtungen, die italienische (kriminalanthropologische) Schule, die französische (kriminalsoziologische) Schule und die Marburger Schule, die kriminalanthropologische und kriminalsoziologische Ursachen verknüpft.

Die italienische (kriminalanthropologische) Schule

Hauptvertreter der kriminalanthropologische Schule war der italienische Medinziner Cesare Lombroso, er wird weithin als Begründer der Kriminologie angesehen. Obwohl seine frühen Thesen als vollständig widerlegt gelten, war er der erste, der seine theoretischen Aussagen auf Basis von umfangreichen Studien entwickelte und einen strikt erfahrungswissenschaftlichen Ansatz zugrunde legte.[5]

Lombroso glaubte festzustellen, dass sich Straftäter in vielen physischen und psychiscen Anomalien von anderen Menschen unterscheiden. Er deutete diese als Ausdruck des atavistischen, degenerierten Entwicklungsstandes der Verbrecher. Dieser Entwicklungszustand hindere sie, sich an die Regeln der zivilisierten Gesellschaft anzupassen. Diese empirischen Befunde wurden später nicht bestätigt. Sie litten zudem an der Einseitigkeit des Forschungsinteresses, sozialen Ursachen maß Lombroso in seinen frühen Arbeiten keine Bedeutung zu. Erst später räumte er ein, dass nur etwa ein Drittel der Straftäter „geborene Verbrecher“ seien und in den übrigen Fällen soziale Faktoren wirkten. Auch Enrico Ferri, der zunächst Lombrosos Ausgangsthese teilte, setzte sich später für die Berücksichtigung sozialer Faktoren ein. Raffaele Garofalo, der der Kriminologie ihren Namen gab, vertrat die These, derjenige, der das „natürliche Verbrechen“ begehe, ein spezieller anthropologischer Typ sei, der an einem Mangel an uneigennützigem Empfindngvermögen leide.[5]

Als „natürliche Verbrechen“ definierte Garofalo nur Handlungen, die elementaren menschlichen Regungen zuwiderlaufen. Sie sind die eigentlichen Verbrechen und damit der Gegenstand der Kriminologie. Sie bilden den eigentlichen Bereich des Verbrechens, nur sie seien Gegenstand der Kriminologie.[6]

Die französische (kriminalsoziologische) Schule

Von der französischen Schule der Kriminologie wurde der kriminalanthropologische Ansatz abgelehnt und die gesellschaftlichen Entstehungsbedingugen von Kriminalität in den Mittelpunkt gestellt. Wichtige Impulse für diese Sichtweise kamen von den in vielen europäischen Ländern entstehenden kriminalstatistichen Datensammlungen. Pioniere der Kriminalstatistik waren André-Michel Guerry und Adolphe Quetelet, sie nannten ihre Forschungsdisziplin Moralstatistik.[7]

Führenden Theoretiker der französischen Schule waren Alexandre Lacassagne und Gabriel Tarde. Lacassagne vertrat die These, Nährboden der Kriminalität sei das Milieu. Von ihm stammt der Satz: „Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient.“ [7] Tarde sah die Hauptursache von Kriminalität in der Nachahmg und pstulierte, dass ein Verbrecher nur das nachahmen könne, was andere ihm vorgemacht hätten. Daraus folgerte er: „Jedermann ist schuldig mit Ausnahme des Kriminellen.“[7]

Laut Laut Kunz/Singelnstein formulierten diese frühen Studien eher Programmansätze als prüfbare Annahmen. Sie verfolgten keine spezifisch-krminalpräventiven Ziele, sondern wollten private karitative Bemühungen von Abstinenzverbänden und Besserungsverenen sowie die staatliche Benachteiligtenhilfe fördern.[8]

Eine besondere Rolle hat Émile Durkheim, der Ende des 19. Jahrhunderts die Kriminalsoziologie begründete. Im Gegensatz zu den positivistischen Kriminologen fragte er nicht nach den Ursachen des Verbrechens als in dividuellem Varhalten. Er betrachtete die Funktion des Verbrechens für die Gesellschaft und die Umstände, die die Entwicklung gesellschafticher Kriminalitätsraten beeinflusten. Für ihn war das Verbrechen keine zu bekämpfenden soziapathologische Erscheinung, sondern ein normales Element der moderen Industriegesellschaft, dass sich aus der Sozialstruktur erklärte.[7] Eine normale und notwendige Erscheinung sei das Verbrechen für jede Gesellschaft, so erläutert Durkheim in seinem 1895 veröffentlichtem Werk Die Regeln der soziologischen Methode (Les règles de la méthode sociologique), weil es keine Gesellschaft gebe, in der keine Kriminalität exisitiere. Normal sei Kriminalität, weil es immer Menschen gebe, die Normen verletzten und strafbare Handlungen begingen. Notwendig sei es, weil es zur Stärkung und Weiterentwicklung der kollektiven Normentwicklung beitrage.[9]

Der Umstand, dass es in jeder Gesellschaft Verbrechen gibt, ist für Durkheim nicht erklärungsbedürftig. Erhebliche Veränderungen des Kriminalitätsaufkommens müssten jedoch analysiert werden. Eine Gesellschaft gerät in den Zustand der Anomie, wenn es durch Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge, etwa durch Modernisierungsprozesse, zum Zusammenbruch der rechtlichen und sozialen Normen kommt. Durkheim entwickelte seine Überlegungen zur Anomie 1897 in seiner Schrift über den Selbstmord (Le suicide). Von späteren Theoretikern, insbesondere der nordamerikanischen Kriminologie und dort Robert K. Merton wurde seine Überlegungen auch auf die Erklärung des Verbrechens übertragen.[7]

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Nordamerikanische Kriminologie

In den USA entwickelte sich die Kriminologie seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer vom Strafrecht institutionell unabhängigegn sozialwissenschaftlichen Disziplin. 1909 wurde in Chicago das American Institute of Criminal Law an Criminology gegründet, womit eine intensive, praxisnahe Forschungstätigkeit einsetzte. Die Chicagoer Schule der Soziologie untersuchte kriminalitätsfördernde gesellschaftliche Einflüsse. Als bestimmend für die Konzentration von Kriminalität in benachteiligten Kreisen wurden soziale Ungeleichheit und soziale Desorganistaion identifiziert. In der Nachfolge der Chicagoer Schule entstanden kriminologische Lern- und Subkulturtheorien sowie Theorien des Kulturkonfliks..[10]

Einen engen Bezug zu den krimnalsoziologischen Ansätzen Durkheims hat die von Robert K. Merton 1939 präsentierte Anomietheorie.[11]

Kriminologie in Deutschland

In Deutschland fanden die Pionierwerke der Kriminalsoziologie bei Zeitgenossen kaum Beachtung, die Kriminalanthropologie Lomborosos war dagegen einflussreich.[12]

Die Marburger Schule 
Franz von Liszt

Vereinigungstheorie

  1. Hans-Dieter Schwind: Kriminologie und Kriminalpolitik. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. 23. Auflage, Kriminalistik-Verlag, Heidelberg 2016, ISBN=978-3-7832-0047-8. S. 99.
  2. a b c Karl-Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein: Kriminologie. Eine Grundlegung. 7. Auflage, Haupt Verlag, Bern 2016, ISBN=978-3-8252-4683-9, S. 37.
  3. Karl-Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein: Kriminologie. Eine Grundlegung. 7. Auflage, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 35 f.
  4. Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 5. Auflage, C.H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69580-3, S. 14.
  5. a b Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 5. Auflage, C.H. Beck, S. 17.
  6. Michael Bock: Kriminologie. 5. Auflage, Vahlen, München 2019, ISBN ISBN=978-3-8006-5916-6, S. 21.
  7. a b c d e Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 5. Auflage, C.H. Beck, S. 18.
  8. Karl-Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein: Kriminologie. Eine Grundlegung. 7. Auflage, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 38.
  9. Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 5. Auflage, C.H. Beck, S. 19.
  10. Karl-Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein: Kriminologie. Eine Grundlegung. 7. Auflage, Haupt Verlag, Bern 2016, S. 34 f.
  11. Bernd-Dieter Meier: Kriminologie. 5. Auflage, C.H. Beck, München 2016, S. 21.
  12. Karl-Ludwig Kunz: Historische Grundlagen der Kriminologie in Deutschland und ihre Entwicklung zu einer selbstständigen wissenschaftlichen Disziplin. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Band 96, Heft 2-3, 2013, S. 81–114 (Online-Version), hier S. 84.