Benutzer:Kenny McFly/Thule-Kultur

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Ein Inuk erklärt Thule-Siedlungsrelikte (Chesterfield Inlet)

In Alaska, der Urheimat der Saqqaq-Kultur der Prä-Dorset-Menschen, war die Entwicklung in den 3.000 Jahren zwischen 2000 v. Chr. und 1000 n. Chr. deutlich weiter fortgeschritten als die der Dorset-Menschen, zumal dort ein weniger extremes Klima als im Nordosten des amerikanischen Kontinents herrschte. Vermutlich gab es auch einen kulturellen Austausch mit paleosibirischen Völkern jenseits der Beringsee, die ihrerseits von den Fortschritten in Ostasien nicht unberührt blieben.

Technische und kulturelle Weiterentwicklung

Bei den verschiedenen Völkern an der amerikanischen Nordwestküste wurden ganz neue Techniken für die Jagd und den Fischfang entwickelt – Erfindungen, die auch den Lebensstil der dort verbliebenen Verwandten der Dorset-Eskimos wesentlich beeinflussten und grundlegend veränderten. Hautbespannte Boote wie der Einmann-Kajak (Inuktitut: Qajaq) und der bis zu 20 Personen aufnehmende Umiaq (plur. Umiat) – ein großes, meist von Frauen benutztes Boot –, neuartige Lanzen und mit Gewichten und Schwimmern ausgestattete Harpunen eröffneten erfolgreichere Jagdmöglichkeiten, vor allem auch auf Wale, die wertvolle Nahrung (unter anderem an Vitamin C reiche Walhaut mit Schwarte, Maktaaq) und ein erweitertes Rohstoffspektrum (Walknochen und Häute als Baumaterialien, Walöl als Heizmittel) lieferten. Hundeschlitten (Inuktitut: Qamutik, plur. Qamutinik) begünstigten das Reisen und den Transport in den Wintermonaten. Verbesserte Wohnformen in winterfesten Behausungen mit Eingangstunneln als Kältefalle förderten das Entstehen neuartigen sozialen Zusammenlebens und setzten rituelle, religiöse und künstlerische Impulse.

Wanderungswelle der „Neo-Eskimos“

Eine Klimaerwärmung im amerikanischen Norden in den Jahrhunderten um 1000 n. Chr. (wie auch in Europa, wo sich ein „mittelalterliches Wärmeoptimum“ ausbildete) veränderte die Lebensbedingungen in der Arktis und zog wahrscheinlich eine Einwanderung mit starkem Bevölkerungswachstum nach sich. Vermutlich war diese Entwicklung verbunden mit dem Weiterziehen der Jagdbeute – zum Beispiel Moschusochsen und Karibus, die mit Pfeil und Bogen bejagt wurden, aber in den höheren Breitengraden auch Grönlandwale, Narwale und Robben. Ebenso war wohl die Suche nach Eisen aus Meteoriten ausschlaggebend für die Wanderung von „Neo-Eskimos“ aus Alaska in den Norden Kanadas und nach Grönland. In der 2. Expansion drangen einige Gruppen auch in Richtung Süden vor und ließen sich an den Küsten der Hudson Bay nieder.

Wie aus Inuit-Mythen hervorgeht, wurden die in jenen Gebieten ansässigen Paläo-Menschen des Dorset-Kulturkreises von den technisch überlegenen Neo-Eskimos verdrängt oder sie starben durch unbekannte Umstände aus. Gegen 1000 erlosch somit die Dorset-Kultur innerhalb kurzer Zeit weitestgehend fast in der ganzen Arktis. Nur wenige Jahrhunderte länger hielt sie sich noch im Norden Labradors und in der Ungava-Region (bis etwa 1300); die an der Südküste der Southampton-Insel und den beiden ihr vorgelagerten Inseln Coats Island und Walrus Island bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sehr isoliert lebenden Sallirmiut dürften wohl die letzten Nachfahren der Dorset-Menschen gewesen sein.

Die zweite Welle sind die direkten Vorfahren der heutigen Inuit. Ihre nachweislich rund um die Beringstraße entstandene, von etwa 1000 bis 1800 währende Kultur erhielt die Bezeichnung Thule-Kultur, nachdem entsprechende Siedlungsrelikte erstmals in der Gegend um Thule im nordwestlichen Grönland entdeckt wurden.

Eine Periode wärmeren Klimas zwischen 1000 und 1200 ermöglichte den Thule-Menschen lange Zeit das Beibehalten der aus ihrer Urheimat rund um die Beringstraße tradierten Lebens- und Verhaltensmuster – die Land- und Meerestierjagd und den Aufenthalt in dauerhaften Wintersiedlungen. Sie waren ausgezeichnete Waljäger, die außer dem kleineren Narwal und Weißwal auch den riesigen Grönlandwal zu erlegen wussten. Von diesen gewaltigen Meeressäugern gewannen die Thule-Eskimos Nahrung, Heiz- und Beleuchtungsöl und Ausgangsmaterialien für die Konstruktion von Booten, Häusern und Werkzeugen. Auch waren sie in der Lage, nicht zuletzt unter Nutzung ihrer Hundeschlitten, quer über Nordkanada mit seltenen Rohstoffen wie Eisen, Kupfer und Serpentin eine Art Handel zu treiben.

Thule-Behausungen

Qarmaq (mit rekonstruiertem Walknochengewölbe) nahe Resolute

Für den Bau eines typischen Thule-Hauses, eines „Qarmaq“, wurden große Rippenknochen von Walen als Rahmen zwischen Felsbrocken in den Tundraboden gesteckt und der Sockel mit Grasstücken bedeckt. Dann überspannte man den oberen Teil mit Tierhäuten und dichtete mit Gras- und Erdsoden ab; außen aufgebrachter Schnee verlieh noch zusätzliche Wärmedämmung. Als zusätzliche Behausung und als Reiseunterkunft dienten im Winter Iglus, im Sommer Zelte aus Tierhäuten.

Künstlerische Aktivitäten

Waren die künstlerischen Aktivitäten der Dorset-Menschen nahezu ausschließlich durch rituelle oder mythische Bräuche geprägt, so sind solche Impulse in der Thule-Kunst kaum nachweisbar. Die vielfältigen Funde von Gebrauchsgegenständen in ihren vom Eis konservierten Winterhäusern zeigen vor allem dekorative Elemente. In verhältnismäßig geringer Zahl entstanden auch kleine figürliche Schnitzarbeiten in Form von weiblichen Gestalten, Walen und Wasservögeln, zuweilen mit Frauenköpfen und -körpern.

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Inunnguaq, „wie eine menschliche Gestalt“ (Inuksuk)

Vor allem bei der künstlerischen Gestaltung von Bären lässt sich ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Paläo- und Neo-Eskimos erkennen. In der Dorset-Kunst finden sich Bären ebenso in realistischer wie in stilisierter Darstellung, die heute als Amulette und Wiedergaben von geisterhaften Helfern gegen äußere Bedrohung interpretiert werden. Die Thule-Kunst dagegen beschränkte sich auf die Darstellung von Bärenköpfen zum Anbringen an Harpunenstricken; ob dies dekorativen oder funktionalen Zwecken diente, ist noch nicht geklärt (vermutlich gilt beides). Eckzähne von Bären dienten den Thule-Menschen als Amulette, Schmuck oder auch nur als Jagdtrophäen. Allgemein lässt sich aus den Zeugnissen der Thule-Kultur schließen, dass diese Menschen besser als ihre Vorgänger mit den Einflüssen ihres natürlichen Umfelds zurechtkamen und sogar Zeit und Muße fanden, Gegenstände des persönlichen Lebens künstlerisch zu verzieren. Für diese Art von Kunst war offensichtlich kein sozioökonomischer, die Kultur fördernder Druck notwendig.

Erwähnt seien auch die vielgestaltigen, in großer Zahl noch aus der Thule-Zeit stammenden Inuksuit, Landmarken „wie ein Mensch“, die zum Teil eine beeindruckende künstlerische Ausformung erfuhren. Derartige Steinmännchen sind auch aus der inneren Mongolei, Tibet und Sibirien bekannt und dienten Vorbeiziehenden nicht nur als Wegmarken, sondern gelegentlich auch als Kultobjekte zur Opferung verbunden mit dem Wunsch um erfolgreiche Reisen oder Jagden.

Übergangsphase (ab 1300)

Zu Beginn des 14. Jahrhunderts kühlte sich das Klima allmählich wieder ab, was sich vor allem auf dem kanadischen Archipel und entlang der mittleren Polarmeerküste des Festlands auswirkte und auch die Aufgabe der Wikingersiedlungen in Grönland verursachte. In der Zeit zwischen 1550 und 1850, der so genannten Kleinen Eiszeit, herrschten im Norden Amerikas (wie auch in Europa) wesentlich niedrigere Temperaturen als heute – mit einem kurzzeitigen Wärmehoch um 1800. Der Einfluss dieses Temperaturrückgangs auf die von den Jagdbedingungen abhängigen Lebensverhältnisse der Thule-Menschen war erheblich. Ganze Gebiete der Hohen Arktis wurden entvölkert, teils durch Abwanderung, teils aber auch infolge des Aussterbens ganzer Bevölkerungsgruppen durch Verhungern. Nur in klimatisch günstigeren Gebieten der südlichen Arktis – so in Südwestgrönland (wo sich die Thule-Kultur durch neue Siedlungs- und Sozialstrukturen zur „Inugsuk-Kultur“ weiterentwickelte), auf der südlichen Baffin-Insel und in Labrador – ließ sich die traditionelle Lebensweise aufrechterhalten.

In Grönland trat jedoch mit dem Auftauchen der ersten Walfangschiffe zu Anfang des 17. Jahrhunderts schlagartig eine Änderung ein: In den folgenden 150 Jahren kreuzten jährlich bis zu 10.000 Walfänger vor den grönländischen Küsten und übten auf die Kultur der Thule-Menschen wesentlichen Einfluss aus. Im Gefolge der neu entstehenden Handelsbeziehungen intensivierten sich auch die zwischenmenschlichen Beziehungen, und so hatten schon nach wenigen Generationen die meisten Inuit keine rein indigene Abstammung mehr.