Benutzer:Majannaise/Soziale-Orte-Konzept

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Das Soziale-Orte-Konzept wurde von den beiden Soziologen Claudia Neu und Berthold Vogel in Zusammenarbeit mit dem Rechtswissenschaftler Jens Kersten entwickelt. Es ist im Rahmen der deutschen Raumordnungspolitik als Ergänzung zum Zentrale-Orte-Konzept gedacht. Dabei stellt es den sozialen Zusammenhalt verstärkt in den Fokus politischen Handelns, indem es die gesellschaftliche Bedeutung sogenannter "Sozialer Orte" betont.

Das Konzept wird besonders in der Debatte um die Entwicklung ländlicher Räume in Deutschland rezipiert, aber auch im Rahmen der temporären Schließungen von Einrichtungen während der Covid-19-Pandemie 2020.

Die Ausarbeitung des Konzepts erfolgte größtenteils im Rahmen von zwei gemeinsamen Forschungsprojekten des Lehrstuhls für Soziologie Ländlicher Räume an der Georg-August-Universität Göttingen und des Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI). Die Forschungsprojekte wurden durch die Friedrich-Ebert-Stiftung und das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und begleitet.

Soziale Orte

Die Bezeichnung "Soziale Orte" ist inhaltlich an das Konzept der "Dritten Orte" von Ray Oldenburg angelehnt.

Soziale Orte sind demnach gemeinschaftlich nutzbare Räume mit niedriger Zugangsschwelle. Dort können Menschen geplant oder spontan zusammenkommen. Sie sind Kommunikationsorte, an denen man sich über Milieugrenzen hinweg kennenlernen und soziale Bindungen verstärken sowie Konflikte aushandeln kann. Dadurch festigen sie die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.[1]

Im Rahmen von zwei gemeinsamen Forschungsprojekten in den Landkreisen Saalfeld-Rudolstadt (Thüringen) und Waldeck-Frankenberg (Hessen) wurden mehrere Beispiele von Sozialen Orten untersucht, begleitet und beschrieben. Dabei wurden ganz unterschiedliche Beispiele identifiziert, die den Kriterien eines Sozialen Ortes entsprechen.[1][2] So waren Soziale Orte beispielsweise nicht zwangsläufig auf einen geografischen Ort bezogen.

Zur vielfältigen Bedeutung und Wirkung Sozialer Orte schreiben die Autoren:

"Sie zeigen, wie eine engagierte Bürgerschaft mit unterstützender Verwaltung und Privatwirtschaft ihre eigenen Sozialräume gestaltet. Hier wurden nicht nur neue Kommunikationsorte geschaffen, die als öffentliche Räume fungieren und Menschen miteinander verbinden, es findet vielmehr ein strukturiertes und damit jederzeit aktivierbares Zusammenspiel von Kommunen, lokalen Wirtschaftsunternehmen und Ehrenamt statt – ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess, der flexibel Antworten auf konkrete Herausforderungen finden lässt. Es ist nicht nur die räumliche Nähe, die Zusammenhalt stiftet, sondern auch das gemeinsame Anpacken eines Problems, die niederschwellige Beteiligung vieler und das Vermitteln von Selbstwirksamkeit."[3]

Bedingungsfaktoren

Die drei Akteursgruppen Sozialer Orte und ihre Aufgaben zur Insitutionalisierung und Verstetigung

Soziale Orte entstehen nach Beobachtung der Autoren nicht von selbst: Fünf Bedingungen sind für die Institutionalisierung von Sozialen Orte elementar.[4]

  1. Öffentliche Infrastrukturen und Institutionen
  2. Anerkennung Sozialer Orte als Prozess, die nachhaltig nach dem Vorsorgeprinzip wirken
  3. Überdurchschnittlich engagierte und innovationsfähige Akteure für die Initiierung und Stabilisierung Sozialer Orte, die über eine entsprechende finanzielle Unterstützung, Wertschätzung und die nötigen Freiräume verfügen
  4. Offenheit in der Verwaltung für partizipative Prozesse und innovative Kooperationen
  5. Überregionale Aufmerksamkeit und Einbindung

Als gefährdend für Soziale Orte stellt sich der demografische Wandel, unzureichende politische Anerkennung und Förderung von zivilgesellschaftlichem Engagement und eine De-Infrastrukturalisierung der ländlichen Räume dar. Daraus folgt, dass Soziale Orte im ländlichen Raum verstärkt politischer Förderung bedürfen.[5]

Soziale Orte in der Covid-19 Pandemie

Unter den "Social-Distancing" Bedingungen der Covid-19 Pandemie 2020 wurde die Bedeutung sozialer Orte öffentlich vermehrt thematisiert.[6][7][8] Zugleich stehen Soziale Orte in der Pandemie vor besonderen Herausforderungen:

Einerseits ergaben Befragungen im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, dass die Netzwerke, die durch Soziale Orte bestanden, auch während der Kontaktbeschränkungen fortwährten. Dadurch könnten Nebenwirkungen der Kontaktbeschränkungen, wie Vereinsamung, ausgeglichen werden. Andererseits kämpften auch Soziale Orte um ihr Überleben.[9]

Das Konzept und seine Entstehung

Das Soziale-Orte-Konzept wird von seinen Autoren als Beitrag zur deutschen Raumordnungspolitik verstanden. Zentrales Anliegen und Anknüpfungspunkt ist dabei das bundesrepublikanische Leitmotiv der "gleichwertigen Lebensverhältnisse". Das Zentrale-Orte-Konzept als zentrales Instrument zur Sicherstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse wird für seine "Philosophie des Minimums" kritisiert und vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Desintegration und der Entwicklung regionaler Disparitäten als ergänzungsbedürftig empfunden.[5] Dabei wird insbesondere der Rückgang öffentlicher Infrastruktur in ländlichen Regionen kritisiert und für eine Krise des gesellschaftlichen Zusammenhalts mitverantwortlich gemacht.[10][3] Demgegenüber wird auf die Bedeutung von "Sozialen Orten" für die Entstehung gesellschaftlichen Zusammenhalts hingewiesen, die allerdings auf das Vorhandensein öffentlicher Infrastruktur angewiesen sind.[11]

Vor diesem Hintergrund fordern die Autoren ein Umdenken in der staatlichen Daseinsvorsorge. Unter dem Leitwort einer "Politik des Zusammenhalts" fordern sie eine "Neuinterpretation des Gleichwertigkeitsgrundsatzes", die den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den Blick nimmt und eine flächendeckende Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur für Vorsorge und Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger anstrebt.[5] Dabei stellen sie ganz konkrete Handlungsempfehlungen für Gesetzgebung und Raumplanung vor.[1]

Verhältnis zum Zentrale-Orte-Konzept

Schaubild zum Zusammenhang von Zentrale-Orte-Konzept und Soziale-Orte-Konzept
Einordnung von drei Orten (a/b/c) nach dem Zentrale-Orte-Konzept, ergänzt durch das Soziale-Orte-Konzept

Das Soziale-Orte-Konzept (SOK) setzt sich zwar kritisch mit dem Zentrale-Orte-Konzept (ZOK) auseinander, versteht sich aber als Ergänzung zu diesem für die Gestaltung der Raumordnungspolitik in Deutschland. Während der Fokus des ZOK auf der Versorgung der Bevölkerung liegt und Ortschaften nach ihrer Versorgungsfunktion für ihre Umgebung bewertet, soll das SOK den sozialen und territorialen Zusammenhalt in den Blick nehmen. Dabei schlägt das SOK vor, Gemeinden und Ortsteile in einem dynamischen System hinsichtlich dieses Zusammenhalts zu bewerten und in Gemeinden mit

  1. riskantem Zusammenhalt,
  2. resilientem Zusammenhalt und
  3. robustem Zusammenhalt

einzuteilen. Diese Einteilung orientiert sich an vorhandenen und entstehenden Sozialen Orten und der Vernetzung innerhalb der Gemeinde aber auch über die Ortsgrenzen hinaus. Auch die Kooperation zwischen den Sektoren Staat, Markt sowie Zivilgesellschaft und die Erfüllung der Bedingungsfaktoren für Soziale Orte sollen Berücksichtigung finden.[12][1] Auf Grundlage dieser Einordnung sollen unter Beteiligung von Verwaltung, Unternehmen und Zivilgesellschaft eine gezielte Förderung und flächendeckend Unterstützungsstrukturen und Freiräume für Soziale Orte ermöglicht und umgesetzt werden.[1]

Rezeption

Die "Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Nachhaltige Landentwicklung" (ARGE Landentwicklung) der deutschen Agrarministerkonferenz forderte in ihrem Strategiepapier soziale Dorfentwicklung von 2019 "künftig stärker als bisher die Entwicklung der Dörfer und Gemeinden als soziale Orte in den Mittelpunkt regionaler Strukturpolitik zu stellen." "Die Frage nach dem „Wie“ des Zusammenlebens in Städten, Dörfern und Gemeinden und nach dem Stellenwert der Förderung gleichwertiger Lebensverhältnisse fordert Antworten einer Politik des sozialen Zusammenhalts."[13]

Die Fraktionsvorsitzende der Bündnis 90/Die Grünen Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen Josefine Paul äußerte sich im Januar 2020 im Blog der Fraktion zur Bedeutung von Sportstätten als Soziale Orte: "Denn Sportstätten sind mehr als Orte des Sporttreibens. Sie sind eben auch soziale Orte, an den Menschen zusammenkommen. Solche Orte sind wichtig für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Sind sie marode, bröckelt auch etwas in der Gesellschaft. Sie sind Orte gelebter und erlebter Demokratie und eines funktionierenden Gemeinwesens."[14]

Die sächsische Landesregierung hat im Januar 2020 ihr sogenanntes Sofortprogramm „Start 2020“ [15]mit einem Gesamtvolumen von 220 Mio. €, von denen über 3 Mio. € für ein Modellprojekt "Soziale Orte" vorgesehen sind. Dazu heißt es: "Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht in einem intakten, solidarischen Gemeinwesen. Wir ermöglichen mit einem Modellprojekt "Soziale Orte" die Entstehung neuer Infrastrukturen, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern."[16]

Monika Grütters verwies als Kulturstaatsministerin vor dem Hintergrund der Covid-19 Pandemie im Sommer 2020 auf die hohe Bedeutung von Kulturorten als Soziale Orte: In Museen, Theater und Konzerthäuser würden Menschen zusammen kommen und sich austauschen, was fundamental für die Demokratie sei.[17]

Weblinks

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b c d e Das Soziale-Orte-Konzept. Neue Infrastrukturen für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Reederei, Dresden (uni-goettingen.de [PDF]).
  2. Soziale Orte. Ein Konzept zur Stärkung lokalen Zusammenhalts. In: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): WISO Diskurs. Nr. 05/2020 (fes.de [PDF]).
  3. a b Ljubica Nikolic: Du schon wieder? Das Soziale-Orte-Konzept für mehr soziale Redundanz und gesellschaftlichen Zusammenhalt. In: Sozialer Fortschritt. Band 68 (2019). Duncker & Humblot, Berlin, S. 629–648, doi:10.3790/sfo.68.8-9.629.
  4. Claudia Neu, Ljubica Nikolic: Kommunikation, Kultur und „Klüngel“ – Was Soziale Orte (nicht nur) im ländlichen Raum leisten können. In: Hessischer Städte- und Gemeindebund (Hrsg.), Hessische Städte- und Gemeinde-Zeitung, 70. Jahrgang, Februar 2020.
  5. a b c Jens Kersten, Claudia Neu, Berthold Vogel: Gleichwertige Lebensverhältnisse – Für eine Politik des Zusammenhalts. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ). Nr. 46/2019, 11. November 2019, ISSN 0479-611X, S. 4–11 (bpb.de).
  6. Berthold Vogel: Covid-19 attackiert den sozialen Zusammenhalt. In: CampusPost. 15. Mai 2020, abgerufen am 7. Dezember 2020.
  7. epd: Diakonie-Präsident sieht in Corona-Krise "Brennglas" auf Probleme. In: evangelisch.de. 5. November 2020, abgerufen am 7. Dezember 2020.
  8. Claudia Neu: Soziale Orte, dynamische Prozesse. In: TRAFO. Kulturstiftung des Bundes, 2020, abgerufen am 7. Dezember 2020.
  9. Sarah Herbst, Rüdiger Mautz, Helena Reingen-Eifler, Maike Simmank, Berthold Vogel: Lernen für die neue ‚Normalität‘? Corona auf dem Land II: Perspektiven aus Saalfeld-Rudolstadt. Soziologisches Forschungsinstitut (SOFI), Göttingen 2020.
  10. Berthold Vogel: Schrumpfende Regionen: ein ostdeutsches Schicksal? Bundeszentrale für politische Bildung, 15. Oktober 2020, abgerufen am 3. Dezember 2020.
  11. Jens Kersten, Claudia Neu, Berthold Vogel: Politik des Zusammenhalts. Über Demokratie und Bürokratie. Hamburger Edition, Hamburg 2019, ISBN 978-3-86854-328-5, S. 135–142.
  12. Jens Kersten, Claudia Neu, Berthold Vogel: Das Soziale-Orte-Konzept. Ein Beitrag zur Politik des sozialen Zusammenhalts. In: Umwelt und Planungsrecht (UPR). Nr. 2/2017, ISSN 0721-7390, S. 50–56 (uni-goettingen.de [PDF]).
  13. Strategiepapier Soziale Dorfentwicklung mit Best-Practice-Beispielen aus den Bundesländern. Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Nachhaltige Landentwicklung, 2019, abgerufen am 4. Dezember 2020.
  14. Josefine Paul: Attraktive Sportstätten für lebendige Städte und Gemeinden. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag Nordrhein-Westfalen, 16. Januar 2020, abgerufen am 4. Dezember 2020.
  15. Kabinett beschließt Sofortprogramm »Start 2020« für den Freistaat. Abgerufen am 4. Dezember 2020.
  16. CDU-Sachsen: Sofortprogramm „Start 2020“. 25. Januar 2020, abgerufen am 4. Dezember 2020.
  17. dpa: Grütters sieht in Krise "neue Wertschätzung für die Kultur". In: Süddeutsche Zeitung. Abgerufen am 14. Juli 2020.