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Spatial Citizenship beschreibt einen interdisziplinären didaktischen Ansatz an der Schnittstelle zwischen politischer und geographischer Bildung. Ziel ist die aktive und erfolgreiche Partizipation eines Subjekts an gesellschaftlichen und raumbezogenen Gestaltungs- und Planungsprozessen mittels einer reflexiven – sowohl rezeptiv als auch produktiv zu verstehenden – Nutzung von (analogen und digitalen) Geomedien (z.B. Karten, virtuelle Globen und GIS). Spatial Citizenship stellt auf diese Weise die alltägliche Nutzung von Geomedien durch Laien in den Mittelpunkt.

Im Sinne einer Abkehr von einer rein technisch geprägten Nutzung von Geoinformation zielt der Ansatz auf die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten ab, die es ermöglichen mittels Geomedien selbstständig, mündig und verantwortungsvoll zu handeln. Dies bedeutet, existierende Perspektiven auf Handlungen in einem bestimmten Raum (z.B. soziale Regeln und Normen, Raumplanung) zu hinterfragen und alternative räumliche Deutungen zu produzieren, zu kommunizieren und zu verhandeln. Somit bezieht sich Spatial Citizenship auf emanzipatorische Formen der politischen Bildung bzw. citizenship education sowie auf mündige Raumaneignung, da neben dem Agieren in vorgefundenen gesellschaftlichen Rahmungen das Hinterfragen gesellschaftlicher Regeln und deren Neugestaltung primär im Zentrum stehen.

Eine besondere Bedeutung erlangt der Spatial Citizenship-Ansatz durch die Ausweitung bzw. Integration der Geomediennutzung in Alltag und Wissenschaft, insbesondere im Kontext des Geoweb sowie des Web 2.0 und der Zunahme ubiquitär verfügbarer mobiler Technologien. Für den Begriff Spatial Citizenship gibt es in der Literatur keine passende deutschsprachige Entsprechung.[1]

Bezugspunkte zur politischen Bildung

Spatial Citizenship muss von Ansätzen traditioneller politischer Bildung in verschiedenerlei Hinsicht abgegrenzt werden.

  • Der Ansatz berücksichtigt multiple institutionelle und lokale Rahmungen und unterscheidet sich von traditioneller politischer Bildung durch den Bezug auf vielschichtige und sich überlappende Räume, welche durch soziale Handlungen konstruiert werden. Damit werden beispielsweise Nationalstaaten nicht als vorab definierte Entitäten aufgefasst, sondern als gesellschaftliche Konstruktionen. In dem Verständnis der Konstruiertheit gesellschaftlicher Regeln beruft sich der Ansatz als kleinsten gemeinsamen Nenner auf grundlegende Menschenrechte sowie das Prinzip demokratischer Aushandlung, um eine Grundlage für Kompromisse zu schaffen. Darüber hinaus basiert Spatial Citizenship auf dem Konzept des activist citizenship (im Gegensatz zu dem des active citizenship), welches von Mitchell und Elwood hervorgebracht wurde und die Legitimität unhinterfragter sozialer Regeln diskutiert, die Partizipation einschränken.[2] Zudem bezieht sich Spatial Citizenship auf ein offenes und flexibles Konzept sozialer Institutionen. Hierbei ist die temporäre, fluide Mitgliedschaft in räumlich nicht gebundenen Interessensgruppen maßgeblicher als die Verwurzelung in einem spezifischen geographischen Kontext. Spatial Citizenship bezieht sich damit u.a. auf den Ansatz von Stephens und Squire, der besagt, dass durch neue Informationstechnologien soziale Aushandlungsprozesse zunehmend deutlich unabhängiger von festen Gemeinschaften stattfinden.[3]
  • Der Spatial Citizenship-Ansatz verweist insbesondere auf Web Communities sowie geo-soziale Netzwerke. Ein dezidierter Bezugspunkt ist das Konzept des acutalized citizen (Bennett et al. 2009), welcher, im Gegensatz zum vorrangegangenen dutiful citizen, Web2.0 und cloud-basierte Anwendungen mündig nutzen kann, um so unterschiedliche und potentiell widersprüchliche Informationsquellen zu vergleichen und eigene alternative Ideen mittels kollaborativer Webtools zu kommunizieren.[4]
  • Spatial Citizenship ergänzt schlussendlich die politische Bildung um eine raumbezogene Ebene. Diese reflektiert detailliert die alltägliche Produktion sozialer Regeln, welche die Handlungen des Subjekts im sozialen Raum beeinflussen. Dazu werden multiple Raumkonzepte einbezogen, die das bisher vorherrschende und in Geomedien repräsentierte Konzept eines absoluten (euklidischen) Raumverständnisses erweitern.

Bezüge zur Sozialgeographie: Raumaneignung

Der domänenspezifische geographische Bezug des Spatial Citizenship-Ansatzes liegt vor allem in der Idee einer mündigen Raumaneignung, die sich aus der handlungstheoretischen Sozialgeographie und der Neuen Kulturgeographie ableitet. In der handlungstheoretischen Sozialgeographie eignen sich nach Werlen (1995) letztlich alle Subjekte permanent Räume an, indem sie dem geographisch referenzierten Physisch-Materiellen Bedeutungen zuweisen, um damit Räume für das eigene Handeln zu schaffen und vorzubereiten.[5] Hierbei wird Raum nicht (mehr) als Entität, d.h. absolut und manifest, verstanden, sondern als sozial konstruiert, d.h. relational, aufgefasst. Die Bedeutungszuweisung bzw. Raumaneignung erfolgt dabei in großem Maße unbewusst und folgt sozial akzeptierten und etablierten Kategorien und Diskursen. Die den Objekten zugewiesenen Bedeutungen determinieren die innerhalb dieser Deutung als möglich erachteten Handlungen.

So kann beispielsweise eine innerstädtische, asphaltierte Fläche eine doppelte Bedeutung aufweisen. Sie kann (für ein Subjekt) als Parkfläche und (für ein anderes Subjekt) als Spielfläche interpretiert werden, wobei beide Bedeutungen miteinander konkurrieren. Gewinnt nun eine Bedeutung durch spezifische Machtverhältnisse die Oberhand, verliert die andere an Einfluss und wird unter Umständen nicht mehr gesellschaftlich berücksichtigt. Die Vorherrschaft einer bestimmten Bedeutung kann durch Artefakte (z.B. Zeichen/Symbole an Gebäuden und in Geomedien) gestützt werden.

Mündige Raumaneignung wiederum besteht in der Analyse der eigenen sowie vorgefundenen Bedeutungszuweisungen, d.h. in einer Sensibilisierung für die Vielzahl von Bedeutungen, die durch etablierte Diskurse transportiert oder verschleiert werden sowie in der bewussten und folgebewussten Übernahme oder Umdeutung von Bedeutungen. Schlüssel für die mündige Raumaneignung sind deshalb die Dekonstruktion sozial produzierter Bedeutungen, wie auch die Fähigkeit eigene, möglicherweise gegensätzliche, Bedeutungen zu kommunizieren und diese mit anderen zu verhandeln.

Spatial Citizenship in der Geoinformationsgesellschaft

Geomedien sind für die Bedeutungszuschreibung bzw. Raumaneignung besonders relevant, da sie Lage, Information/Bedeutung und Visualisierung verbinden. Zusätzlich werden Geomedien im heutigen Alltag durch mobile computing in Verbindung mit Geoweb und Web2.0-Anwendungen immer allgegenwärtiger, also nahezu ubiquitär. Beispielsweise führen digitale Karten auf Smartphones (z.B. Navigations-Apps) ihre Nutzer bei ihren Alltagshandlungen, limitieren gleichzeitig aber auch ihre Handlungsoptionen durch die Einschränkung möglicher Bedeutungen. Folglich repräsentieren Geomedien in der Regel lediglich eine von vielen möglichen Bedeutungen. Spatial Citizenship versteht Geomedien allerdings als Instrument zur Reflexion und Kommunikation.

Dabei bezeichnet Reflexion über Geomedien das Wissen um die Konstruiertheit von Geomedien bzw. das Reflektieren über die Einschränkungen vorgegebener Bedeutungen, sowie ihre Dekonstruktion hinsichtlich der Intention. Beispielsweise kann nach den relevanten Aspekten gefragt werden, die für ein bestimmtes räumliches Problem oder eine bestimmte den Raum betreffende Entscheidung im betreffenden Geomedium berücksichtigt bzw. ausgeschlossen wurden. Spatial Citizenship greift somit auf Theorien der kritischen Kartographie u.a. nach Harley (1989) zurück.[6] Ferner beinhaltet Reflexion im Sinne von Selbstreflexion/Reflexivität nach MacEachren (1992) auch das eigene subjektive Denken, Hypothesenbilden und Handeln mit Geomedien sowie deren Konsequenzen zu hinterfragen.[7] Beide Betrachtungsweisen erlauben eine mündigere Raumaneignung mit Geomedien, wobei ein Bewusstsein und ein Einblick in den Konstruktionsprozess räumlicher Bedeutungszuschreibungen gewonnen wird.

Im Bereich der Kommunikation steht der Ausdruck eigener (und potentiell von vorherrschenden Diskursen abweichender) Bedeutungszuweisungen mittels Geomedien an Raum sowie die Kommunikation dieser über (Online-)Plattformen im Vordergrund. Durch die Verfügbarkeit nutzerfreundlicher Webmappingtools, innerhalb des Geoweb bzw. des Web2.0, können Nutzer und Anwender (sog. Prosumer oder Produtzer) ihre eigenen Geomedien schaffen und webweit teilen. Diese Geomedien sind, gemessen an ihrer Überzeugungskraft innerhalb der sozialen Kommunikation, konkurrenzfähig zu traditionellen und professionellen Geomedien, da sie eine sozial akzeptierte Gestaltung aufweisen. Diese technischen Funktionen ermöglichen die Aushandlung von Bedeutungszuweisungen mit anderen Akteuren. Dieser Aspekt bezieht sich auf das Konzept der Volunteered geographic information (VGI) und erweitert dieses um Subjektivität, Einfluss auf das alltägliche Handeln, soziale Machtverhältnisse, Wettbewerb und Aushandlung.

In diesem Zusammenhang muss Spatial Citizenship allerdings ebenfalls helfen ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Geoinformation auch unbeabsichtigt von Nutzern durch automatisches Sammeln von Daten auf den Plattformen des Geoweb produziert wird und hierbei vorrangig den Interessen der Anbieter der Plattformen dient. Eine unbeabsichtigte Produktion jener Nutzerdaten kann durch eine mündige Geomediennutzung reduziert werden.

Didaktik für Spatial Citizenship

Das Ziel einer Education for Spatial Citizenship bzw. einer Didaktik für Spatial Citizenship ist es, Lernende in die Lage zu versetzen, mündige Raumaneignung als Basis für mündiges Handeln im Raum durch reflexive Nutzung und aktive Produktion von Geomedien zu realisieren, statt räumliche Repräsentationen Dritter lediglich passiv und nicht reflexiv zu konsumieren. Dadurch kann die Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungen mit Raumbezug, etwa in der Raumplanung, gefördert werden. Durch vielgestaltige Lernumgebungen, die an den Bedürfnissen der Lernenden orientiert sind und hinsichtlich des räumlichen Bezuges vom Nah- bis zum Fernraum, von der lokalen bis zur globalen Dimension, reichen, ist der Spatial Citizenship-Ansatz von der primären bis zur tertiären Bildung vermittelbar.

Spatial Citizenship erweitert die technischen Kompetenzen in der Ausbildung im Bereich Geoinformation um einen kritischen Zugang sowie um die Kompetenz zur Kommunikation mit Geomedien.

  • Daher werden die Lernenden in erster Linie in basalen technischen Nutzer-Kompetenzen geschult, da die in Wert gesetzten Webtools ohnehin äußerst nutzerfreundlich und intuitiv zugänglich sind. Mündigkeit bei der Nutzung dieser Anwendungen, gerade im Hinblick auf Datenschutz, wird als Teil einer reflexiven Nutzung und Produktion von Geomedien erachtet und bedarf eines spezifischen Metawissens über die genutzten Anwendungen.
  • Die Lernenden sollen durch das Kompetenzfeld der Reflexion und Reflexivität versteckte bzw. (un-)bewusste Informationen in Geomedien mittels Dekonstruktion offenlegen, alternative Deutungszuweisungen ermitteln und sich die eigene Konstruktion von Räumen über Geomedien bewusst machen.
  • Im Bereich der Kommunikation sollen Lernende die Fähigkeit erlangen, mittels Geomedien als Werkzeug alternative räumliche Bedeutungen auszudrücken bzw. zu kommunizieren und zur Unterstützung ihrer Argumentation in Aushandlungsprozessen zu verwenden.

Wissenschaftliche und politische Rezeption

Die Europäische Kommission förderte von 2012 bis 2014 das multinationale Projekt SPACIT (als Abkürzung von Spatial Citizenship), welches die Vermittlung des Ansatzes in Lehr-Lern-Kontexten vorbereitete. Hierbei wurden Ausbildungsstandards für Lehrerinnen und Lehrer sowie ein Curriculum und Lernmodule für die Lehreraus- und -weiterbildung entwickelt.[8] Ein weiteres von der EU finanziertes Projekt, digital-earth.eu, verweist auf das Projekt SPACIT, indem es Akteure, die Geomedien in Bildungskontexten nutzen oder an einer Nutzung interessiert sind, zusammenbringt.[9] Die Entwicklung von Spatial Citizenship wird hierbei insbesondere durch die Sammlung praxiserprobter Beispiele und die Bereitstellung von geeigneten Lernumgebungen, die im Schulalltag (leicht) anwendbar sind, vorangebracht. Weitere Projekte, etwa zur Frage der Herstellung eines Bewusstseins für Diversity mittels Spatial Citizenship, befinden sich in Erarbeitung bzw. Antragstellung.

Einzelnachweise

  1. Jekel, T., Gryl, I., Oberrauch, A, (2015): Education for Spatial Citizenship. Versuch einer Einordnung. GW-Unterricht 137, 1/2015, S. 5-13. http://gw-unterricht.at/component/phocadownload/category/31-gwu137
  2. Mitchell, K., Elwood, S. (2012): Children's Politics and Civic Engagement: Past, Present, and Future. Presentation at the AAG Annual Meeting, 2012-02-26, New York.
  3. Stephens, A. C., Squire, V. (2012): Politics through a web. Citizenship unbound. Environment and Planning D. Societies and Space, 30, S. 551–567.
  4. Bennett, W. L., Wells, C., Rank, A. (2009): Young citizens and civic learning: Two paradigms of citizenship in the digital age. Citizenship Studies, 13, 2, S. 105–120.
  5. Werlen, B. (1995): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 1: Ontologie von Gesellschaft und Raum. Stuttgart.
  6. Harley, J. B. (1989): Deconstructing the map. Cartographica (The International Journal for Geographic Information and Geovisualization), 26, 2/1989, S. 1–20.
  7. MacEachren, A. M. (1992): Visualization. Abler, R. F., Marcus, M. G., Olson, J. M. (Hrsg.): Geography’s inner worlds. New Brunswick, S. 99-137.
  8. SPACIT http://www.spatialcitizenship.org/ (Zugriff am 28/07/2015)
  9. Digital-earth.eu http://www.digital-earth-edu.net/ (Zugriff am 28/07/2015)

Weiterführende Literatur

Gryl, I. (2012): Reflexive Geomedienkompetenz. Theoretische Fundierung, bildungskonzeptionelle Ansätze und empirische Ergebnisse zur Rolle der Geographielehrenden. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades doctor philosophiae (Dr. phil.). Universität Koblenz-Landau.

Gryl, I., Jekel, T. (2012): Re-centering geoinformation in secondary education. Toward a spatial citizenship approach. Cartographica: The International Journal for Geographic Information and Geovisualization, 1 47, S. 18–28.

Jekel, T. (2012): Lernen mit Geoinformationen. Auf dem Weg zu einem Spatial Citizenship Ansatz. Hüttermann, A. et al. (Hrsg.): Räumliche Orientierung. Räumliche Orientierung, Karten und Geoinformation im Unterricht. Braunschweig, S. 33-41.

Jekel, T., Gryl, I., Donert, K. (2010): Spatial Citizenship. Beiträge von Geoinformationen zu einer mündigen Raumaneignung. Geographie und Schule, Jg. 32; Nr. 186, S. 39-45.

Schulze, U., Gryl, I. & Kanwischer, D. (2015): Spatial Citizenship education and digital geomedia: composing competences for teacher education and training. In: Journal of Geography in Higher Education. DOI: 10.1080/03098265.2015.1048506

Traun, C., Jekel, T., Loidl, M., Vogler, R., Ferber, N., Gryl, I. (2013): Neue Forschungsansätze der Kartographie und ihr Potential für den Unterricht. GW-Unterricht 129, S.5-17. http://gw-unterricht.at/component/phocadownload/category/21-gwu-129