Benutzer:Tickle me/Neugriechen-These2
Das zur Unterscheidung von den Bewohnern des antiken Griechenland auch als Neugriechen bezeichnete Staatsvolk des heutigen Griechenland sieht sich als Nachkommen der Hellenen. Obwohl sich die heutige Neugriechische Sprache kontinuierlich aus der Altgriechischen entwickelt hat, mußte die Kultur und Philosophie der antiken Griechen im neu geschaffenen - orthodoxen - Griechenland des 19. Jahrhunderts erst wiederentdeckt werden. Vor allem Sprache, Religion und Kultur spielten für die Bildung des modernen Griechenland als Nation eine entscheidende Rolle. So wurde zunächst nicht das gesprochene Griechisch (Dimotiki, δημοτική), sondern eine modifizierte Variante des späten Altgriechisch (Katharevousa, καθαρεύουσα), Staatssprache im neu geschaffenen Staat (1975 abgeschafft).
Ethnisch jedoch hatten sich im Laufe der Jahrhunderte die durch Völkerwanderung, Pest, Kreuzzüge und Türkenkriege dezimierten griechischen Völker mit Slawen, Albanern, Türken und romanisch sprechenden Völkern vermischt. Die venezianischen Vorfahren des Grafen Ioannis Kapodistrias, erster Regent des neuen Griechenlands (1830), kamen beispielsweise aus Istrien (Capo d´Istria).
Fallmerayer-These
Der liberale deutsche Historiker Jakob Philipp Fallmerayer hatte 1830 ein Werk über die Geschichte der Peloponnes geschrieben und darin kritische Thesen aufgestellt. Er postulierte eine einheitliche hellenische Ethnie im antiken Griechenland und stellte die These auf, dass diese antiken Griechen im Mittelalter völlig ausgerottet worden seien, wörtlich schrieb er:
"Das Geschlecht der Hellenen ist in Europa ausgerottet ... Denn auch nicht ein Tropfen edlen und ungemischten Hellenenblutes fließt in den Adern der christlichen Bevölkerung des heutigen Griechenlands."
Tatsächlich jedoch definierten sich bereits die antiken Griechen nicht über ihre Stammeszugehörigkeit, sondern über die gemeinsame Sprache, die sich in zahlreichen Varianten der verschiedenen Völker (Ionier, Dorer, Achaier etc.) manifestierte.
Gegen Fallmerayers These protestieren neugriechische Patrioten, Nationalisten und konservative Gelehrte bis heute und betonen die Kontinuität der griechischen Kultur um so mehr, besonders Konstantin Paparrigopoulos (†1872), ein wichtiger nationaler Historiker. Dabei spielt auch die Volkskunde eine sehr große Rolle.
Mit der Folgerung, die Griechen der Neuzeit seien lediglich hellenisierte Slawen und Albaner, verärgerte Fallmerayer also die meisten "Philhellenen" in Westeuropa und neugriechische Patrioten gleichermaßen. Eine Übersetzung seiner heftigst umstrittenen Thesen ins Griechische kam nicht vor den 1980ern zustande.
Historischer Kontext
Die Ablehnung der Abstammungsthese Fallmerayers liegen auch in Westeuropas jahrhundertlangem Desinteresse und seinem negativen Balkan-Bild begründet. Von Rom ausgehend, hatte bereits vor der Kirchentrennung der Antibyzantismus in Westeuropa traurige Tradition, byzantinische Griechen als verschlagen bzw. dekadent und orthodoxe Slawen als unzivilisierte Halbwilde zu verachten.
Allein das antike Griechenland bildete mit seiner meisterhaften kulturellen und zivilisatorischen Vorbildfunktion selbst bzw. vor allem für Rom stets eine Ausnahme. Mehr als alle anderen slawisch-kyrillischen Orthodoxen aber wirkten das Riesenreich der Russen seit deren Sieg über Napoleon auch im eher liberalen Westeuropa unheimlich und bedrohlich. Für die neugriechischen Aufständischen schien offensichtlich, daß der Westen bereit war, den Nachkommen Homers, Aristoteles' und des großen Alexander wohl zu helfen – keinesfalls aber vermeintlichen russischen Agenten unter einem undemokratischen Zaren. Westeuropa hingegen zielte auf den einzigen scheinbar nichtslawischen Brückenkopf im Reich der Türken. Gegen Fallmerayer erhob sich deshalb sofort panischer Widerstand von Intellektuellen auch aus Deutschland (Karl Hopf) oder Österreich (Bartholomäus Kopitar) selbst. Auch der bayerische Philologe Friedrich Thiersch rechtfertigte die Griechische Revolution.
Die innige Beziehung vieler Deutscher zur altgriechischen Kultur illustriert die überschwängliche Bemerkung des deutschen Philhellenen Carl Icken: "Waren nicht ihre (der Neugriechen) Urahnen auch unsere Väter in Gesinnung und in Ausübung der Tugend, in Worten und Werken, nicht auch unsere Ahnen in der Wissenschaft, nicht unsere Muster in der Poesie, unsere Lehrmeister in der Kunst; sind sie nicht noch jeden Augenblick Erzieher unserer Jugend, Bildner unseres Zartgefühls, Richtschnur für den Denker, Führer und Geleit dem Schriftsteller und dem Volkslehrer, Richtscheit für den Geschmack, Kompaß und Leisten im Gebiet der Wahrheit, des Wissens und Empfindens?"
Da der als Panslawist verschriene Fallmerayer später andererseits auch von den Nazis gelobt worden war, hatte seine als „slawische Überfremdung“ missinterpretierte These nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Universitäten der USA-geführten Freien Welt als eindeutig widerlegt zu gelten. Fallmerayers These hatte den Nazis geholfen, den Widerspruch zwischen ihrer Bewunderung des Altgriechischen und der tatsächlichen Okkupationspolitik gegenüber den Neugriechen zu begründen.
Während des anschließenden Kalten Krieges gab es sowohl von griechischer als auch von westlicher Seite ideologische Gründe einer Leugnung der historischen Vermischung und Ansippung. Das orthodoxe Griechenland war nach dem Bürgerkrieg gegen die Kommunisten den USA mehr als ein geostrategischer Verbündeter, die slawischen Staaten nicht nur des Balkans hingegen allesamt kommunistisch geworden waren. Die These einer weitgehend slawisch-albanischen Bevölkerung Griechenlands aber – der vielgepriesenen "Wiege der Demokratie" immerhin – aufgestellt ausgerechnet von einem unter den Nazis anerkannten Deutschen, war unerträglich. Dennoch sprechen einige wesentliche Punkte für Fallmerayers beinahe revolutionäre Umwälzung der bis heute gültigen traditionellen Lehrmeinung.
Chronik von Monemvasia
Der Bischof Willibald von Eichstätt berichtete von einer Reise im Jahre 723, das Umland von Monemvasia auf dem südlichen Peleponnes sei fest in der Hand slawischer Neusiedler, die seit dem 6. Jahrhundert die Griechen nicht nur aus Mazedonien, sondern auch als Alt-Griechenland verdrängt hatten, selbst Athen galt als verlassen und war von Albanern verwüstet worden. Kreuzritterberichte bestätigen trotz massiver Umsiedlungen der aufständischen Peleponnes-Slawen nach Kleinasien Bevölkerungsreste bis ins 13./14. Jahrhundert, noch bevor Serben und Bulgaren erneut zur Eroberung ansetzten.
Schon vor Fallmerayer hatte der britische Journalist William Leake 1814 unter der Überschrift "Researches in Greece" behauptet, auch die Griechen wären Slawen gewesen. Wie Leake war dann auch Fallmerayer zu der Schlußfolgerung gekommen, die Griechen wären ohne die slawisch-orthodoxe Fruchtbarkeit mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit turkisiert und islamisiert worden. Frühere Historiker, so z.B. der französische Jesuit Jacques Richard im 17. Jahrhundert, hatten sich zuvor bereits erstaunt gezeigt, wie das griechisch-orthodoxe Christentum nach der Kirchenunion von Florenz und dem Fall Konstantinopels (1439 bzw. 1453) überhaupt hatte überleben können.
Ortsnamenthese
Fallmerayer bereiste nun selbst mehrmals Griechenland und Kleinasien und stellte fest, dass die Mehrzahl der Ortsnamen auf der Morea slawischen und albanischen Ursprungs waren und aus dem 9. Jahrhundert stammten. Byzantinische Quellen berichten von konvertierten Slawen, die rekrutiert wurden. In den ersten 100 Jahren nach der griechischen Unabhängigkeit hat es deshalb aus rein ideologischen Gründen massive Um- und Rückbenennungen der Orte gegeben, aus Morea wurde z.B. wieder Peleponnes.
Bevölkerungstausch
Der Geograph und Historiker Ewald Banse sah die Entstehung der heutigen Titularnation Griechenlands sogar erst nach dem Bevölkerungsaustausch mit der Türkei von 1923. Die türkisierten, nur ihre Religion bewahrenden Neusiedler aus Kleinasien vermischten sich mit den hellenisierten Slawen Griechenlands zum Volk der Neugriechen. Dabei waren zuvor, auch entsprechend griechischer Gegenargumente, die konvertierten Peleponnes-Slawen ja gerade nach Kleinasien umgesiedelt worden.
Sprache
Der Soziologe Franz Borkenau hat (zuerst 1984, Ende und Anfang) darauf hingewiesen, dass die neugriechische Sprache im Unterschied zur altgriechischen starke grammatikalische Slawismen aufgenommen habe. Von Sprachwissenschaftlern werden die sg. Slavismen allerdings anders interpretiert.
Das Erforschen der griechischen Sprache und des Einfluss der benachbarten Sprachen ist Gegenstand der Balkanologie. Hier wird heute von einem starken gegenseitigen Einfluss der slawischen, albanischen und romanischen Sprachen und Griechisch auf dem Balkan ausgegangen.
Gentest nicht aussagekräftig
Um den slawischen Einfluss zu widerlegen, führten italienische Wissenschaftler (Semino) umfangreiche Gentests in Griechenland durch. Überprüft wurde das als vermeintlich slawentypisch geltende Y-Chromosom R1A, das allerdings auch bei den als ursprünglichste Slawen geltenden Polen nur zu 50 Prozent vorkommt. Das Ergebnis bei den Griechen war mit nur 12 Prozent scheinbar eindeutig nichtslawisch. Aber auch bei den eine nicht-slawische Sprache sprechenden Ungarn wurden 60 Prozent, bei Albanern 10 Prozent und bei Türken noch 7 Prozent nachgewiesen. Damit hatte sich der verwendete Test als ungeeignet für die zugrundeliegende Fragestellung erwiesen.
In Nordgriechenland allerdings, wo sich 1923 die meisten Neusiedler niedergelassen hatten und mit Thessaloniki die zweitgrößte Stadt Griechenlands befindet, wurden 35 Prozent gemessen. Die einst dort ebenfalls ansässige Minderheit slawischer Mazedonier war jedoch schon vorher, nach dem Griechischen Bürgerkrieg, nach Jugoslawien vertrieben bzw. nach Südgriechenland zwangsumgesiedelt worden, siehe auch Nordwestgriechen.
Literatur
- J.P. Fallmerayer: Das albanische Element in Griechenland
- J.P. Fallmerayer: Die Geschichte der Halbinsel Morea
- William Leake: Researches in Greece. London 1814
- Gustav Auernheimer: Fallmerayer, Huntington und die Diskussion um die neugriechische Identität. Offenburg
- Franz Borkenau: Ende und Anfang: Von den Generationen der Hochkulturen und von der Entstehung des Abendlandes, (aus dem Nachlass) hgg. und eingeführt von Richard Löwenthal, Stuttgart 1995 (1984), ISBN 3-608-93032-9 (darin Untersuchung zur Slawisierung der neugriechischen Sprache)
- Ewald Banse: Die Türkei. Braunschweig 1919
- Ernst Feigl: Die Kurden. München 1995
- Franz Georg Maier (Hrsg.): Weltbild Weltgeschichte, Bd. 13, Byzanz. Augsburg 1998
- S.D. Skaskin: Chrestomathie zur Geschichte des Mittelalters, Band 1, Moskau 1961
- Nikolas Wenturis: Kritische Bemerkungen zu der Diskussion um die neugriechische Identität am Beispiel Fallmerayer, Huntington und Auernheimer (Publikation der Griechischen Botschaft in Deutschland)
Weblink
- The Fallmerayer Thesis in the Light of Genetic Evidence Rezension der Fallmerayer-kritischen Veröffentlichung Ornella Seminos im US-Magazin "Science" (Nr. 290/2000, S. 1155ff)
- HLA Genenes in Macedonians an the Sub-Saharan origins of the Greeks - These einer sub-Saharischen Herkunft