Bio-Macht

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Der Begriff Bio-Macht (französisch: le biopouvoir) geht auf Michel Foucault zurück und bezeichnet Machttechniken (zunehmend auch Biopolitik genannt), die „nicht auf den Einzelnen, sondern auf die gesamte Bevölkerung zielen“,[1] wobei er die Bevölkerung versteht als „eine Gruppe, die nicht einfach nur aus vielen Menschen besteht, sondern aus Menschen, die von biologischen Prozessen und Gesetzen durchdrungen, beherrscht und gelenkt sind [und die] eine Geburtenrate, eine Alterskurve (…), einen Gesundheitszustand“[2] hat. Das Ziel der Bio-Macht bei Foucault ist die Regulierung dieser so definierten Bevölkerung insbesondere durch die Regulierung ihrer Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Wohnverhältnisse, u. a.

Biomacht bei Michel Foucault

Entwicklung des Begriffs

Foucault entwickelte den Begriff Bio-Macht in seinem Buch Der Wille zum Wissen (1977), um damit eine neue Art von Machtmechanismus zu beschreiben, der sich im 18. Jahrhundert[1] entwickelte: Während sich die Macht vorher über den Tod herleitete, entwickelt sich nun eine Macht, deren zentraler Fokus das Leben ist: „Man könnte sagen, das alte Recht [des Souveräns, d.V.], sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen.“[3] – „Bis dahin gab es nur Untertanen, nur Rechtssubjekte (…). Nun gibt es Körper und Bevölkerungen.“[1]

Einer von zwei Machttypen

Die neue Macht ist um zwei Pole organisiert: Einerseits richtet sie sich auf den individuellen Körper, auf seine Zurichtung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Zustände, die Steigerung seiner Nützlichkeit und die Ausnutzung seiner Kräfte – die sogenannte anatomische Macht.[1] Zum anderen auf den „Gattungskörper“, die Regulierung der Bevölkerung – Bio-Macht.

Funktionsprinzipien

Dieser neuen „Lebensmacht“ liegen auch neue Funktionsprinzipien zugrunde: „Diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen (zu) lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten.“[4] und um „die Bevölkerung als Produktionsmaschine zur Erzeugung von Reichtum, Gütern und weiteren Individuen [zu] nutzen.“.[1]

Für Foucault ist die logische Folge einer Machttechnologie, die sich auf das Leben richtet, die „Normalisierungsgesellschaft“. Weil es darum geht, das Leben zu sichern und auf eine bestimmte Art und Weise zu organisieren, werden die Subjekte an einer Norm gemessen, sie werden an ihr ausgerichtet und müssen vor ihr bestehen. „Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie [die Bio-Macht, d.V.] die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet. (…) Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie.“[5]

Auch das Selbstverhältnis der Individuen ändert sich: „Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben, sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann.“[6]

Die zentrale Bedeutung der Sexualität

Ein extrem wichtiger Eingriffspunkt der neuen Macht ist die Sexualität. Sie erlaubt den Zugang zum Individuum und über sie funktioniert auch die Kontrolle der Bevölkerung. „Die Sexualität liegt letztlich genau an der Verbindungsstelle zwischen der individuellen Disziplinierung des Körpers und der Regulierung der Bevölkerung. (…) Die Sexualität ist das Bindeglied zwischen anatomischer Politik und Biopolitik; sie liegt am Kreuzungspunkt der Disziplinierungs- und Regulierungsformen, und in dieser Funktion wird sie Ende des 19. Jahrhunderts zu einem erstrangigen politischen Instrument (…).“[1]

Sie wird zu einer Angelegenheit des Staates. Sie wird dem Gesundheitswesen und den Regeln einer Normalität untergeordnet. Foucault fasst diese Entwicklungen unter anderem unter dem Begriff Sexualitätsdispositiv zusammen. Damit sind machtstrategische Verknüpfungen von Diskursen und Praktiken gemeint, die sich rund um das Thema der Sexualität zu einer bestimmten Zeit bilden. Das Sexualitätsdispositiv wird zunächst im Bürgertum wirksam, das bald damit begann „seinen eigenen Sex als wichtige Sache, zerbrechlichen Schatz, unbedingt zu erkennendes Geheimnis zu betrachten.“[7]

Foucault geht davon aus, dass es bei der neuen Sexualpolitik nicht um Askese ging, sondern vielmehr um eine Konzentration auf den Körper, seine Gesundheit und seine Funktionen. Während das Symbol des Adels das Blut war, bediente sich das Bürgertum der neuen Technologie des Sexes zur Selbstaffirmation. Das Bürgertum „hat sich einen Körper gegeben, den es zu pflegen, zu schützen, zu kultivieren, vor allen Gefahren und Berührungen zu bewahren und vor den anderen zu isolieren galt, damit er seinen eigenen Wert behalte.“[8]

Es entsteht eine Klasse, die in der Sexualität den Zugang zur eigenen Identität, zum Körper und zur Selbsterkenntnis verortet. Der Sexualität scheint eine Wahrheit inne zu wohnen, die es zu erkennen gilt. Außerdem erhält die Gesundheit eine gesellschaftliche Aufwertung, es ist auf einmal von Bedeutung, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern, sich gesund zu erhalten und diese Auffassung ist bis heute eng verknüpft mit dem Verständnis von Subjektivität. Die Sorge um die Sexualität war untrennbar mit der Sorge um die Gesundheit verbunden.

Dieser Sorge inhärent ist die Abgrenzung vom Unerwünschten, von allem was bedrohlich, fremd und anders ist.

Technologien des Selbst

In den späteren Arbeiten zu dem auf mehrere Bände angelegten Werk „Sexualität und Wahrheit“ verändert Foucault sein Konzept. Er nimmt eine theoretische Verschiebung in Hinblick auf das Subjekt vor. Es geht nicht mehr in erster Linie um die Funktionsweisen der Diskurse, die auf das Subjekt einwirken, vielmehr entwickelt er unter Rückgriff auf die griechisch-römische Antike den Begriff der Technologien des Selbst. „Darunter sind gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.“[9]

Es handelt sich also um konkrete Handlungsstrategien und Lebensgestaltungsmöglichkeiten, mit denen sich das Subjekt selbst konstituieren kann. Das Individuum wendet auf sich selbst Praktiken an, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, das jeweils im Zusammenhang mit seiner historisch und gesellschaftlich spezifischen Verortung steht, also Konsequenz der Macht ist, die im alltäglichen Leben spürbar ist (indem sie z. B. wirkt durch Einteilung der Individuen in Kategorien und der Verknüpfung von bestimmten Wahrheiten mit diesen).

Das Individuum und seine Identität

Das, was das Individuum als sein „Selbst“ wahrnimmt, als seine Identität, ist immer schon entstanden vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse: „Identität ist (…) ein Vollzug – eine bewusste und unbewusste Tätigkeit in Auseinandersetzung mit kulturellen Deutungsmustern und Artefakten, die körperliche Erfahrung hervorrufen, die als Ausdruck des natürlichen Leibes interpretiert werden.“[10] Das „Wort Subjekt [hat] (…) einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein.“ (Foucault 1994, 246f)

Gouvernementalität

Um das Verhältnis von Subjektivierungsprozessen (die mit dem theoretischen Konzept der Technologien des Selbst nun konkreter erfassbar sind) und Machtmechanismen klären zu können, führt Foucault außerdem den Begriff der „Regierung“ ein (Gouvernementalität): „Jenseits einer exklusiven politischen Bedeutung verweist Regierung (…) auf zahlreiche und unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen.“[11]

Rezeption

Giorgio Agamben, der die Analyse von Foucault fortschreiben will, versteht die Bio-Macht als Herrschaft des Souveräns über das „nackte Leben“. Das Leben selbst steht bei der Macht auf dem Spiel. Während Foucault Biomacht als einen alltäglichen Zustand analysiert, wählt Agamben die Sichtweise des Ausnahmezustandes.

Achille Mbembe stellt der Biopolitik den Begriff der Nekropolitik anbei, nach der die Grundlage von Souveränität und Macht schon im Entscheiden-Können über Leben und Tod liege.[12] Die Zuspitzung wurde unter anderem von Daniel Loick bezugnehmend auf die europäische Asylpolitik aufgegriffen, der das Flüchtlingslager Moria als „Todeswelt“ ähnlich dem Nicht-Ort beschreibt.[13]

Siehe auch

Literatur

  • Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-518-12068-9.
  • Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-518-12366-1.
  • Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978/1979. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-518-29409-3.
  • Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft: Vorlesungen am Collège de France (1975–1976). 3. Aufl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-518-29185-6.
  • Michel Foucault: Leben machen und sterben lassen. Die Geburt des Rassismus. In: Bio-Macht. DISS-Verlag, Duisburg 1992, ISBN 3-927388-34-3. (DISS-Texte 25)
  • Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 1. Aufl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-07470-9.
  • Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. 3. Aufl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-518-28317-0.
  • Petra Gehring: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-593-38007-2.
  • Margret Jäger, Siegfried Jäger, Ina Ruth, Ernst Schulte-Holtey, Frank Wichert (Hrsg.): Biomacht und Medien. Wege in die Bio-Gesellschaft. ISBN 3-927388-59-9.
  • Agnes Heller, Ferenc Feher: Biopolitik. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-593-35308-3.
  • Angelika Magiros: Kritik der Identität. „Bio-Macht“ und „Dialektik der Aufklärung“. Zur Analyse (post-)moderner Fremdenfeindlichkeit – Werkzeuge gegen Fremdenabwehr und (Neo-)Rassismus. Unrast, Münster 2004, ISBN 3-89771-734-4.
  • Stefanie Duttweiler: Body-Consciousness – Fitness – Wellness – Körpertechnologien als Technologien des Selbst. In: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich.Selbsttechnologien – Technologien des Selbst. Heft 87, Kleine Verlag, März 2003.
  • Torsten Junge: Selbstführung als postpastorale Macht. In: Malte-Christian Gruber, Sascha Ziemann (Hrsg.): Die Unsicherheit der Väter. Zur Herausbildung paternaler Bindungen. Trafo-Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-89626-886-0, S. 305ff.
  • Torsten Junge: Leichen im Kopf. Foucault, der Tod und die Bio-Macht. In: Marvin Chlada, Gerd Dembowski (Hrsg.): Das Foucaultsche Labyrinth. Eine Einführung. Alibri, Aschaffenburg 2002, ISBN 3-932710-32-0, S. 39ff.
  • Thomas Lemke: Biopolitik zur Einführung. Junius, Hamburg 2007, ISBN 978-3-88506-635-4. (Rezension)
  • Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke: Gouvernementalität der Gegenwart. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-518-29090-8.
  • Gerburg Treusch-Dieter: „Ihr werdet sein wie Gott“. Transpflanzungen im Menschenpark. In: Theo Steiner (Hrsg.): genpool. biopolitik und körperutopien. Passagen, Wien 2002, S. 107ff.
  • Die Röteln (Hrsg.): „Das Leben lebt nicht“. Postmoderne Subjektivität und der Drang zur Biopolitik. Verbrecher-Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-935843-52-6.
  • Andreas Volkers, Thomas Lemke (Hrsg.): Biopolitik. Ein Reader, Suhrkamp, Berlin 2014, ISBN 978-3-518-29680-6.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e f Michel Foucault: Die Maschen der Macht. (1981/1985) In: Daniel Defert, Francois Ewald (Hrsg.): Analytik der Macht. Verlag Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005, ISBN 3-518-29359-1, S. 230 ff.
  2. Michel Foucault: Die Maschen der Macht. (1981/1985) In: Daniel Defert, Francois Ewald (Hrsg.): Analytik der Macht. Verlag Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005, ISBN 3-518-29359-1, S. 230 ff.
  3. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 1. Aufl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-07470-9, S. 165, [Hervorheb. im Original, d.V.]
  4. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 1. Aufl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-07470-9, S. 163
  5. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 1. Aufl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-07470-9, S. 162
  6. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 1. Aufl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-07470-9, S. 170
  7. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 1. Aufl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-07470-9, S. 145
  8. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 1. Aufl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-07470-9, S. 148
  9. Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993, 3. Aufl., ISBN 3-518-28317-0, S. 18
  10. Stefanie Duttweiler: Body-Consciousness – Fitness – Wellness – Körpertechnologien als Technologien des Selbst. In: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich.Selbsttechnologien – Technologien des Selbst. Heft 87, Kleine Verlag, März 2003, S. 32.
  11. Thomas Lemke, Susanne Krasmann, Ulrich Bröckling: Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-518-29090-8, S. 10.
  12. Achille Mbembe: Nekropolitik. In: Biopolitik – in der Debatte. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-92807-4, S. 63–96, doi:10.1007/978-3-531-92807-4_3.
  13. Daniel Loick: Kommentar zu Moria. Leben in der Todeswelt. In: Deutschlandfunk Kultur. 18. Oktober 2020, abgerufen am 19. Oktober 2020 (deutsch).