Dekolonisation Afrikas
Mit Dekolonisation Afrikas wird der Abzug der europäischen Kolonialmächte aus Afrika bezeichnet. Die Dekolonisation (auch Entkolonisierung genannt)[1] setzte in Afrika im Gefolge des Zweiten Weltkriegs ein. Schon vorher hatte es unabhängige Staaten in Afrika gegeben. Der Abzug begann 1951 mit der Unabhängigkeit der italienischen Kolonie Libyen und endete 1976 mit der britischen Kronkolonie Seychellen. Die europäische Kolonialherrschaft in Afrika endete gleichzeitig mit der kolonialen Ära weltweit.
Kolonialpolitik nach 1945
Als in den 1950er-Jahren die europäische Wirtschaft wieder in Schwung kam, wurde in den Kolonialländern zum ersten Mal über die Entlassung der afrikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit debattiert. Dabei ging es insbesondere um die Frage der Rentabilität der Kolonien für die Mutterländer. Der Entschluss zur Dekolonisation kam primär aus volkswirtschaftlichen Gründen, denn die Mutterländer konnten ihre Kolonien nicht mehr finanzieren. Also war man allgemein zu dem Schluss gekommen, dass es wirtschaftlich günstiger wäre, sich politisch aus Afrika zurückzuziehen.
Zudem sahen sich die europäischen Machthaber vom aufstrebenden Nationalismus in den Kolonien immer mehr bedroht. Vorbilder waren zum Teil die asiatischen Unabhängigkeitsbewegungen, insbesondere die in Indien, die sich bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg formiert hatten. Ein Kampf um die Herrschaft mit militärischen Mitteln oder auch eine Umstrukturierung der Kolonialreiche kamen auf lange Sicht nicht in Frage. Dazu kamen „Versprechen“ auf größere Selbstverwaltung, die die Kolonialmächte während des Krieges gemacht hatten, als Truppen aus den Kolonien ihre Armeen verstärkten. Daher ging man etwa ab 1950 daran, die Staaten in die Unabhängigkeit zu entlassen. Soziale Träger der Entkolonialisierung waren meist lokale Eliten, die untere Funktionen in der Kolonialverwaltung besetzten und durch fehlende Aufstiegschancen frustriert waren.
Bei der Machtübergabe waren die Kolonialherren immer darauf bedacht, Regierungen zu fördern bzw. zu installieren, die ihnen genehm waren. Europa wollte zwar ein demokratisches Afrika, aber auf allen Einfluss verzichten wollte man auch nicht.
Die Wege in die Unabhängigkeit
Britische Kolonien
Die Briten erwogen als erste Kolonialmacht eine weitgehende Dekolonisation Afrikas. Sie wollten eine allmähliche Machtübergabe an gemäßigte, demokratische Regierungen. Vor allem war man darauf bedacht, Gewalttätigkeiten zu vermeiden – wenn auch mit wenig Erfolg. Denn in vielen ehemals britisch-regierten Staaten kam es zu blutigen Auseinandersetzungen. In Kenia wurde 1956 der Mau-Mau-Aufstand niedergeschlagen. Die Wahlen in Nigeria 1951 schürten regionale Konflikte. In Südrhodesien erklärten weiße Siedler einseitig die Unabhängigkeit, was zu Eskalationen mit den afrikanischen Nationalisten unter Robert Mugabe führte. Auch die Zentralafrikanische Föderation zersplitterte an nationalistischen Streitereien.
Die meisten ehemaligen Kolonien Großbritanniens wurden in das Commonwealth of Nations eingebunden.
Französische Kolonien
Frankreich hatte zunächst ganz andere Pläne. Man wollte die Kolonien in Form der Französischen Union politisch noch enger an sich binden. Dem standen jedoch die Unabhängigkeitsbestrebungen in den Kolonien im Weg. Erst nach dem Ende des Algerienkriegs (1962) rückte Frankreich endgültig vom Kolonialismus ab – nicht zuletzt deswegen, weil ein weiteres Blutvergießen auf breite Ablehnung gestoßen wäre.
Inwiefern die Unabhängigkeit der Kolonien von den Einheimischen gewünscht wurde, ist nicht ganz gewiss. Als die französischen Kolonien in einem Referendum am 28. September 1958 vor die Wahl gestellt wurden, zog nämlich der überwiegende Teil der Bevölkerung eine weitere Anbindung an Frankreich der völligen Eigenständigkeit vor.[2] Zwei Jahre später war das französische Kolonialreich Geschichte. Einzig Algerien hatte noch bis zum Sieg der algerischen Befreiungsfront (FLN) 1962 faktisch den Status einer Kolonie, auch wenn es jahrzehntelang administrativ Teil Frankreichs war.
siehe auch Französisch-Nordafrika, Französisch-Marokko
Italienische Kolonien
Das Königreich Italien annektierte nach dem Italienisch-Türkischen Krieg (1911–1912) Libyen. 1934 erklärte Mussolini Italiens libysche Besitzungen zur Kolonie Italienisch-Libyen. Es kam zu Grenzstreitigkeiten um den Aouzou-Streifen im Süden mit Frankreich und seiner Kolonie Französisch-Äquatorialafrika. Im Zweiten Weltkrieg griffen italienische Truppen Ägypten an, wurden aber von britischen Truppen zurückgeschlagen. Von 1941 bis 1943 unterstützten deutsche Truppen („Afrikakorps“ unter Generalfeldmarschall Erwin Rommel) die italienischen Einheiten in Libyen gegen alliierte Verbände, bis sowohl die italienischen als auch die deutschen Einheiten im Mai 1943 bei Tunis kapitulieren mussten. Von 1943 bis 1949 war Libyen von Großbritannien und Frankreich besetzt.
1949 beschlossen die Vereinten Nationen, Libyen in die Unabhängigkeit zu entlassen, und setzten als Hochkommissar Adrian Pelt ein.[3] 1960 erhielt das Italienische Treuhandgebiet Somalia seine Unabhängigkeit.
Portugiesische Kolonien
Portugal, damals unter der Diktatur António Salazars, wies jeden Gedanken an eine Unabhängigkeit seiner Kolonien Angola, Guinea-Bissau, Kap Verde, Mosambik und São Tomé und Príncipe energisch zurück. Die Folge waren ab 1960 Aufstände in Angola, Guinea-Bissau und Mosambik, auf die Portugal mit dem Portugiesischen Kolonialkrieg antwortete. Gleichzeitig änderte es seine Kolonialpolitik einschneidend, indem es die Situation der Afrikaner in seinen Kolonien deutlich verbesserte und sie zu portugiesischen Staatsbürgern machte – mit dem Ziel, sie vom Unabhängigkeitskampf abzuhalten und für einen Verbleib im portugiesischen Reich zu gewinnen. 1973 war der Krieg jedoch in Guinea-Bissau militärisch verloren und dieses Land erklärte seine Unabhängigkeit. Zu diesem Zeitpunkt hatten die portugiesischen Streitkräfte die Guerillabewegungen in Angola jedoch praktisch neutralisiert, während in Mosambik eine Art militärisches Gleichgewicht herrschte.
Der wirtschaftliche und menschliche Verschleiß durch den Krieg trug in Portugal entscheidend dazu bei, dass ein Militärputsch – die sogenannte Nelkenrevolution – 1974 das Salazar-Regime stürzte. Die neue Übergangsregierung sowie die nachfolgende unter Vasco Gonçalves beendeten unverzüglich alle militärischen Aktionen. Portugal leitete die Entkolonisierung seiner afrikanischen Kolonien ein und erkannte 1975 deren Unabhängigkeit an.
Spanische Kolonien
Spanien gab seine afrikanischen Kolonien Äquatorialguinea und Westsahara kurz vor dem Tod des Diktators Franco im Jahr 1975 auf und ließ sie dabei zum Teil in einem verheerenden politischen Zustand zurück. Westsahara wurde kurz nach dem spanischen Abzug von Marokko okkupiert.
Belgische Kolonie Kongo
Ein Desaster war die Dekolonisation von Belgisch-Kongo. Dessen Bevölkerung hatte bis dahin keine Erfahrung mit demokratischer Organisation sammeln können, denn bis 1960 war sie von jeder politischen Partizipation ausgeschlossen. Die ersten freien Wahlen, bei denen über 100 „Parteien“ antraten, verliefen katastrophal und mündeten in die Kongo-Krise. Die stimmenstärkste Partei Mouvement National Congolais-Lumumba von Patrice Lumumba verfügte über nur 33 der 137 Mandate. Seine zentralistischen Pläne begünstigten die separatistischen Tendenzen in der schwer kontrollierbaren Provinz Katanga.
Mandats-/Treuhandgebiete
Die vormaligen deutschen Kolonien wurden nach dem Ersten Weltkrieg durch die Siegermächte als Mandatsgebiete im Auftrag des Völkerbundes verwaltet. Völkerrechtlich waren es somit keine Kolonien mehr, in der Herrschaftspraxis gab es aber eine hohe Kontinuität.[4] Frankreich und Großbritannien teilten sich Kamerun (Französisch-/Britisch-Kamerun) und Togo (Französisch-/Britisch-Togoland). In Tanganjika wurde die Verwaltung von Großbritannien und in Ruanda-Urundi von Belgien ausgeübt. NS-Pläne zur Wiedererrichtung der deutschen Kolonialherrschaft scheiterten am Zweiten Weltkrieg und an der Ausrichtung auf die Sowjetunion als Hauptgegner. Die Gebiete wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Treuhandgebiete im UN-Auftrag und um das Jahr 1960 unabhängig. Eine Ausnahme bildete Südwestafrika, da die mit der Verwaltung betraute Südafrikanische Union die UN-Treuhandschaft nicht anerkannte und eine Eingliederung als Bestandteil Südafrikas anstrebte. Auf internationalen Druck musste die Regierung Südafrikas hiervon allmählich abrücken. Die Unabhängigkeit erlangte Südwestafrika (nun Namibia) erst 1990 mit dem Ende des südafrikanischen Apartheidsregimes.
Probleme der Dekolonisation
Generell gilt, dass die von den europäischen Kolonialmächten gezogenen Grenzen meistens auch die späteren Staatsgrenzen bildeten. Sie wurden aber bei der Eroberung willkürlich, ohne Rücksicht auf bereits bestehende Stammes- bzw. Völkergrenzen gezogen. Allerdings gab es in Afrika verbreitet auch keinen an ein Territorium gebundenen Volksbegriff. Teilweise bildeten sich Ethnien erst während der Formierung der Unabhängigkeitsbewegungen ab 1940. Als Ergebnis sind nahezu alle afrikanischen Staaten Vielvölkerstaaten mit den sich daraus ergebenden Problemen. Ein Keim für die heute verbreitete Instabilität vieler afrikanischer Länder wurde dadurch gelegt. Oft ist die einzige übergreifende Institution das Militär.
Auf Grund der kolonialen Verwaltung, die meist eine Selbstverwaltung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit ausschloss, fehlte in vielen Ländern eine demokratische Tradition, was die Bildung von Diktaturen nach der Unabhängigkeit stark begünstigte.
Ein weiteres Problem bildet die wirtschaftliche Ausrichtung fast aller Kolonien als Rohstofflieferant, vor allem für Lebens- und Genussmittel sowie für Bergbauprodukte. Das verarbeitende Gewerbe wurde stets vernachlässigt. Daran hat sich auch nach der Unabhängigkeit nur wenig geändert. Viele afrikanische Volkswirtschaften sind daher auf Gedeih und Verderb den Weltmarktpreisen ausgeliefert, die sie nicht selbst bestimmen können.
Schließlich ist in vielen Teilen Afrikas nach wie vor der „Tribalismus“ ein ernsthaftes Problem: Loyal ist man dort nicht (oder weniger) gegenüber der „nationalen“ Gesamtgesellschaft, die auf dem Gebiet der neu entstandenen Staaten entstanden ist – oder noch im Begriff ist zu entstehen –, sondern gegenüber der „ethnischen“ Gruppe, der man angehört bzw. zu der man sich als zugehörig betrachtet und/oder betrachtet wird.
Staaten nach Jahr ihrer Entlassung in die Unabhängigkeit
Literatur
- Franz Ansprenger: Politische Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert, Beck, München 1992, ISBN 3-406-44468-7.
- John Iliffe: Geschichte Afrikas, 2. Auflage, Beck, München 2000 ISBN 3-406-46309-6.
- Dietmar Rothermund, The Routledge Companion to Decolonization, Arlington & New York, 2006, ISBN 0-415-35633-4.
- Gerhard Altmann: Abschied vom Empire. Die innere Dekolonisation Großbritanniens 1945–1985. Wallstein, Göttingen 2005, ISBN 978-3-89244-870-9.
- Fabian Klose: Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945–1962. Oldenbourg, München 2009, ISBN 978-3-486-58884-2 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 66).[5]
- Judith Strohm, Eric van Grasdorff, Verena Ackels: 50 Jahre afrikanische Un-Abhängigkeiten. Eine (selbst-)kritische Bilanz. Editions AfricAvenir/Exchange & Dialogue, Wien 2010, ISBN 978-3-939313-95-3.
Weblinks
- ARD.de-Spezial zu 50 Jahren afrikanische Unabhängigkeit (Memento vom 4. Januar 2011 im Internet Archive)
- Themenschwerpunkt „Dekolonisierung und postkoloniale Gesellschaften in Afrika“ auf Zeitgeschichte-online mit Texten, Links und einer Materialsammlung
- Afrika, die Entkolonialisierung, interaktive Karte mit Zeitstrahl. In: 20minuten, 22. März 2013.
Einzelnachweise
- ↑ Siehe etwa Franz-Wilhelm Heimer, Der Entkolonisierungskonflikt in Angola. Weltforum, München 1979.
- ↑ siehe auch fr:Liste d'élections en 1958#Septembre
- ↑ UN Resolution 289 IV: „Question of the Disposal of the former Italian Colonies“, 21. Nov. 1949
- ↑ Sebastian Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte. C.H. Beck, München 2008, ISBN 978-3-406-56248-8, S. 116.
- ↑ Vgl. Lasse Heerten: Rezension zu: Klose, Fabian: Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945–1962. München 2009. In: H-Soz-u-Kult, 18. März 2010.