Der Bevölkerung

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Der Bevölkerung (Hans Haacke)
Der Bevölkerung
Hans Haacke, 2000
Konzeptkunst

Das Kunstwerk Der Bevölkerung von Hans Haacke wurde im Jahr 2000 im nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes nach Beschluss des Bundestages errichtet. Es besteht aus einem 21 × 7 m großen, von Holzbohlen eingefassten Trog, gefüllt mit Kies und Erde, aus dem verschiedene Pflanzen sprießen und aus dessen Mitte in weißen Neonlichtbuchstaben die Schrift „DER BEVÖLKERUNG“ nach oben strahlen. Sie sind von allen Etagen des Gebäudes aus zu lesen: vom Plenarsaal, von der Presse- und Fraktionsebene sowie von Besuchern auf dem Dach. Die Förderung aus öffentlichen Mitteln dafür betrug umgerechnet ca. 200.000 €. Das Kunstwerk wurde im Rahmen von „Kunst am Bau“ realisiert.[1]

Das Kunstwerk nimmt Bezug auf die Widmung am Reichstag und ist in derselben Schriftart ausgeführt

Die Arbeit bezieht sich auf den Schriftzug „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ am Reichstag, was insbesondere durch die Wahl der gleichen, von Peter Behrens entworfenen Schrift unterstrichen wird. Der Künstler betont den Bedeutungsunterschied zwischen Volk und Bevölkerung: Der Begriff Bevölkerung schließt alle Menschen ein, die in einem Land leben. Hans Haacke hat sich bei seiner Aktion von einem Satz Bertolt Brechts inspirieren lassen:

„Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung […] sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht.“[2]

Mitglieder des Deutschen Bundestages sind eingeladen, Erde aus ihrem Wahlkreis in die Arbeit einzubringen. Die Pflanzen wachsen aus zufällig gelandeten oder in den Erdbeiträgen enthaltenen Samen. Das im Laufe der Zeit frei wachsende Biotop soll unangetastet bleiben. In einer weiteren, 2017 für die Documenta 14 konzipierten Arbeit greift Hans Haacke die Terminologie und die damit verbundenen Debatten auf: Wir (alle) sind das Volk.[3]

Seitdem wurde die jeweils ortsspezifisch angepasste Arbeit in Form von Flaggen und Bannern mehrfach international gezeigt.[4]

Kontroversen

Abgeordnete des Deutschen Bundestags vor der Abstimmung

Aufgrund der politischen Stellungnahme des Kunstwerkes kam es zunächst zu einer politischen Kontroverse über seine Errichtung. Volker Kauder, Mitglied des Kunstbeirats des Bundestags, wandte sich als Einziger in diesem Gremium[5] gegen das Kunstwerk:

„Ich sage Nein zu diesem simplen und für unser Haus unwürdigen Kunstwerk. Ich sage Nein dazu, dass der Versuch unternommen wird, das deutsche Volk verächtlich zu machen, auf eine kurze Zeit seiner Geschichte zu reduzieren. Ich sage Nein zu dem Versuch der Distanzierung des Deutschen Bundestags von seinem eigenen Volk.“

Im Bundestag widersprachen besonders Abgeordnete der CDU wie Norbert Lammert, aber auch die damalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer von den Grünen zunächst einem Ankauf der Arbeit. Es handele sich, so Lammert, dabei um eine „skurrile Bundesgartenschau“[6] und eine „Albernheit“. Wenn Abgeordnete sich dabei praktisch beteiligen sollten, müssten sie auch darüber diskutieren dürfen.

Für das Kunstwerk setzte sich Gert Weisskirchen (SPD) ein:

„Hier werden nicht die Widmungen ‚Dem Deutschen Volke‘ und ‚Der Bevölkerung‘ als Feindbegriffe einander gegenübergestellt, sondern beide Begriffe werden zueinander gestellt, um miteinander einen Dialog zu führen über die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir künftig leben? Das will uns der Künstler sagen.“[7]

Für den FDP-Politiker Ulrich Heinrich symbolisiert Haackes Kunstwerk den Übergang vom Ius sanguinis zum Ius soli.[8]

Haackes Arbeit stelle Fragen hoch politischer Natur, so der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, einer der zentralen Befürworter des Projekts:

„Sie zielen auf das Ethos des Parlamentariers, fragen, welchen Normen er sich verpflichtet weiß und in welche Verantwortung er sich gegenüber Menschen, die in unserem Land leben, gestellt sieht.“[9]

Entscheidend sei, dass der Betrachter Stellung bezieht und sich gedanklich mit Haackes Projekten auseinandergesetzt habe.

Ein fraktionsübergreifender Gruppenantrag gegen die Errichtung des Kunstwerkes wurde schließlich mit 260 gegen 258 Stimmen abgelehnt.[10]

Bis zur aktuellen Legislaturperiode (Juni 2020) haben sich ca. 400 Abgeordnete aus allen Fraktionen mit Erde aus ihren Wahlkreisen beteiligt.[11]

Kommentare aus den Reihen der Medien und der Gesellschaft

Die FAZ bezichtigte Haacke in einem Kommentar, er wolle den Bundestag dem deutschen Volk „wegnehmen“, und die Arbeit sei verfassungswidrig, ein Urteil, zu dem auch ein von der CDU in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten gelangte.[12]

Dass jeder Bundestagsabgeordnete einen Sack Erde aus seinem Wahlkreis in einen Erdtrog schütten sollte, bewerteten Ästheten unter Haackes Kritikern „als kirchentagshaftes Gemeinschaftskitschritual“, andere Kritiker „als problematische Reminiszenz an NS-Bodenrituale“.[13]

Der Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler kritisierte, dass nicht der Kunstbeirat des Bundestags, sondern der Deutsche Bundestag selbst die Entscheidung über die Anlage des Kunstwerks zu treffen hatte, da einzelne Abgeordnete versucht hätten, „ihre persönlichen Geschmacksurteile in Bezug insbesondere auf das Kunstwerk von Hans Haacke durch Plenarabstimmungen mehrheitsfähig zu machen und dadurch ein unzuständiges Gremium, nämlich das Plenum des Deutschen Bundestages, mit Entscheidungen zur Qualität von Kunstwerken befassen.“[14]

Urheberrecht am Kunstwerk

Zu überraschender Aufmerksamkeit im Internet kam das Kunstwerk später noch einmal, als der Künstler es verbieten ließ, dass auf einer privaten Website[15] ein Foto der Installation gezeigt wird. Über die Verwertungsgesellschaft VG Bild-Kunst untersagte er der Besitzerin des Blogs die Nutzung für die fotografische Darstellung seines Kunstwerks im Internet. Während der Künstler aufgrund des deutschen Urheberrechts juristisch im Recht ist (ein allgemeines Recht auf öffentliche Präsentation von Fotos von Kunstwerken besteht nur, soweit diese Kunstwerke im öffentlichen Raum stehen; das Innere des Reichstagsgebäudes gilt nicht als öffentlicher Raum), wird in Kommentaren immer wieder auf den Widerspruch zum Inhalt des Schriftzugs hingewiesen.

Literatur

  • Michael Diers, Kaspar König (Hrsg.): „Der Bevölkerung“. Aufsätze und Dokumente zur Debatte um das Reichstagsprojekt von Hans Haacke. König, Köln 2000.
  • Heidrun Alzheimer: Fetisch – Reliquie – Erinnerung. Gedanken zum symbolischen Umgang mit Erde. In: Anja Schöne, Helmut Groschwitz (Hrsg.): Religiosität und Spiritualität: Fragen, Kompetenzen, Ergebnisse. Waxmann, Münster, New York 2014, S. 67–89, hier S. 67 f.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. bundestag.de
  2. Bertolt Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. 1935
  3. Sarah Alberti: Wir (alle) sind das Volk – Hans Haackes Beitrag für die documenta 14, in: kunsttexte.de - E-Journal für Kunst- und Bildgeschichte, Gegenwart, 4.2017 [1]
  4. u. a. 2019 am Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Kunst Natur Politik: Jetzt, kuratiert von Ursula Ströbele [2]
  5. Christian Bauschke: Der deutschen Bevölkerung. In: Die Welt, 7. Dezember 1999
  6. 97. Sitzung. 5. April 2000. (PDF) Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, S. 9035
  7. 97. Sitzung. 5. April 2000. (PDF) Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, S. 9036
  8. 97. Sitzung. 5. April 2000. (PDF) Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, S. 9041
  9. Michael Diers, Kaspar König (Hrsg.): „Der Bevölkerung“. Aufsätze und Dokumente zur Debatte um das Reichstagsprojekt von Hans Haacke. König, Köln 2000, S. 20
  10. Vanessa Müller: Provokante Triebe. Bundestag muss über Blumenbeet-Kunstwerk entscheiden. In: Spiegel Online, 25. Februar 2000
  11. Offizielle Homepage des Kunstwerks mit Webcam-Bildern[3]
  12. Jörg Lau: Deutscher Mutterboden. In: Die Zeit, Nr. 9/2000
  13. Niklas Maak: Kunst kritisch? In: FAZ, 22. Dezember 2006
  14. bbk-bundesverband.de (Memento des Originals vom 15. April 2005 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.bbk-bundesverband.de Pressemitteilung des Bundesverbandes Bildender Künstlerinnen und Künstler, 12. März 2000
  15. Petra Tursky-Hartmann: Bevölkerung gehört Verwertungsgesellschaft. In: tursky.blogspot.de. 13. November 2006, abgerufen am 17. Dezember 2015.

Koordinaten: 52° 31′ 8″ N, 13° 22′ 34″ O