Die Muschel und der Kleriker

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Film
Deutscher Titel Die Muschel und der Kleriker
Originaltitel La Coquille et le Clergyman
La coquille et le clergyman 1.jpg
Produktionsland Frankreich
Originalsprache Französisch
Erscheinungsjahr 1928
Länge 600 Meter, bei 18 Bildern pro Sekunde ca. 38 Minuten
Stab
Regie Germaine Dulac
Drehbuch Antonin Artaud
Produktion Délia Film
Musik Iris ter Schiphorst (2004)
Kamera Paul Parguel,
Paul Guichard
Besetzung

Die Muschel und der Kleriker (Originaltitel: La Coquille et le Clergyman, alternativ Die Muschel und der Geistliche) ist ein französischer Kurzstummfilm, den Germaine Dulac 1927 nach einem Drehbuch von Antonin Artaud (1896–1948) für ihre Produktionsgesellschaft Délia Film realisierte. Er gilt, noch vor Buñuel und Dalí, als erstes surrealistisches Werk der Filmgeschichte.

Handlung

Ein junger Priester, gefangen im ödipalen Dreieck zwischen einer unerreichbaren Frau und einem jovial-dominanten Mann,[1] kann gegen diesen, einen mit Orden dekorierten Offizier, zwar den Kampf um ihre Gunst für sich entscheiden, muss aber, von unerfüllter Sehnsucht, Kastrationsangst und Zerstörungswut hin- und hergerissen, schließlich an seinen Seelenkonflikten scheitern.[2]

Hintergrund

Der Film wurde von Germaine Dulac nicht nur realisiert, sondern auch produziert. Die Vorlage lieferte der Theaterregisseur und Dramatiker Antonin Artaud, der sich 1924 der Bewegung der Surrealisten um André Breton angeschlossen hatte.

Als Die Muschel und der Kleriker am 9. Februar 1928 in Paris im Studio des Ursulines, einem Kino in der Rue des Ursulines im 5. Arrondissement in Paris,[3] uraufgeführt wurde, kam es zum Eklat zwischen Artaud und Dulac.[4] Er war mit der Umsetzung seines Drehbuchs nicht zufrieden und warf der Regisseurin vor, sie habe sein Szenario in die Sphäre des Traums gehoben und damit völlig entschärft, sie habe das Buch „feminisiert“.[5]

Nach der Premiere in Paris lief der Film auch in Ungarn und Polen, in Übersee, in Argentinien und in Japan, wo er aber erst am 16. Februar 1933 Premiere hatte. Inhaber der Rechte ist Jean-Michel Mareau.[6]

Rezeption

In der Zeit, als die Avantgarde der Bildenden Kunst das neue Medium Film als „willkommene Spielwiese“ entdeckte,[7] brach Die Muschel und der Kleriker zwei Jahre vor Ein andalusischer Hund mit den (neuen) Sehgewohnheiten, die das Publikum gerade erst verinnerlicht hatte. Der film-dienst befand, jede Szene strotze nur so vor „visuellen Kabinettstückchen wie Doppelbelichtungen, Überblendungen, Verzerrungen und extremen Schärfe-/Unschärfe-Gegensätzen“. Dabei entstehe ein „psychoanalytischer Albtraum über sexuelle Frustrationen und Begehrlichkeiten“.[7] Für Deluc ging es um das Unterbewusstsein des Geistlichen: „Die Träume und Phantasien, die Zeitlupenbilder und Überblendungen, die geteilten Bilder und die Assoziationsmontagen, alles repräsentiert den inneren Zustand des Priesters; die äußere Welt ist nur ein Gleichnis für Religion, Gewalt und Sexualität.“[8]

Der niederländische Schriftsteller Menno ter Braak hielt im Frühjahr 1929 Einführungen zu Filmen, die auf große Resonanz bei Seelenärzten trafen. Da Artaud – „bewandert in den Kunstgriffen er Psychoanalyse“ – so „raffiniert“ gewesen sei, „den Film mit Symbolen der Wollust wie Muscheln, Schwertern, Schlüsseln und Türen vollzustopfen“, wurde der Film in Amsterdam zweimal in einem Saal voller Psychiater und anschließend einer Delegation der Niederländischen Vereinigung für Psychiatrie und Psychoanalyse vorgeführt.[9] Von der Kritik wird Die Muschel und der Kleriker bis heute mit Begrifflichkeiten der Psychoanalyse gedeutet,[10] etwa der freudschen Traumsymbolik.[11]

Die Kritiker Odette und Alain Virmaux bezeichnen den Film als eine „Strategie der Selbstinszenierung“ des harten Kerns um André Breton,[12] zu dem Artaud sich zählte, gegenüber der Filmemacherin Dulac, durch die er sich von den Dreharbeiten ausgeschlossen fühlte. Artaud hätte gern als Schauspieler mitgewirkt. Eine Reihe von brieflich gemachten Vorschlägen zur Inszenierung hatte Dulac ihm nicht beantwortet. Stattdessen hatte sie sich zunehmend von ihm distanziert.

Wiederaufführungen

Die Muschel und der Kleriker wurde im Rahmen der 27. Internationalen Filmfestspiele Berlin beim 7. Internationalen Forum des jungen Films im Berliner Kino Arsenal zusammen mit Madame Beudets sonniges Lächeln (ebenfalls von Germaine Dulac) gezeigt. Am 16. August 2000 wurde der Film, wiederum zusammen mit Madame Beudets sonniges Lächeln im National Museum of Women In The Arts in Washington D.C., USA mit live-Begleitung durch das Silent Orchestra (Carlos Garza und Rich O’Meara) aufgeführt.[13]

Der Kulturkanal Arte strahlte den Film, nachdem er vom Niederländischen Filmmuseum Amsterdam nach systematischer Sichtung aller verfügbaren Filmmaterialien und Ergänzung mit Material aus dem Museum of Modern Art (MoMa) restauriert worden war, am Freitag, den 24. Juni 2005 im deutschen Fernsehen aus.[14]

Eine neue Musik zur restaurierten Fassung von La Coquille et le Clergyman für 12 Instrumente und CD-Zuspiele hatte 2004 die deutsch-holländische Musikerin Iris ter Schiphorst komponiert. Die Musik wurde am 6. April 2005 in der Stadsschouwburg zu Amsterdam im Rahmen der Filmbiënnale des Filmmuseums Amsterdam vom Asko Ensemble, dirigiert von Peter Rundel, erstaufgeführt. Sie fand den Beifall der Kritik, beispielsweise im NRC Handelsblad: „Die Musik der niederländisch/deutschen Iris ter Schiphorst stellt eine natürliche Kombination mit dem Film her […] eine echte Einheit vom Bild und Musik. Manchmal folgt sie den Assoziationen ganz präzise, dann wieder geht sie ihren eigenen Weg. Ter Schiphorst weiß den Instrumenten einen ganz eigenen Klang zu entlocken: dünn und unwirklich. Dieser paßt ausgezeichnet zum Film […]“[15]

Eine kleine Werkschau mit drei Filmen von Germaine Dulac, bei der auch Die Muschel und der Kleriker nicht fehlte, zeigte die Cinémathèque Leipzig am 16. Mai 2008 mit musikalischer Begleitung durch Anja Kleinmichel, Piano, und Lutz Eitel, Elektronik/E-Gitarre.[16]

Der Verlag absolut Medien brachte Die Muschel und der Kleriker zusammen mit zwei weiteren Filmen von Germaine Dulac, Madame Beudets sonniges Lächeln und Die Einladung zur Reise, 2005 auf DVD in den Handel.[17]

Bildgalerie

Literatur

  • Antonin Artaud: La Coquille et le Clergyman. In: Nouvelle Revue Française. Paris November 1927.
  • Antonin Artaud: Film und Abstraktion / LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN. Erste Veröffentlichung In: Le Monde Illustré. Nr. 3645, Oktober 1927; deutsch von Frieda Grafe in: Filmkritik. Nr. 3/69, S. 197 f.
  • Antonin Artaud: Kino und Realität. In: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919–1939. Ein Lesebuch. Leipzig 1990, S. 591–594, hier S. 592.
  • Ulrich Gregor, Enno Patalas: Geschichte des Films. Band 1, Verlag Rowohlt, Berlin 1976, ISBN 3-499-16193-1.
  • Léon Hanssen: Menno ter Braak (1902–1940). Leben und Werk eines Querdenkers. Waxmann Verlag, Münster 2011, ISBN 978-3-8309-7464-2.
  • Karyn Kay, Gerald Peary (Hrsg.): Women and the cinema : a critical anthology. Dutton, New York 1977, ISBN 0-525-47459-5. (englisch)
  • Jean-François Lyotard: Das Anti-Kino. In: Dimitri Liebsch (Hrsg.): Philosophie des Films. Grundlagentexte, Paderborn 2005, S. 85–99.
  • Uwe M. Schneede: Die Kunst der Klassischen Moderne. (= Band 2560 von C. H. Beck Wissen; Band 11 in der Beck'sche Reihe Geschichte der Kunst in 12 Bänden). Verlag C.H.Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-59110-5.
  • Horst Turk (Hrsg.): Theater und Drama: theoretische Konzepte von Corneille bis Dürrenmatt. (= Band 8 von Deutsche TextBibliothek). Gunter Narr Verlag, Tübingen 1992, ISBN 3-87808-388-2, S. 325.
  • Alain und Odette Virmaux: La Coquille et le clergyman. Essai d’élucidation d’une querelle mythique. Verlag Paris expérimental, 1999, ISBN 2-9500635-9-4. (französisch)
  • Alain und Odette Virmaux: Andre Breton (Qui etes-vous?). Verlag La Manufacture, 1987, ISBN 2-7377-0040-X. (französisch)
  • William van Wert: Germaine Dulac, First Feminist Filmmaker. In: Women and Film. Nr. 5/6, (Berkeley) Santa Monica 1974.
  • Tami Michelle Williams: Beyond Impressions. The Life and Films of Germaine Dulac from Aesthetics to Politics. University of California, Verlag ProQuest, Los Angeles, 2007, ISBN 978-0-549-44079-6, S. 2, 5, 64, 78, 108, 158, 183, 215–216, 245. (englisch)
  • Friedrich von Zglinicki: Der Weg des Films. Geschichte der Kinematographie und ihrer Vorläufer. Rembrandt Verlag, Berlin 1956, S. 478–479.

Artikel

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Essay (Memento des Originals vom 18. Juli 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.arte.tv von Nina Goslar bei arte.tv
  2. Detaillierte Inhaltsangabe im Katalogblatt der Freunde der deutschen Kinemathek im Programm zum 7. internationalen forum des jungen films Berlin 1977.
  3. Xavier Delamare: Studio des Ursulines. cinematreasures.org, abgerufen am 8. Juli 2014.
  4. La coquille et le clergyman. Ciné-Club de Caen, abgerufen am 8. Juli 2014 (französisch): „[…] la présentation du film au studio des Ursulines provoqua un des plus beaux chahut de l’époque: venus en force, les partisans d’Antonin Artaud hurlaient leur désapprobation devant le manque de compréhension “surréaliste” de la cinéaste, tandis que de nombreux spectateurs faisaient du vacarme pour protester contre l’incohérence des images.“
  5. zit. nach Van Werth 1974.
  6. siehe Van Werth 1974, Seite V.
  7. a b Jörg Gerle: La Coquille et le Clergyman (Die Muschel und der Geistliche). In: film-dienst, 12/2005. Abgerufen am 8. Juli 2014. (online bei Boosey & Hawkes)
  8. William v. Werth, 1974.
  9. Léon Hanssen S. 117 u. Anm. 289–291. Zit. von M. ter Braak, politicus zonder partij. S. 109.
  10. Schneede, 2009. S. 79.
  11. vgl. Gregor/Patalas, 1976.
  12. Alain und Odette Virmaux: La Coquille et le clergyman. Essai d’élucidation d’une querelle mythique. Paris expérimental, 1999, ISBN 2-9500635-9-4 (französisch).
  13. August 16, 2000 – Two films by Germaine Dulac. silentorchestra.com, abgerufen am 8. Juli 2014 (englisch).
  14. La Coquille et le Clergyman. Germaine Dulac – Pionierin des Stummfilms. (Nicht mehr online verfügbar.) Arte, 21. Juni 2005, archiviert vom Original am 14. Juli 2014; abgerufen am 8. Juli 2014.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.arte.tv
  15. NRC Handelsblad, 7. April 2005. Zitiert nach Iris ter Schiphorst – La Coquille et le Clergyman. Boosey & Hawkes, abgerufen am 8. Juli 2014.
  16. Einladung zur Reise / Disque 957 / Die Muschel und der Kleriker – Drei Filme von Germaine Dulac – live begleitet. Cinémathèque Leipzig, abgerufen am 8. Juli 2014.
  17. Germaine Dulac – Drei Filme (1922-1928). absolut MEDIEN, abgerufen am 10. Mai 2016 (S/W, teilw. viragiert, 117 Minuten.).