Die heilige Familie

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Die heilige Familie, 1845
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Bruno Bauer. Fotografie von Leopold Haase (1831–1901)

Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten ist der Titel eines Buches von Karl Marx und Friedrich Engels, das im Frühjahr 1845 erschien.

Es ist die erste Schrift, die Marx und Engels gemeinsam verfassten. Sie entschlossen sich dazu bei ihrem ersten persönlichen Treffen im August 1844.

Druckvorbereitung

In einem undatierten Brief vom Herbst 1844 an Heinrich Börnstein fragte Marx, ob A. Frank in Brüssel das Buch verlegen könnte.[1] Eine weitere Anfrage richtete Marx an Julius Campe in Hamburg.[2] Schließlich trat Marx in Briefwechsel mit der erst am 1. Juli 1844 gegründeten Literarischen Anstalt (J. Rütten).[3] Am 3. Dezember 1844 schrieben die beiden Verleger Joseph Rütten und Zacharias Loewenthal an Marx, dass der Buchsatz fast fertig sei und schickten einen Wechsel über 1000 Franc.[4][5] Am 9. Dezember 1844 berichtete der metternichsche Konfident Hermann Ebner, dass Marx eine Schrift gegen Bruno Bauer bei Rütten drucken lassen würde. Am 27. Dezember 1844 schlug Loewenthal Marx den endgültigen Titel der Schrift vor: Die Heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Consorten.[6][7] Am 15. Januar 1845 fügte Loewenthal die letzten von Marx erbetenen Korrekturen ein.[8][9] Am 24. Februar 1845 wurde das Buch dann ausgeliefert.[10] Den Druck bewirke die frankfurter Buch- und Steindruckereu Streng[11] und Schneider.[12]

Absicht der Schrift

Absicht der Autoren war, sich von der Theorieentwicklung Bruno Bauers – ehemals Mentor von Marx – zu distanzieren und sich zum „realen Humanismus“ Ludwig Feuerbachs zu bekennen.[13]

Hauptinhalt ist der Widerspruch zwischen Hegels idealistischer und Marx' materialistischer Auffassung von Dialektik und insbesondere eine Kritik an den Junghegelianern Bruno Bauer und dessen Bruder Edgar Bauer sowie an einer Reihe weniger bekannter Autoren aus dem Kreis der Berliner „Freien“. Auffällig ist, dass Marx hier Max Stirner, der zum engeren Umkreis Bauers gehörte, nicht zu den „Consorten“ zählte und von seiner Kritik ausnahm.

Der Tenor des Textes, der zu etwa 90 % von Marx stammt,[14] ist durchgehend polemisch bis verhöhnend, was nicht erst der Untertitel anzeigt: Gegen Bruno Bauer & Consorten. Schon der Haupttitel verspottet Bruno Bauers Philosophie mit dem erfundenen Begriff „kritische Kritik“. Denn Bauer nannte seine kritische Theorie,[15] die er vor allem in Artikeln des Jahrgangs 1844 der Allgemeinen Literaturzeitung entwickelte, natürlich nicht „Kritische Kritik“, sondern „Reine Kritik“.[16]

Die Junghegelianer gingen in Anlehnung an Hegel davon aus, dass die Geschichte nur Ausdruck der Weiterentwicklung menschlicher Vernunft sei und lehnten daher jedes politische Engagement ab. Marx und Engels kritisierten diese Auffassung in der Heiligen Familie als realitätsfern:

„Wie bei Hegel ist das Resultat der wirklichen Entwickelung nichts anderes als die bewiesene, d. h. zum Bewußtsein gebrachte Wahrheit. [...] Die absolute Kritik spricht von ‚Wahrheiten, die sich von vornherein von selbst verstehen‘. [...] Eine Wahrheit, die sich von selber versteht, hat für die absolute Kritik, wie für die göttliche Dialektik, ihr Salz, ihren Sinn, ihren Wert verloren. Sie ist fad geworden wie abgestandnes Wasser. Die absolute Kritik beweist daher einerseits alles, was sich von selbst versteht, und außerdem viele Dinge, die das Glück haben, unverständig zu sein, sich also niemals von selbst verstehen werden. Andrerseits versteht sich ihr alles das von selbst, was einer Entwickelung bedarf. Warum? Weil es sich bei wirklichen Aufgaben von selber versteht, daß sie sich nicht von selber verstehn.“[17]

Nach Friedrich Engels eigenen Worten habe er selbst „fast nichts“[18] zu dem Werk beigetragen, weshalb er es für „kurious“[19] erachtet, dass er neben Marx als Autor genannt wird. Ansonsten bewertet er das Werk als „famos“, „prächtig geschrieben und zum kranklachen“, aber in seiner Gänze „zu groß“ und insgesamt „dem größeren Publikum unverständlich“.[20]

Bedeutung der Schrift

Die heilige Familie ist eine Schrift des Übergangs in der theoretischen Entwicklung von Marx. Während er sich hier noch zu Feuerbach bekennt, zeigt die Niederschrift seiner Thesen über Feuerbach, kurz nach Erscheinen des Buches im Februar 1845, dass er sich bereits von Feuerbach zu lösen begann. Dieser Prozess begann unter dem Eindruck der Feuerbach-Kritik in Max Stirners Buch Der Einzige und sein Eigentum (Oktober 1844) und wurde abgeschlossen, nachdem Marx im September 1845 Feuerbachs Replik auf Stirner und dessen Duplik gelesen hatte.[21] Anschließend begann Marx mit seiner Stirner-Kritik „Sankt Max“, die aber unveröffentlicht blieb und erst 1932 im Rahmen des Textkonvoluts Die deutsche Ideologie in der Marx-Engels-Gesamtausgabe erschien.[22]

Ausgaben

  • Originalausgabe, Literarische Anstalt (J. Rütten). Frankfurt a. M. 1845. (Digitalisat)
  • Marx-Engels-Gesamtausgabe. Abt. 1, Sämtliche Werke und Schriften mit Ausnahme des Kapital, Bd. 3: Die heilige Familie und Schriften von Marx von Anfang 1844 bis Anfang 1845. Marx-Engels-Verlag, Berlin 1932 (Reprint Auvermann, Glashütten im Taunus 1970)
  • Faksimilisierter Reprint, Rütten & Loening, Berlin 1953.
  • Marx-Engels-Werke Bd. 2, Dietz Verlag, Berlin 1957, S. 3–223. (DEA Archiv)

Literatur

  • Alexis Schmidt: Rezension: In: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik. W. Besser, Berlin 1845. Nr. 55 bis 58 März 1845, Spalte 438 bis 461.Digitalisat
  • Lenin: Konspekt zu Marx' und Engels' Werk „Die heilige Familie“. In: W. I. Lenin. Werke. Bd. 38. Philosophische Hefte. Dietz Verlag, Berlin 1968, S. 3–37.
  • Fritz Brügel: Die Verlagsgeschichte der ‚Heiligen Familie‘. In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift hrsg. von F. Adler, Wien 1928, Band 21, Heft 10, S. 508–510.
  • Werner Sellhorn: Marx und Engels: Die Heilige Familie u. a. Die Deutsche Ideologie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 2. Jg. (1954) Heft 3, S. 698 ff.
  • Walter Markov: Jacques Roux und Karl Marx. Zum Einzug der Enragés in die Heilige Familie. Akademieverlag, Berlin 1965. (=Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Deutsche Akademie der Wissenschaften <Berlin, Ost> / Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften 1)
  • Wolfgang Mönke: Die heilige Familie. Zur Ersten Gemeinschaftsarbeit von Karl Marx und Friedrich Engels. Akademie Verlag, Berlin 1972. (Enthält u. a. 86 Dokumente von 1842–1895.)
  • Wolfgang Mönke: Zur Redaktions- und Verlagsgeschichte der „Heiligen Familie“. In: Hundertfünfundzwanzig Jahre Rütten & Loening. 1844–1969. Ein Almanach. Rütten & Loening, Berlin 1969, S. 100–123.
  • Horst Ullrich: Zur Reaktion der bürgerlichen Ideologie auf die „Heilige Familie“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 17. Jg., 1969, Heft 7. ISSN 2192-1482
  • Die heilige Familie, oder Kritik der krititschen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten. In: Bert Andréas: Karl Marx / Friedrich Engels. Das Ende der klassischen deutschen Philosophie. Bibliographie. Trier 1983, S. 73–86. (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus Nr. 28)
  • Marion Barzen: Die „Heilige Familie“ in Charlottenburg. In: Studien zu Marx' erstem Paris-Aufenthalt und zur Entstehung der Deutschen Ideologie. Internationale Konferenz am 12. Februar 1990 im Studienzentrum Karl-Marx-Haus in Trier. Trier 1990, S. 138–162. (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus Trier, Heft 43).
  • 150 Jahre Rütten & Loening. … mehr als eine Verlagsgeschichte. 1844–1994. Hrsg. von Carsten Wurm. Mit einem Geleitwort von Alfred Grosser. Rütten & Loening, Berlin 1994. ISBN 3-352-00500-1
  • Hermann-Peter Eberlein: Bruno Bauer. Vom Marx-Freund zum Antisemiten. Karl Dietz Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-320-02180-1, S. 139–144.

Weblinks

Commons: Die heilige Familie – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Marx-Engels-Gesamtausgabe. Abteilung III. Bd. 1, S. 249.
  2. Alfred Frommhold: Hundertundzehn Jahre Verlag Rütten & Loening Berlin. 1844 bis 1954. Rütten & Loening, Berlin 1954, S. 28. Marx-Engels-Gesamtausgabe. Abteilung III. Bd. 1, S. 247.
  3. Faksimile der Gründungsanzeige in: Hundertfünfundzwanzig Jahre Rütten & Loening 1844 – 1969. Ein Almanach, S. 21.
  4. Wolfgang Mönke, S. 160 f.
  5. Marx-Engels-Gesamtausgabe. Abteilung III. Band 1, S. 446.
  6. Wolfgang Mönke, S. 163.
  7. Marx-Engels-Gesamtausgabe. Abteilung III. Band 1, S. 447.
  8. Wolfgang Mönke, S. 164 ff.
  9. Marx-Engels-Gesamtausgabe. Abteilung III. Band 1, S. 448 f.
  10. Zacharias Loewenthal an Hermann Ebner 24. Februar 1845. (Hans Adler (Hrsg.): Literarische Geheimberichte. Protokolle der Metternich-Agenten. Bamd II. 1844-1848-C. W. Leske, Köln 1981, S. 95.)
  11. Friedrich Reinhard Streng (Geb. 11. Februar 1792 in Frankfurt am Main; gest. 4. November 1875 ebenda.) (Alexander Dietz: Frankfurter Handelsgeschichte. 4. Band. II. Teil. Frankfurt am Main 1925, S. 511.)
  12. Friedrich Schneider (Geb. Januar 1789 in Freiberg (Sachsen)). Das Sterbedatum konnte nicht ermittelt werden.(Auskunft vom 19. Januar 2009 von Michael Mattheus, Stadtarchiv Frankfurt a. M.)
  13. Siehe die „Vorrede“ zum Buch, speziell den ersten Satz.
  14. Der Textanteil von Marx (ungefähr 90 %) ergibt sich aufgrund der Angaben im Inhaltsverzeichnis – Band 2 der MEW, S. 723–725 –, wo zu jedem Kapitel der Autor genannt ist
  15. Einer von Bauers diesbezüglichen Artikeln Was ist jetzt Gegenstand der Kritik?
  16. Gleichwohl ist sie aufgrund der Wirkungsmacht von Marx fast nur noch als „kritische Kritik“ – und auch nur noch als Phrase – bekannt.
  17. Karl Marx: Die heilige Familie, VI. Kapitel online
  18. Friedrich Engels in Marx Friedrich Engels Werke Band 27, S. 22
  19. Friedrich Engels in Marx Friedrich Engels Werke Band 27, S. 22
  20. Friedrich Engels in Marx Friedrich Engels Werke Band 27, S. 26
  21. anonym [Ludwig Feuerbach]: Über das „Wesen des Christentums“ in Beziehung auf den „Einzigen und sein Eigentum“. In: ders.: Gesammelte Werke, Band 9, Berlin 1990, S. 427–441; M[ax] St[irner]: Recensenten Stirners. In: Max Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken, Nürnberg 1986, S. 147–205.
  22. Eine material- und kenntnisreiche Studie zu dieser Phase der Theorieentwicklung bei Marx ist: Wolfgang Eßbach: Die Bedeutung Max Stirners für die Genese des historischen Materialismus (Diss. 1978), unter dem Titel Gegenzüge. Frankfurt/M.: Materialis 1982. Vgl. auch das Standardwerk von Eßbach: Die Junghegelianer. München: Wilhelm Fink 1988; einen Abriss bietet: Bernd A. Laska: Den Bann brechen ! – Max Stirner redivivus. Teil 1: Über Marx und die Marxforschung In: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr. 3 (11), 3. August 2000, S. 17–24.