Alfred Grosser

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Alfred Grosser (2010)

Alfred Grosser (* 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main) ist ein deutsch-französischer Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler.

Leben

Sein Vater Paul Grosser (1880–1934) war Direktor einer Frankfurter Kinderklinik, Sozialdemokrat und jüdischer Herkunft, nach Angaben Alfred Grossers außerdem Freimaurer. Ende 1933 musste die Familie nach Frankreich emigrieren.[1] Durch eine Verordnung des Justizministers Vincent Auriol am 1. Oktober 1937 wurde Alfred Grossers inzwischen verwitweter Mutter Lily Grosser und ihren Kindern die französische Staatsbürgerschaft verliehen. Dies bewahrte sie davor, von der Regierung Daladier im September 1939 wie die anderen von Hitler verfolgten Deutschen als Feinde in französischen Lagern interniert zu werden. Alfred Grosser studierte Politikwissenschaft und Germanistik und war ab 1955 Inhaber eines Lehrstuhls am Institut d’études politiques de Paris (Sciences Po) in Paris. 1992 wurde er als Studien- und Forschungsdirektor an der Fondation nationale des sciences politiques emeritiert.

Alfred Grosser, 1975
Alfred Grosser (1929/30) als Kind in Frankfurt.

Grosser war ab 1965 Mitarbeiter zahlreicher Zeitungen und Fernsehanstalten. Unter anderem schrieb er politische Kolumnen für die Tageszeitungen La Croix und Ouest-France. Er setzte sich sehr für die deutsch-französische Verständigung ein.

Neben Joseph Rovan (1918–2004) ist Grosser ein herausragender französischer Intellektueller mit deutsch-jüdischen Wurzeln. Er hat sich in der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart für die deutsch-französischen Beziehungen eingesetzt und war einer der intellektuellen Wegbereiter im Vorfeld des Elysée-Vertrags. Bei zahlreichen Reisen und Vorträgen in Deutschland und Frankreich hat er an der Aussöhnung der Nachbarländer mitgewirkt und sie gefestigt.[2]

Grosser definiert sich als „Atheist, der dem Christentum nahe steht“.[3]

Haltung zu Israel

Grosser ist bekannt als Gegner der israelischen sowie zum Teil auch der französischen Regierungspolitik. Seit einigen Jahren vertritt er die These, dass „Israelkritik“ in Deutschland nicht erlaubt sei und eine Keule gegen die Deutschen geschwungen werde, die besage „[...] ich schlage Dich mit Auschwitz [...]“. Er bekräftigte damit ausdrücklich die Position und Formulierung Martin Walsers, die 1998 zu einem Eklat geführt hatte. Grosser äußerte außerdem die Meinung, die Politik Israels fördere den Antisemitismus.[4] Aus Protest gegen die aus seiner Sicht unausgewogene Nahost-Berichterstattung verließ der Publizist 2003 den Aufsichtsrat des französischen Magazins L’Express: „Die Chefredaktion hatte nur zögernd meine positive Rezension eines israel-kritischen Buches veröffentlicht. In der folgenden Nummer druckte man einen Sturm Leserbriefe, die mich beschimpften.“ ([5])

Anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises 2007 durch den Focus-Herausgeber Helmut Markwort an Henryk M. Broder kritisierte Alfred Grosser beide als des Börnepreises und einer Verleihung in der Frankfurter Paulskirche für nicht würdig.[6] Hintergrund war eine vom Focus nicht abgedruckte positive Rezension Grossers über ein Buch von Rupert Neudeck, in dem dieser Israel als Apartheidstaat bezeichnet.

Grosser war Hauptredner bei der am 9. November 2010 von der Stadt Frankfurt am Main veranstalteten Gedenkfeier an die Pogromnacht in der Paulskirche, wofür Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth im Vorfeld von verschiedenen Seiten kritisiert worden war. Mitglieder des Zentralrats der Juden in Deutschland hatten gedroht, die Feier zu verlassen, sollte Grosser „ausfallend gegenüber Israel“ werden.[7] Roth erklärte daraufhin, einige Äußerungen Grossers seien ihr nicht bekannt gewesen, verteidigte jedoch dessen Einladung, da er sich „viele Jahrzehnte um die Aussöhnung der Völker bemüht“ habe.[8] Der befürchtete Eklat blieb aus. Sowohl Grosser als auch der Redner des Zentralrats der Juden, Vizepräsident Dieter Graumann, waren bei der Gedenkfeier um Mäßigung bemüht und gaben sich die Hand.[9]

In einer Rezension verteidigte Grosser die umstrittene Heinz-Berggruen-Biographie von Vivien Stein (Berggruens „Wille, keine Steuern zu zahlen [...] sollte ernst genommen werden.“).[10] Zugleich kritisiert er darin Michael Naumann, der als Staatsminister für Kultur den Kauf der Sammlung Berggruen seinerzeit betrieben hatte. Naumann wies den Vorwurf Grossers zurück, er sei „Antworten schuldig“ geblieben, und zeigte sich seinerseits verwundert darüber, dass Grosser als Rezensent nicht auf die „negativ-dialektische Variante jenes Antisemitismus“ einging, die in Vivien Steins Vorwurf zu erkennen sei, Berggruen habe sich nicht offensiv zu seinem Judentum bekannt.[11]

In der Debatte um den Grass-Text Was gesagt werden muss verteidigte er dessen Autor. Grass habe zwar seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS zu lange verschwiegen, jedoch: „Es gab damals 900.000 junge Deutsche, die in der Waffen-SS waren, nicht aber in der SS.“ Er wiederholte seine Ansicht, dass sachliche Kritik an israelischer Politik in Deutschland tabuisiert sei: „Es heißt aber immer sofort, das sei Antisemitismus.“ Grosser sagte außerdem: „Die israelische Regierung provoziert.“ Und: „Um von der eigenen Politik etwa gegen die Siedler abzulenken, braucht man die Gefahr aus Iran.“ ([12])

Arno Widmann bezeichnete es im Januar 2015 als grotesk, dass mehr als die Hälfte des Wikipedia-Artikels über Grosser dessen Kritik an der israelischen Politik und die Kritik an der Kritik einnehme. Grosser habe vor Langem deutlich gemacht, wie wenig wichtig ihm „seine Jüdischkeit ... im Gesamt seiner politisch-religiösen Überzeugungen“ sei, „wie er an der Seite Israels steht, wenn es bedroht ist, aber keinen Grund sieht, darüber hinwegzusehen, wie es das Leben, die Existenz der Palästinenser bedroht.“[13]

An seinem 90. Geburtstag bestritt er am 1. Februar 2015 im Deutschlandfunk das Interview der Woche mit Aufsehen erregenden Aussagen zu vielen aktuellen und nicht mehr ganz so aktuellen politischen Fragen, hauptsächlich zur französischen und zur deutschen Politik und Kultur, insbesondere zum deutsch-französischen Verhältnis. Z. B. bezeichnete er Merkel und Hollande als im Grunde beide sozialdemokratisch (nicht sozialistisch), äußerte sich zu Marine Le Pen und ihrem Vater und kritisierte die französische Gefängnispolitik, „weil sie Mörder produziere“. Dabei bezog er sich auf die Unruhen in den Vorstädten in Frankreich und auf die Morde an den Redakteuren von Charlie Hebdo am 7. Januar 2015.[14]

Preise und Auszeichnungen

Für seine zur Völkerverständigung beitragenden Werke erhielt Grosser zahlreiche Preise und Auszeichnungen:

In Bad Bergzabern wurde schon zu seinen Lebzeiten ein Schulzentrum, bestehend aus Realschule plus und Gymnasium, nach ihm benannt.[22]

Schriften (Auswahl)

  • Deutschlandbilanz. Geschichte Deutschlands seit 1945, 1970.
  • Das Bündnis, 1981.
  • Versuchte Beeinflussung, 1981.
  • Der schmale Grat der Freiheit, 1981.
  • Das Deutschland im Westen, Carl Hanser, München 1985, ISBN 3-446-12619-8.
  • Frankreich und seine Außenpolitik, 1986.
  • Mit Deutschen streiten, 1987.
  • Mein Deutschland, 1993.
  • Deutschland in Europa, 1998.
  • Was ich denke., November 2000.
  • Wie anders sind die Deutschen?, Beck, 2002, ISBN 3-406-49328-9.
  • Wie anders ist Frankreich? Beck, München 2005, ISBN 3-406-52879-1.
  • Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen, Vandenhoeck & Ruprecht, September 2005.
  • Der Begriff Rache ist mir völlig fremd. In: Martin Doerry (Hrsg.): Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. DVA, München 2006, ISBN 3-421-04207-1 (auch als CD), S. 120–129.
  • Die Frage nach der Leitkultur. In: Robertson-von Trotha, Caroline Y. (Hrsg.): Kultur und Gerechtigkeit (= Kulturwissenschaft interdisziplinär/Interdisciplinary Studies on Culture and Society, Bd. 2), Baden-Baden 2007, ISBN 978-3-8329-2604-5.
  • Von Auschwitz nach Jerusalem. Rowohlt 2009, ISBN 978-3-498-02515-1.
  • Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011, ISBN 978-3-498-02517-5.
  • Le Mensch. Die Ethik der Identitäten. Dietz, Bonn 2017, ISBN 978-3-8012-0499-0.

Literatur

Gespräche

siehe auch Weblinks

Rezensionen

  • Frank Raudszus: Alfred Grosser. In: Frank Raudszus (Hrsg.): egotrip. Oktober 1998 (egotrip.de).
  • Michael Hereth: Alfred Grosser at his best. Ein blendendes Frankreichbuch. In: Das Parlament. Nr. 11, 14. März 2005 (bundestag.de – über das Buch Wie anders ist Frankreich).
  • Ursula Homann: Hinwendung zur Welt. Warum Alfred Grosser nicht an Gott glaubt. In: literaturkritik.de. Nr. 12, Dezember 2005 (literaturkritik.de – über das Buch Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen.).

Weblinks

Commons: Alfred Grosser – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Deutschlandradio: Im Schatten der Shoah 'Paul Grosser Freimaurer'. Abgerufen am 26. Februar 2012.
  2. Martin Strickmann: L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944–1950. Diskurs, Initiativen, Biografien. Peter Lang, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-631-52195-2.
  3. Alfred Grosser, un athée proche des chrétiens (Memento vom 19. Dezember 2013 im Internet Archive), rcf.fr, 14. September 2011 (französisch)
  4. "Israels Politik fördert Antisemitismus" (Memento vom 12. November 2010 im Internet Archive) – stern, 12. Oktober 2007.
  5. Warum ich Israel kritisiere. (Memento des Originals vom 8. August 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/zeitschrift-ip.dgap.org In: Internationale Politik, Februar 2007
  6. Beleidigung des Humanismus — Falsche Wahl: Henryk M. Broder hat den Börne-Preis nicht verdient, die tageszeitung, 3. Februar 2007.
  7. Streit um den Redner Alfred Grosser. DW-Interview, 11. September 2010.
  8. Henryk M. Broder: Wenn Grosser die Anti-Israel-Keule schwingt. Rede zur Reichspogromnacht. In: Spiegel Online, 3. November 2010.
  9. Erinnerung an Reichspogromnacht – Alfred Grosser in der Paulskirche. In: Frankfurter Rundschau. 9. November 2010.
  10. Alfred Grosser: Das gekaufte Geschenk. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Nr. 50, 18. Dezember 2011, S. 7 (faz-archiv.de).
  11. Leserbrief, FAZ vom 25. Dezember 2011, S. 28.
  12. Grass hat etwas Vernünftiges gesagt. In: Süddeutsche Zeitung, 10. April 2012
  13. Arno Widmann: Ein Lausbub für die Aufklärung. Er war der Gott Janus der deutsch-französischen Verständigung: Am Sonntag wird Alfred Grosser 90 Jahre alt. In: Berliner Zeitung vom 31. Januar/1. Februar 2015.
  14. @1@2Vorlage:Toter Link/www.deutschlandfunk.de (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) 8-Uhr-Nachrichten des Deutschlandfunks, 1. Februar 2012: Grosser im DLF: „Französische Gefängnisse produzieren Mörder“.
  15. Text der Laudatio (PDF; 186 kB)
  16. Homepage
  17. Landeshauptarchiv Speyer (Memento vom 1. Juli 2011 im Internet Archive)
  18. Alfred-Grosser-Gastprofessur: Vom Status der Bürgergesellschaft. In: Süddeutsche Zeitung, 15. Mai 2009.
  19. Alfred Grosser (Memento vom 22. April 2012 im Internet Archive) In: La Gazette de Berlin den 23. März 2012.
  20. Website der Universität Duisburg-Essen. Abgerufen am 15. August 2017.
  21. Taunus-Zeitung: Kogon-Preis für einen Versöhner Abgerufen am 2. März 2018.
  22. schulebza.de
  23. Zitat: In diesem Punkt stehe ich hinter Martin Walsers Kritik an der Auschwitz-Keule. Ja, ich sehe diese Keule, die ständig gegen Deutsche geschwungen wird, falls sie etwas gegen Israel sagen. Tun sie es trotzdem, sagt die Keule sofort: „Ich schlage dich mit Auschwitz.“ Ich finde das unerträglich. Ich habe immer gegen Antisemitismus gekämpft. Und ich werde es immer tun! Aber Israelkritik per se mit Antisemitismus gleichzusetzen – das ist falsch und führt in die Irre.
  24. Aus der Zusammenfassung: (Die Kritiker der Einladung) begründeten ihre Ablehnung … mit Grossers Kritik an der Politik Israels sowie dessen Unterstützung des Schriftstellers Martin Walser. … Walser hatte anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 von der „Moralkeule Auschwitz“ gesprochen …