Disease Mongering
Disease Mongering (deutscher Begriff Krankheitserfindung, eine Spezialform der Pathologisierung) ist ein politisches Schlagwort, mit dem ein unzulässiges Zuordnen normaler Lebensabläufe oder individueller (vermeintlicher) „Mängel“ wie etwa eine Glatzenbildung bei Männern zu therapiebedürftigen Krankheiten beschrieben wird. Im englischen Sprachraum gehört es unter anderem bei der Antipsychiatrie zu den gängigen Vokabeln.[2]
Im weiteren Sinne wird eine Krankheit fehldiagnostziert, bei der es sich (jedenfalls bisher) lediglich um nicht krankhafte Varianten der Gesundheit handelt. So wird beispielsweise bei einer leichten Stimmungsschwankung oder normalen seelischen Reaktion eine Bipolare Störung angenommen[3], bei besonders lebhaften oder durch familiäre Konflikte belasteten Kindern eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sowie bei leichtem Übergewicht eine Fettleibigkeit.[4]
Disease Mongering wird unter anderem auch von Scientology[5] bei deren Ablehnung speziell der Biopsychologie verwendet.
Entstehung des Begriffes und wirtschaftliche Bedeutung
Der Begriff wurde 1992 von Lynn Payer als Buchtitel verwendet und im British Medical Journal durch den Journalisten Ray Moynihan, die Allgemeinmedizinerin Iona Heath und den Pharmakologen David Henry eingeführt[6]. Der Psychiater David Healy beschäftigt sich mit dem Disease Mongering im Bereich der Psychopharmaka. In Deutschland findet das Phänomen im Buch Die Krankheitserfinder von Jörg Blech seinen Niederschlag. Als konkretes Beispiel nennt er u. a. das sogenannte Sissi-Syndrom.
Vom Disease Mongering profitieren inzwischen ganze Berufszweige, Pharma- und Medizintechnikunternehmen, Kliniken, Wellness- und Kurbetriebe, Universitätsinstitute, Wissenschaftler und Forscher, Testlabore, Buchautoren und Verlage usw. In der Kritik steht in diesem Zusammenhang vor allem die Pharmaindustrie, die neue Krankheitsbegriffe prägt, bestehende Begriffe ausweitet oder bestimmte Mängel oder Symptome dramatisiert, um sich neue Absatzmärkte zu erschließen.
In dem Buch Hypochondrie kann tödlich sein von John Naish werden als Beispiele für Disease Mongering unter anderem folgende „Krankheiten“ und „Syndrome“ genannt: Spüllappensyndrom, Discofinger-Syndrom, Golfballleber, Rummelplatzschlaganfall und Kreditkartenischias.[7]
Steven Woloshin und Lisa M. Schwartz untersuchten in ihrer Studie eine Sammlung von Nachrichten und Pressemitteilungen über ein neues Medikament gegen das Restless-Legs-Syndrom und stellten die Theorie auf, dass dies als ein Beispiel für Disease Mongering gelten könne.[8][9] RLS gebe es zwar als Erkrankung, aber die überwiegende Zahl der Betroffenen sei nicht behandlungsbedürftig. Durch die erhöhte Aufmerksamkeit könnten häufiger RLS-Diagnosen gestellt und Behandlungen begonnen werden, nach Meinung der Autoren auch bei Patienten, die den Symptomen vorher keinen Krankheitswert zugemessen haben.
Auch in der Psychiatrie kommt Disease Mongering vor, etwa bei William Sears, der bei Kindern, die einem Schlaftraining unterzogen wurden, ein „Shutdown Syndrome“ beobachtet haben will.[10]
Siehe auch
- Betrug und Fälschung in der Wissenschaft
- Dorian-Gray-Syndrom
- Healthism
- Individuelle Gesundheitsleistung
- Medikalisierung
- Quartäre Prävention
Einzelnachweise
- ↑ A collection of articles on disease mongering. PLoS Medicine. 2006 (Memento des Originals vom 7. Juni 2007 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Fred Baughman: The Rise and Fall of ADD/ADHD. ICSPP. 25. September 2000. Archiviert vom Original am 18. Februar 2007. Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Abgerufen am 3. Juni 2007.
- ↑ Healy D: The latest mania: selling bipolar disorder Archiviert vom Original am 11. Oktober 2008. Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. In: PLoS Med.. 3, Nr. 4, 2006, S. e185. doi:10.1371/journal.pmed.0030185. PMID 16597178. PMC 1434505 (freier Volltext).
- ↑ The Gravity of Weight The daunting science of weight control, von Sylvia R. Karasu, The Medicalization of Weight: Are We "Disease Mongering?", 29. März 2013 Psychology Today
- ↑ Stephen Barlas and Psychiatric Times staff: Psychiatric Profession Current Target of Citizens Commission on Human Rights. CCHR. 16. April 2006. Abgerufen am 3. Juni 2007.
- ↑ R. Moynihan u. a.:Selling sickness: the pharmaceutical industry and disease mongering. In: BMJ, 324/2002, S. 886–91.
- ↑ Deutschlandradio: Vom Spüllappensyndrom, Discofinger und anderen gefährlichen Krankheiten, vom 13. Dezember 2005
- ↑ Süddeutsche Zeitung: Jahrmarkt der Krankheiten
- ↑ Steven Woloshin, Lisa M. Schwartz: Giving Legs to Restless Legs: A Case Study of How the Media Helps Make People Sick (Memento des Originals vom 1. Mai 2008 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Bill Sears, Martha Sears: The Attachment Parenting Book. A Commonsense Guide to Understanding and Nurturing Your Baby, Little, Brown and Company, New York, Boston, 2001, ISBN 0-316-77809-5, S. 122f, 126f
Literatur
- Jörg Blech: Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden. Fischer, Frankfurt 2004, ISBN 3-10-004410-X
- Peter Conrad: The Medicalization of Society: On the Transformation of Human Conditions into Treatable Disorders. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2007
- David Healy: The Latest Mania: Selling Bipolar Disorder. In: PLoS Med, 3/2006, e185
- Lynn Payer: Disease-Mongers. How Doctors, Drug Companies and Insurers Are Making You Feel Sick. John Wiley, New York 1992, ISBN 0-471-54385-3
- Jürgen Windeler: Disease Mongering – Bedeutung für die Versorgung.
- Howard Wolinsky: Disease mongering and drug marketing. In: EMBO reports, 6/2005, S. 612–4.
- Werner Bartens: Krank zu sein bedarf es wenig. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 162 vom 16. Juli 2011, S. V2/1.