Dorothea Merz (Roman)

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Dorothea Merz ist ein Roman von Tankred Dorst, der 1976 erschien und im selben Jahr von Peter Beauvais für den WDR verfilmt wurde.[1]

Zeit und Ort

Die Handlung läuft von 1924 bis zum Sommer 1935 in der fiktiven südthüringischen Kleinstadt Grünitz – zwischen den Großstädten Leipzig und Nürnberg gelegen. Nicht allzu weit entfernt sind Meiningen, Marktredwitz, Bad Salzungen und Saalfeld.

Erken[2] nimmt an, mit Grünitz habe Dorst seinen Geburtsort Oberlind gemeint.

Inhalt

Dorothea war von ihrer gutbürgerlichen Familie aus dem Ruhrgebiet in die thüringische Landeshauptstadt Weimar ins Pensionat geschickt worden. Dort hatte sie 1924 den wesentlich älteren Fabrikdirektor und ehemaligen Leutnant im Ersten Weltkrieg Rudolf Merz kennengelernt. Das Paar heiratet. Die anziehend schöne Dorothea übersiedelt in die tiefe Provinz nach Grünitz. Rudolf lässt in der Nähe seiner Maschinenfabrik und Gießerei eine Villa erbauen. Aus der Ehe gehen zwei Jungen hervor – Tilmann und Heinrich. Als Rudolf ernsthaft erkrankt – er spuckt Blut, fiebert und magert übermäßig ab – bittet er den jüngeren Bruder Erich, die Leitung der Firma – einer Aktiengesellschaft[3] – zu übernehmen. Erich zögert und sagt dann doch zu. Nachdem Rudolf verstorben ist, zeigt der bisher umgängliche Schwager Erich sein wahres Gesicht. Der unaufrichtige Erich und seine Verlobte Elsbeth Ruckdeschel – eine ehemalige Lehrerin – wollen Dorothea mit einer kleinen Rente abspeisen, sie ins Ruhrgebiet vertreiben und das neu erbaute Haus beziehen. Beim Ankauf eines Aktienpakets hatte Erich den Bruder zu dessen Lebzeiten hintergangen.

Der ältere Sohn Tilmann bereitet Dorothea Sorgen. Der Junge kränkelt. Eines seiner beiden Beine ist geschient. Tilmann muss im Sommer 1935 in Leipzig zum wiederholten Male operiert werden.

Fragment

Zwei relevante Fragen bleiben unbeantwortet: Lässt sich Dorothea von Erich und Elsbeth ausbooten? Welchem Manne gibt die junge Witwe den Vorzug? Kandidaten wären der verwitwete Pfarrer Jarosch und der SA-Mann Günther Regus.

Form

Das Fragment setzt sich aus wahllos hingeworfenen Bruchstücken zusammen. Schmeichelhaft gesagt – der zerklüftete Text hat streckenweise dokumentarischen Charakter. Der oben angegebene Zeitraum 1924–1935 wird im 80. Kapitel – „Amateurfilme“ – gesprengt. Der Nationalsozialist Dr. Günther Regus hat auch die Zeit nach 1945 dokumentiert. Die Rede ist von den 1950er Jahren und von der Zeit um das Jahr 1970. Ein weiteres Beispiel zur diskontinuierlichen Behandlung der Zeitläufte: Im zweiten der 85 Romankapitel wird vom Tode der Pfarrersfrau berichtet und im 21. Kapitel wird mancher Leser mit der Beschreibung des Dahinsiechens der doch längst Toten zum grüblerischen Zurückblättern genötigt.

Als Hauptsache stellen sich in dem kleinen Roman eine Fülle von Nebensachen heraus. Da wird zum Beispiel äußerst sparsam über die unglückliche Ehe des Pfarrers Jarosch erzählt. In einer Szene – Rudolf ist bereits schwer erkrankt – tritt Jarosch ins Bildfeld. Dorothea lehnt sich an ihn. Er hält sie. Der Leser kommt aber nicht auf seine Kosten. Am Romanende sieht es ganz so aus, als ob Dorothea dem SA-Mann den Vorzug gibt. Regus wird der Hauslehrer der beiden Jungen. Rudolf hatte zu Lebzeiten das Studium des Lehrers Regus finanziert.

21. Kapitel: Aus der ungeheuren Figurenvielfalt sei noch das Ehepaar Schwedewy (im 85. Kapitel heißt es plötzlich Schedewy) herausgegriffen. Von Bella Schwedewy erfährt Dorothea, der Arzt Dr. Schwedewy ist mit einer Verkäuferin nach Berlin verduftet. Bella will sich als Heilgymnastin ausbilden lassen, denn sie möchte nicht ein zweites Mal von einem Manne finanziell abhängig sein.

Der alte Arbeiter Heymann muss noch erwähnt werden. Er wird im 6. Kapitel „Unser Heymann“[4] gleichsam als Urgestein der Firma Merz eingeführt. Heymann, der Former in der Gießerei und Alleskönner wird in diesem Text lediglich im 7. Kapitel „Dorotheas Tagebuch“ noch einmal erwähnt. Aber in der Nazizeit wird er denunziert und bringt sich daraufhin um (siehe das Stück „Heinrich oder die Schmerzen der Phantasie“).

Dialekt

Einheimische, also Figuren aus Grünitz und Umgegend, artikulieren sich zuhauf mundartlich: „Zwaa Kommunisten hammer ghabt, etzt hammer bloß noch aan“[5] (soll heißen: Zwei Kommunisten haben wir gehabt, jetzt haben wir bloß noch einen.). Gehäuft treten die im Vogtland übliche Modalpartikel „fei“ und die in Thüringen verbreitete Partikel „gell“ (etwa: „nicht wahr“) auf. Besonders von Thüringern und Sachsen in den Mund genommene Kraftausdrücke fehlen nicht: „elender Grübbel“ (etwa: elender Hund).

Zeit des Nationalsozialismus

Der Fabrikant Rudolf Merz hatte den Nationalsozialismus zunächst für erstrebenswert gehalten. Im Sterben aber hatte er seine Ansicht revidieren müssen. Diese Weltanschauung „fürchtete und verachtete“ der ehemalige Offizier zuletzt „als das schlechthin Brutale, Aufdringlich-Freche“[6].

Der Chauffeur Herr Schanzer, ein NSDAP-Mitglied, ist völlig blass gezeichnet. Aber eine Episode aus dem Anfang jener verhängnisvollen Zeit wirkt nach. Der sehr angesehene Rechtsanwalt Dr. Stern wird von der SA durch die Straßen gehetzt. Um seinen Hals baumelt ein Schild, mit „Jude“ beschriftet. Dem Manne wurden vor dem Lauf die Hosenbeine in Kniehöhe abgeschnitten.

Die Episode aus dem Kapitel 78 – „Adlerschwingen“ – mit dem Bildhauer Theodor Wollschedel, der im Auftrag des Parteibonzen Wächtler ein riesiges Flügeltier kreiert, will nicht recht im Lesergedächtnis haftenbleiben. Frau Mora, die Gattin des Bildhauers, Sängerin am Theater, redet allerdings Klartext. Der Gatte solle lieber anstelle des Adlers Grabsteine machen für die ganze „Nazibagage“[7].

Dem Leser werden zwei Antifaschisten bekannt – Frau Falk und der Arbeiter Gebhard. Die Mehrheit der Einwohner von Grünitz wählt braun, denn „die tun wenigstens was“.[8] Nach der Wahl im Jahr 1933 werden Gebhard die Fensterscheiben eingeworfen. Seine Frau wird durch so ein Wurfgeschoss verletzt.

Auch Nebendinge bleiben in dem Fragment in der Schwebe. Da steht zum Beispiel die Frage im Raum: Wie kam Frau Falk um? Die Kommunistin Anna Falk wurde – von Ratten angefressen – aus dem Bach (Steinach) gezogen. Frau Falk hatte zu Lebzeiten Kindern in den Nachbardörfern Handarbeitsunterricht gegeben. Sie hatte fünf sozialistische Zeitungen abonniert. Zu Frau Falks Vokabular hatten unter anderen die Wörter „Klassengenosse“, „Proletariat“ und „Leningrad“ gehört. Die Lehrerin hatte mit einem Polen zusammengelebt, der von den Grünitzern als arbeitsscheu verschrien worden war. Den wesentlich jüngeren Herrn Kupka, so redete man in Grünitz, habe Frau Falk aus der internationalen Nacktkulturszene in der Schweiz aufgegabelt. Frau Falks Ansichten hatten eigentlich nie den Beifall der Grünitzer gefunden: Grundbesitz wäre verpönt. Ihr riesiges Haus habe die Lehrerin der Arbeiterwohlfahrt übergeben wollen. Eine Frau gehöre nach Ansicht der Kommunistin in die Produktion und die Kinder müsse der Staat erziehen. Frau Falk hatte an die Ausrottung des Kapitalismus geglaubt.

Nach solchem Statement hatte Dorothea zwar der Frau Falk die Freundschaft gekündigt, sich aber mit deren ältlicher Tochter Klara Falk angefreundet. Klara wird nach dem Leichenfund kriminalpolizeilich vernommen. Dem Vernehmen nach weiß sie nichts; kann nur Vermutungen anstellen.

Die nächste der nebensächlichen Fragen lautet: Warum ist Herr Kupka weg? Auch auf diese Frage antwortet Klara mit einer Vermutung: „Vielleicht muß er arbeiten.“[9]

Interpretation

Mit dem Untertitel „Fragment“ hat Dorst tiefgestapelt. Der Roman ist einfach ein ehrlicher Text – nicht mehr und nicht weniger. Denn gegen Ende der erzählten Zeit war der Autor reichlich neun Jahre alt. Das Erzählte kann also gar nicht komplett auf persönlicher Erinnerung basieren. Zwar erlaubt die Gattung Roman phantasievolle Konstrukte, doch gerade die hat Dorst wohl tunlichst unterdrückt. Zudem waren Erwachsene aus den Jahren 1933–1935 gewöhnlich maulfaul, wenn sie von der jüngeren Generation im Nachhinein – also nach 1945 – ausgefragt worden waren.

Rezeption

  • Klaus Umbach 1976, siehe unter „Weblinks“.
  • zitiert bei Arnold, S. 95, linke Spalte, erster Eintrag unter „Deutsche Stücke“: Alan Best: The Perils of Culture: Tankred Dorst's ›Dorothea Merz‹. University of Hull, Department of German, anno 1980, S. 135–155

Verfilmung

In dem oben genannten TV-Film von Peter Beauvais spielten Sabine Sinjen die Dorothea Merz, Dieter Wernecke ihren Gatten Rudolf, Dieter Kirchlechner ihren Schwager Erich, Katharina Tüschen die Frau Falk, Elisabeth Schwarz deren Tochter Klara und Elisabeth Trissenaar die Bella Schwedewy. Tankred Dorst spielte den Herrn Büttner (siehe auch Foto bei Bekes, S. 48). Büttner malt Dorothea auf Capri (siehe Kapitel 50)[10].

Literatur

Verwendete Ausgabe

Sekundärliteratur

  • Peter Bekes: Tankred Dorst. Bilder und Dokumente. edition spangenberg, München 1991, ISBN 3-89409-059-6
  • Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): text + kritik Heft 145: Tankred Dorst. Richard Boorberg Verlag, München im Januar 2000, ISBN 3-88377-626-2

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Verwendete Ausgabe, S. 613, 2. Z.v.o.
  2. Erken im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 602
  3. Verwendete Ausgabe, S. 181, 1. Z.v.u.
  4. Verwendete Ausgabe, S. 39
  5. Verwendete Ausgabe, S. 200, 7. Z.v.o.
  6. Verwendete Ausgabe, S. 157, 10. Z.v.u.
  7. Verwendete Ausgabe, S. 163, 8. Z.v.u.
  8. Verwendete Ausgabe, S. 166, 9. Z.v.o.
  9. Verwendete Ausgabe, S. 164, 17. Z.v.o.
  10. Verwendete Ausgabe, S. 127–129