Ernst Grünfeld (Ökonom)

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Ernst Grünfeld (* 11. September 1883 in Brünn, Österreich-Ungarn; † 10. Mai 1938 in Berlin) war ein aus Mähren stammender Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Er begründete die deutsche Lorenz-von-Stein-Forschung und war einer der führenden Genossenschaftstheoretiker seiner Zeit. Seine posthum veröffentlichte Schrift Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie wurde in der deutschen Nachkriegs-Soziologie vielfach als Emigrations-Buch fehlinterpretiert und gilt inzwischen als eines der großen Bücher der Inneren Emigration.

Leben

Ernst Grünfeld wurde als Sohn des Lederwarenfabrikanten, Abgeordneten zum mährischen Landtag und türkischen Konsuls Arnold Abraham Grünfeld (24. Dezember 1848 – 17. Mai 1919)[1] und dessen Ehefrau Annie, geborene Haas (23. Mai 1859 – 27. Dezember 1936),[2] im damaligen Kronland Mähren der Donaumonarchie geboren. Die Eltern waren zum katholischen Glauben übergetreten. Sein älterer Bruder war der Musikschriftsteller Paul Stefan Grünfeld.

Ernst Grünfeld legte die Reifeprüfung am Gymnasium Brünn ab, diente 1901–1902 als Freiwilliger in einem Dragonerregiment der k. u. k. Armee und war danach Landwirtschaftsvolontär auf einem Gut bei Troppau. Er studierte Landwirtschaft (Examen als Diplom-Landwirt) an der Hochschule für Bodenkultur in Wien und dann Volkswirtschaft und Staatswissenschaften an den Universitäten von Wien, Leipzig und Halle, wo er 1908 zum Dr. phil. promoviert wurde. Der Titel seiner Dissertation lautete: Die Gesellschaftslehre von Lorenz von Stein, Referent war Heinrich Waentig.

Von 1910 bis 1912 arbeitete er im Ostasiatischen Wirtschaftsarchiv der Südmandschurischen Eisenbahn AG in Tokio und unternahm von dort aus Reisen in die Mandschurei und nach Korea. 1913 habilitierte er sich an der Universität Halle mit der Arbeit Die Hafenkolonien in China. Am Ersten Weltkrieg war er als Offizier des österreichischen Landsturms beteiligt. Dabei wurde er hoch dekoriert (Franz-Joseph-Orden) und zum Rittmeister befördert. 1918 heiratete er die Schauspielerin Valerie Nowotny. Ab 1919 lehrte Grünfeld an der Universität Halle, seit 1929 als erster ordentlicher Professor für Genossenschaftswesen in Deutschland.[3]

1925 hatte Grünfeld die preußische Staatsangehörigkeit angenommen und war mit seiner Ehefrau zur Evangelischen Kirche übergetreten. Politisch betätigte er sich anfangs in der Deutschen Demokratischen Partei und wechselte nach deren Selbstauflösung 1930 zur Deutschen Staatspartei, für die er bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 als Stadtverordneter in Halle tätig war.

Das Grab auf dem Hietzinger Friedhof

Wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner missliebigen politischen Betätigung wurde er auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums im Mai 1933 von der Universität beurlaubt und im September 1933 entlassen, obschon Kriegsteilnehmern eine „Schonfrist“ bis 1935 eingeräumt worden war.[4] Der Lehrstuhl für Genossenschaftswesen wurde in einen für Betriebswirtschaftslehre umgewandelt.

Über seine letzten Jahre ist wenig bekannt, über sein Lebensende gibt es widersprüchliche Angaben, die sich besonders in der Rezeptionsgeschichte seine Buches Die Peripheren widerspiegeln. Bei Wittebur heißt es, Grünfeld sei 1936 in die Niederlande emigriert und dort 1938 verstorben.[5] Von Seiten der Universität Halle wird festgehalten,[6] Grünfeld sei nach seiner Entlassung nach Berlin umgezogen und habe dort 1938 Selbstmord begangen, weil dem kinderlosen „nichtarischen“ Ehepaar die Adoptivtochter Irene entzogen worden sei. Dies wird von Papcke[7] und Stieglitz/Zeillinger[2] ebenso dargestellt.[8]

Grünfelds Leichnam wurde in Berlin exhumiert und am 17. April 1951 in dem von Richard Kauffungen gestalteten Grab seiner Eltern auf dem Hietzinger Friedhof (Gruppe 7, Nr. 6) in Wien beigesetzt.[2][9]

In Halle wurde der „Ernst-Grünfeld-Weg“ nach ihm benannt.[10]

Bedeutung für die Sozialwissenschaft

Grünfeld leistete in mehreren Themenfeldern der Sozialwissenschaft Besonderes.[11] Er begründete die deutsche Lorenz-von-Stein-Forschung und wies damit der Soziologiegeschichtsschreibung neue Wege. Seine Beiträge zur Entwicklung der Genossenschaften und zu ihrer sozialen Korrektivfunktion waren für reformpolitische Diskussionen bahnbrechend. Mit seinem posthum veröffentlichten Werk Die Peripheren schloss er konstruktiv an den Exkurs über den Fremden von Georg Simmel an und leistete zudem den ersten deutschen Beitrag zu Forschungen über den „marginal man“, die von Robert Ezra Park ausgegangen waren. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte er sich im Zusammenhang mit der japanischen Arbeitsmigration ausführlich Problemen der sozialen Randständigkeit gewidmet.[12]

„Die Peripheren“

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1939 erschien Grünfelds Werk Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie posthum in Amsterdam. Darin greift Grünfeld das bereits von Georg Simmel dargestellte Problem des Fremden auf. Er unterteilt die Peripheren in zwei Gruppen, die der Fremden und der (nichtfremden) Ausgesonderten. Ob Fremde oder Ausgesonderte als Randseiter oder Außenseiter zu beschreiben sind, sei eine Frage der Distanz zum Gebilde, „von dem oder zu dem eine neue Distanz gewonnen wurde.“[13] Grünfeld betont in seiner Untersuchung insbesondere die Erfahrung des Ausgesondertseins:

„Wer solche Erlebnisse hinter sich hat, ist, wenn er nicht ganz stumpfsinnig ist, natürlich ein anderer Mensch geworden. Den einen erhebt so ein Erlebnis, den anderen drückt es nieder. Aber das Merkmal des aussondernden Erlebnisses wird sobald nicht aus der Seele des Peripheren getilgt werden können.“[14]

René König liest Die Peripheren trotz „völlig sachzugewandter Systematik“ als Grünfelds soziologische Bearbeitung eigener Emigrationserfahrungen.[15] Dies ist laut Papcke ein Irrtum, dem auch Richard Albrecht und Rainer Lepsius aufsitzen, weil Grünfelds letztes und bekanntestes Buch in den Niederlanden erschien. Nach Recherchen von Sven Papcke wurde das Buch von Grünfelds Witwe Valerie bei ihrer Emigration nach seinem Tod in die Niederlande geschmuggelt.[16] Grünfeld hatte Die Peripheren in Deutschland, in der inneren Emigration geschrieben und so authentisch von der Erfahrung des Ausgesonderten berichtet, dass es wirkte wie eine „sozialwissenschaftliche Rechenschaft des Exils als Lebensform.“[17][18]

Valerie[19] Grünfeld schrieb im Vorwort der Peripheren:

„Mein Mann gehörte zu den Ersten, die das Geheimnis zu lüften suchen, das all die Menschen umgibt, die durch Geburt, Schicksal oder Schuld an die Peripherie ihres Lebenskreises gestellt werden.“[20]

Laut Sven Papcke ist Grünfelds theoretische Aufarbeitung der „administrativ-gezielten Aussonderung ganzer Bevölkerungsgruppen (…) eines der wenigen großen Bücher der inneren Emigration.“[21]

Schriften

Autor
  • Lorenz von Stein und die Gesellschaftslehre. (Dissertation). Kaemmerer, Halle 1908
    Nachdrucke:
    (Sozialwissenschaftliche Studien. Band 1). G. Fischer, Jena 1910.
    DOGMA, Bremen 2012, ISBN 978-3-95454-791-3.
  • Die Hafenkolonien in China. (Habilitationsschrift). In erweiterter Fassung erschienen als
    Hafenkolonien und kolonieähnliche Verhältnisse in China, Japan und Korea. G. Fischer, Jena 1913.
  • Die japanische Auswanderung. (Mittheilungen der deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens. 14. Supplement). Behrend, Berlin 1913 und Hobunsha, Tokio 1913.
  • Ratgeber für die Studierenden der Nationalökonomie an der Universität Halle. Niemeyer, Halle 1920; 2. Auflage 1921.
  • Die deutsche Außenhandelskontrolle (Die Politik der Sperren) vom Kriegsausbruch bis zum Inkrafttreten des Friedensvertrages. (Bonner Staatswissenschaftliche Untersuchungen. Band 2). K. Schroeder, Bonn 1922.
  • Anleitung zum selbständigen Arbeiten für Volkswirte. G. Fischer, Jena 1922.
  • Die Genossenschaften. (Reihe Die deutsche Wirtschaft und ihre Führer. Bd. 8). Gemeinsam mit Otto Gennes und Theodor O. Cassau. Flamberg, Gotha 1925.
  • Das Genossenschaftswesen, volkswirtschaftlich und soziologisch betrachtet. (Handbuch des Genossenschaftswesens. Vier Bände. Hrsg. von Julius von Gierke, Karl Hildebrand und Ernst Grünfeld. Band 1). H. Meyer, Halberstadt 1928.
  • Genossenschaftswesen, seine Geschichte, volkswirtschaftliche Bedeutung und Betriebswirtschaftslehre. Spaeth & Linde, Berlin 1929.
  • Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie. N.V. Noord-Hollandsche Uitgevers Mij., Amsterdam 1939.
Herausgeber
  • Hallische Hochschulhefte. Niemeyer, Halle.
  • Soziale Organisationen der Gegenwart. Zeitschrift. C. L. Hirschfeld, Leipzig und H. Meyer, Halberstadt. 1924
Einleitungen und Vorworte
  • Vahan Totomianz: Einführung in das Genossenschaftswesen. Aus dem Russischen übersetzt von Sophrone Miujekidse. Mit einem Vorwort von Ernst Grünfeld. H. Meyer, Halberstadt 1925.
  • Charles Gide: Der Kooperatismus. Nach der 5. Auflage übersetzt von Kurt Bretschneider und eingeleitet von Ernst Grünfeld. H. Meyer, Halberstadt 1929.
Übersetzer

Literatur

  • Richard Albrecht: Wissenschaftler im Exil. Aber auch: Exil in der Wissenschaft. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 23 (1984) 91, ISSN 0041-2716, S. 96–106.
  • Susanne Blumesberger, Michael Doppelhofer, Gabriele Mauthe: Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert. Band 1: A–I. Hrsg. von der Österreichischen Nationalbibliothek. Saur, München 2002, ISBN 3-598-11545-8, S. 473.
  • Karl Friedrich Hagemüller: Grünfeld, Ernst. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 7, Duncker & Humblot, Berlin 1966, ISBN 3-428-00188-5, S. 197 (Digitalisat).
  • Rainer Lepsius: Verzeichnis emigrierter Sozialwissenschaftler. In Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 23 (1981), S. 486ff.
  • Sven Papcke: Deutsche Soziologie im Exil. Gegenwartsdiagnose und Epochenkritik 1933–1945. Campus, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-593-34862-4, (darin Kapitel V: Distanz als soziologisches Problem. Ernst Grünfeld über Erfahrungen der Aussonderung, S. 100–120).
  • Sven Papcke: Grünfeld, Ernst. In: Harald Hagemann, Claus-Dieter Krohn (Hrsg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933. Band 1: Adler–Lehmann. Saur, München 1999, ISBN 3-598-11284-X, S. 206f.
  • Klemens Wittebur: Die Deutsche Soziologie im Exil. 1933–1945. LIT, Münster/Hamburg 1991, ISBN 3-88660-737-2 (Dissertationsschrift, Universität Münster 1989), S. 59 f.

Weblinks

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Todesanzeige für Arnold A. Grünfeld. In: Neue Freie Presse, 23. Mai 1919, S. 15 (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nfp
  2. a b c Olga Stieglitz, Gerhard Zeillinger: Der Bildhauer Richard Kauffungen (1854–1942). Zwischen Ringstraße, Künstlerhaus und Frauenkunstschule. Peter Lang, Frankfurt/M. 2008, ISBN 978-3-631-52203-5, S. 472.
  3. Diese, wie alle anderen nicht separat belegten, biografischen Angaben stammen von Sven Papcke: Deutsche Soziologie im Exil. Gegenwartsdiagnose und Epochenkritik 1933–1945. Campus Verlag, Frankfurt am Main 1993, darin Kapitel V: Distanz als soziologisches Problem. Ernst Grünfeld über Erfahrungen der Aussonderung, S. 100–120.
  4. Nationalsozialistische Studenten hatten ihn als Juden und Marxisten diffamiert, der nationale Belange stets herabsetze.
  5. Klemens Wittebur: Die Deutsche Soziologie im Exil. 1933–1945. LIT, Münster/Hamburg 1991, S. 59 f.
  6. Vorlage:CPH/Wartung/Keine ID ermittelbar
  7. Sven Papcke: Deutsche Soziologie im Exil. Gegenwartsdiagnose und Epochenkritik 1933–1945. Frankfurt am Main 1993, darin Kapitel V: Distanz als soziologisches Problem. Ernst Grünfeld über Erfahrungen der Aussonderung, S. 100–120, hier S. 100f. und 114.
  8. Auch in Herbert A. Straus, Werner Röder (Hrsg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Saur, München 1983, findet sich kein Eintrag für Grünfeld.
  9. Friedhöfe Wien: Verstorbenensuche
  10. Bildung im Vorübergehen: Zusatzschilder für hallesche Straßen
  11. Sven Papcke: Deutsche Soziologie im Exil. Gegenwartsdiagnose und Epochenkritik 1933–1945. Frankfurt/M. 1993, darin Kapitel V: Distanz als soziologisches Problem. Ernst Grünfeld über Erfahrungen der Aussonderung, S. 100–120, hier S. 100.
  12. Ernst Grünfeld: Die japanische Auswanderung. Behrend, Berlin 1913.
  13. Ernst Grünfeld: Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie. N.V. Noord-Hollandsche Uitgevers Mij., Amsterdam 1939, S. 3.
  14. Ernst Grünfeld: Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie. N.V. Noord-Hollandsche Uitgevers Mij., Amsterdam 1939, S. 79.
  15. René König: Die Situation der emigrierten deutschen Soziologen in Europa. In: ders.: Studien zur Soziologie. Thema mit Variationen. S. Fischer, Frankfurt/M. 1971, ISBN 3-436-01379-X, S. 105 f.
  16. Vgl. Sven Papcke: Deutsche Soziologie im Exil. Gegenwartsdiagnose und Epochenkritik 1933–1945. Campus, Frankfurt am Main 1993, S. 117.
  17. Richard Albrecht: Wissenschaftler im Exil. Aber auch: Exil in der Wissenschaft. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums. 23. Jg./Heft 9 (1984), ISSN 0041-2716, S. 96ff., hier S. 104.
  18. Ralph Dahrendorf findet im Buch eine Antwort auf die Fragen: „Warum waren denn so viele Soziologen Juden? Gibt es hier eine Begründung, die auch diejenigen emigrierten Soziologen noch trifft, die es nicht waren?“ Er schreibt die Autorenschaft für „Die Peripheren“ aber fälschlicherweise einem Ernst Grünfeld zu, der vor 1933 Direktor des Instituts für Sozialforschung gewesen sei, das war jedoch Carl Grünberg. Vgl. Dahrendorf: Pfade aus Utopia. Zur Theorie und Methode der Soziologie. Piper, München 1974, ISBN 3-492-00401-6, S. 93.
  19. Das Buch ist „Erie“ gewidmet und die Verfasserin des Vorworts bezeichnet sich als „Erie Grünfeldt“, wohl ein Kosename, den das Ehepaar verwendete.
  20. Erie Grünfeldt im Vorwort zu Ernst Grünfeld: Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie. N.V. Noord-Hollandsche Uitgevers Mij, Amsterdam 1939, ohne Seitennummer.
  21. Sven Papcke: Deutsche Soziologie im Exil. Gegenwartsdiagnose und Epochenkritik 1933–1945. Campus, Frankfurt am Main 1993, darin Kapitel V: Distanz als soziologisches Problem. Ernst Grünfeld über Erfahrungen der Aussonderung, S. 100–120, hier S. 102.