Exzentriker

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Ein Exzentriker (altgriechisch ἔκκεντρος ‚nicht die Erde als Zentrum (einer Umlaufbahn) habend‘) ist eine Person, die deutlich von sozialen Normen abweicht.

John Stuart Mill betont in seinem Werk

von 1859 die Bedeutung von Exzentrikern für die Fortentwicklung jeder Gesellschaft. Die Andersartigkeit von Exzentrikern wurde früher in der europäischen Medizin durch die Humoralpathologie auf eine Fehlfunktion der Milz, griechisch

σπλήν

, zurückgeführt, daher das Wort Spleen.

Definition

Der Begriff „Exzentriker“ bezeichnet eine Person, die bewusst von kulturellen Normen abweicht. In jeder Gesellschaft gibt es viele und unterschiedliche soziale Normen, die von verschiedenen sozialen Gruppen befolgt werden sollen. Im Hinblick auf die Verbindlichkeit dieser Normen gibt es Spielräume. Manche Normen müssen beachtet werden (z. B. Gesetze), weil sonst sehr strenge negative Sanktionen drohen, andere können ohne allzu große Anstrengung ignoriert werden (z. B. Ernährungsratschläge). Gesellschaften und soziale Gruppen benutzen Normen funktional, denn ohne Normen oder Regeln kann Zusammenleben auf Dauer nicht konfliktfrei vonstatten gehen. Normen werden auch dazu benutzt, Macht auszuüben und Status zu demonstrieren. Verstöße gegen die Einhaltung von Normen werden normalerweise stark bestraft. Bei Normverstößen wird man schnell zum Verbrecher oder Außenseiter und steht im gesellschaftlichen Abseits.

Dies gilt jedoch nicht für Exzentriker. Betrachtet man nämlich ihren gesellschaftlichen Status, dann fällt auf, dass sie überdurchschnittlich oft in Eliten anzutreffen sind, und das unterscheidet sie grundsätzlich von anderen Abweichlern. Exzentriker sind also Menschen, die die Regeln oder Normen, die in ihrem sozialen Umfeld gelten, sehr gut kennen und bewusst in einem wohl bemessenen Abstand von ihnen abweichen. Exzentrik ist also bewusst und frei gelebte Abweichung vom sozialen Mainstream.

Je komplexer und dynamischer eine Gesellschaft ist, umso mehr gesellschaftliche Gruppen gibt es, die sich im Gerangel um gesellschaftliche Macht und Anerkennung Gehör verschaffen wollen und tonangebend eine „Mitte“ definieren möchten. Das macht es schwer, eine einheitliche Definition von „Exzentrik“ zu formulieren. Aber gerade in diesem Wettstreit um gesellschaftliche Akzeptanz und Aufmerksamkeit sind Menschen, die besonders laut, schrill oder anders sind, hoch funktional. Und sie fungieren als eine Art „Spähtrupp“, der den anderen Gesellschaftsmitgliedern einen relativ gefahrlosen Aufbruch zu neuen Möglichkeiten erschließt. Deshalb hat sich zwischen Exzentrikern und modernen oder postmodernen Kulturen eine hoch komplexe und sehr fruchtbare Wechselbeziehung etabliert.[1]

Doch auch wenn eine generell verbindliche Definition von „Exzentrik“ nicht möglich ist, können Idealtypen von Exzentrikern unterschieden werden. Als Grundlage zur Erstellung dieser Idealtypen können sowohl die wenigen vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen (hier vor allem die empirische Studie von David Weeks) aber auch die erkenntnistheoretischen Instrumente von Max Weber und Georg Simmel benutzt werden.

Wissenschaftliche Untersuchungen

Der schottische Arzt David Joseph Weeks (* 1944)[2] untersuchte in den 1980er Jahren exzentrische Personen in einem Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse er sowohl in einem wissenschaftlichen[3] als auch in einem populärwissenschaftlichen Werk[4] veröffentlichte. Mit Hilfe von britischen und amerikanischen Massenmedien, etwa BBC, New York Times und Wall Street Journal, suchte er Probanden für seine Untersuchungen, von denen über 1000 in eine nähere Auswahl kamen. Jeder Proband wurde neben einem 90-minütigen Gespräch einem standardisierten Persönlichkeitstest, einem Intelligenztest sowie Tests zur Untersuchung auf psychische Erkrankungen unterzogen. Als Ergebnis der Untersuchung formulierte Weeks folgende Eigenschaften eines Exzentrikers:

  • nonkonformistisch;
  • kreativ;
  • stark durch Neugier motiviert;
  • idealistisch: mit dem Anspruch, die Welt zu verbessern und die Menschen in ihr glücklicher zu machen;
  • betreibt beglückt ein oder mehrere Steckenpferde;
  • ist sich von klein auf des Andersseins bewusst;
  • intelligent;
  • eigensinnig und freimütig; überzeugt, selbst richtig zu liegen und dass der Rest der Welt aus dem Tritt geraten ist;
  • ohne Konkurrenzstreben, ohne Verlangen nach Anerkennung oder Bestätigung durch die Gesellschaft;
  • ungewöhnliche Essgewohnheiten und Lebensführung;
  • nicht sonderlich interessiert an den Ansichten oder der Gesellschaft anderer, ausgenommen zu dem Zweck, diese vom eigenen – richtigen – Standpunkt zu überzeugen
  • ausgestattet mit einem schelmischen Sinn für Humor;
  • alleinstehend;
  • gewöhnlich das älteste oder einzige Kind;
  • eigene „Rechtschreibung“ sowie Hang zum Gebrauch von eigenwilligen Neologismen oder Spruchmustern ohne allgemeine sprachliche Akzeptanz.[5]

Die ersten fünf Merkmale seien nahezu jedem Exzentriker zu eigen. Herausragendes Merkmal sei der Nonkonformismus. Das Vorkommen von Exzentrikern schätzt Weeks auf etwa 1:10.000. Die Standard-Intelligenztests ergaben bei den Probanden einen überdurchschnittlichen IQ zwischen 115 und 120.[6] Der gesundheitliche Zustand der Probanden sei weit überdurchschnittlich gewesen. Auch lebten Menschen mit exzentrischer Persönlichkeit deutlich länger. Viele Probanden sähen jünger aus. Weeks führt das auf einen geringeren sozialen Stress zurück, der das Immunsystem begünstige. Nach seiner eigenen subjektiven Einschätzung seien Exzentriker meist glücklichere und fröhlichere Menschen.[7]

Zur Illustration der populärwissenschaftlichen Ausgabe führt Weeks Personen an, die er als Exzentriker einschätzt: Joshua Abraham Norton, Patch Adams, Robert Coates, Glenn Gould, Erik Satie und Henry Cavendish.

Der irische Arzt für Kinder und Jugendpsychiatrie Michael Fitzgerald sieht in seiner Veröffentlichung Autism and Creativity einen engen Zusammenhang zwischen Exzentrik und dem Asperger-Syndrom. Die Verbindung von Autismus, Exzentrik und Kreativität solle in der Gesellschaft nicht unterschätzt werden.[8] Auch der Psychologe Tony Attwood sieht einen Zusammenhang zwischen Exzentrik und Asperger-Syndrom. Besondere Akzeptanz und Bewunderung hätten diese Menschen in der britischen Kultur.[9]

Als Arzt hat sich Weeks besonders mit den gesundheitlichen und mentalen Vorteilen exzentrischer Lebensstile beschäftigt. Möchte man das Phänomen allerdings umfassend kulturell verstehen, empfiehlt sich eine sozialwissenschaftliche Herangehensweise. Die Grundlage hierzu liefern die erkenntnistheoretischen Überlegungen Max Webers zur Konstruktion von Idealtypen.[10] Auf ihrer Basis können dann vier verschiedene Kategorien von Exzentrikern unterschieden werden.

Exzentrische Künstler

Suzanne Valadon: Erik Satie, 1893

Da die für künstlerische Betätigung in aller Regel erforderliche Kreativität und Imagination schon per definitionem ein Abweichen von Normen[11] voraussetzt, befinden sich Künstler von vornherein in einer natürlichen Nähe zur Exzentrik. Insbesondere die Koryphäen ihres jeweiligen Metiers, wie beispielsweise Bobby Fischer, Igor Strawinsky, James Joyce, John Lennon, Michael Jackson, Morrissey, Pablo Picasso, Prince und Thelonious Monk wurden von ihrer Umwelt meist als eigenwillig, radikal und bizarr wahrgenommen bzw. abgelehnt.

Viele transzendierten den allgemein anerkannten Werte- und Verhaltenskodex aber auch jenseits des eigentlichen Schaffensprozesses im täglichen Leben. Genannt sei etwa der französische Komponist Erik Satie, der aktiv an den Ritualen der Rosenkreuzer teilnahm, andererseits aber seinen Tagesablauf absurd-akribisch mit bis auf die Minute festgelegten Uhrzeiten strukturierte („inspiriert werden von 10.23 Uhr bis 11.47 Uhr“) und auch schon mal Werkaufträge mit dem Argument ablehnte, dass das angebotene Honorar zu hoch sei.[12]

Siehe auch

Literatur

  • Felicitas Dörr-Backes: Exzentriker, die Narren der Moderne. Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, ISBN 3-8260-2496-6.
  • Michael Fitzgerald: Autism and Creativity. Is there a link between autism and exceptional ability? Brunner-Routledge, Hove 2004, ISBN 1-58391-213-4.
  • Michael Rutschky: Wir Exzentriker. In: Kursbuch. Band 118, Dezember 1994, S. 165–177.
  • Elmar Schenkel: Die elektrische Himmelsleiter. Visionäre und Exzentriker in den Wissenschaften. C. H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-51136-8.
  • Karl Shaw: Die schrägsten Vögel der Welt. Lexikon der Exzentriker. Heyne, München 2002, ISBN 3-453-21174-X (englisch: The mammoth book of oddballs and excentrics.).
  • Edith Sitwell: Englische Exzentriker. Wagenbach, Berlin 2000, ISBN 3-8031-1192-7 (englisch: English excentrics.).
  • Lytton Strachey: Das Leben, ein Irrtum. Acht Exzentriker. Wagenbach, Berlin 1999, ISBN 3-8031-1186-2 (Salto; 86).
  • Davis J. Weeks, Kate Ward: Eccentrics. The Scientific Investigation. Stirling University Press, London 1988, ISBN 978-0-948812-00-2.
  • David J. Weeks, Jamie James: Exzentriker. Rowohlt, Reinbek 1997, ISBN 3-499-60549-X (englisch: Excentrics.).

Einzelnachweise

  1. Felicitas Dörr-Backes: Exzentriker. Die Narren der Moderne. Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, ISBN 3-8260-2496-6, S. 90–97.
  2. Australische Nationalbibliothek, abgerufen am 14. Dezember 2009
  3. David Joseph Weeks: Eccentrics. The scientific investigation. In: The Proceeding of the Royal College of Physicians of Edinburgh. 1989 (englisch).
  4. David Weeks, Jamie James: Exzentriker: Über das Vergnügen, anders zu sein. Rowohlt, 1997.
  5. David Weeks, Jamie James: Exzentriker. S. 34.
  6. David Weeks, Jamie James: Exzentriker. S. 44.
  7. David Weeks, Jamie James: Exzentriker. S. 269.
  8. Michael Fitzgerald: Autism and Creativity. S. 7.
  9. Tony Attwood: Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom. S. 250.
  10. Max Weber: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Johannes Winckelmann (Hrsg.): Gesammelte Werke zur Wissenschaftlehre. Tübingen 1985.
  11. David Weeks, Jamie James: Exzentriker. S. 74.
  12. David Weeks, Jamie James: Exzentriker. S. 92.

Weblinks

Wiktionary: Exzentriker – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen