Flynn-Effekt

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Der Flynn-Effekt bezeichnet die Tatsache, dass bis in die 1990er Jahre die Ergebnisse von IQ-Tests – bei unterbliebener Nacheichung – in Industrieländern im Mittel immer höhere Werte erbrachten, die gemessene Intelligenz also zunahm. Dieser Trend wurde erstmals 1984 von dem neuseeländischen Politologen James R. Flynn für die Vereinigten Staaten beschrieben und 1994 von Charles Murray und Richard Herrnstein Flynn-Effekt genannt.[1]

Höhe

Flynn (1987) zeigte anhand von Testergebnissen aus 14 Industrienationen, dass die Zunahmen der IQ-Werte zwischen 5 und 25 Punkten pro Generation betrugen.[2] In weiteren Studien fand Flynn, dass der Zuwachs der Testergebnisse über die Zeit vor allem bei nonverbalen, kulturell reduzierten Tests auftrat. Flynn zog den Schluss, dass die Intelligenz im engen IQ-Sinn in den ersten drei Vierteln des 20. Jahrhunderts zugenommen habe, äußerte sich aber skeptisch bezüglich einer Zunahme der Intelligenz im weiteren Sinn (er glaubte nicht, dass die Menschen deutlich intelligenter waren als ihre Vorfahren).[1]

Mögliche Ursachen

In Erklärungsmodellen wird der Flynn-Effekt großteils auf die Verbesserung der Umweltbedingungen zurückgeführt, z. B. Bildung, Ernährung, Gesundheitsversorgung und Massenmedien (siehe auch: Euthenics).[3][4][5][6] Mingroni (2004, 2007) vermutet hingegen genetische Faktoren als Ursache. So sei auch ein Heterosis-Effekt aufgrund einer im Zuge von Urbanisierung und erhöhter Mobilität erfolgten Durchmischung ehemals separierter Subpopulationen denkbar.[7][8][9] Einen wissenschaftlichen Konsens über die vermuteten Ursachen des Flynn-Effekts gibt es nicht.

Geschlechterdifferenz

Der Effekt scheint sich nach Flynn unterschiedlich auf die Geschlechter ausgewirkt zu haben. Die Ergebnisse von Frauen lagen in der hundertjährigen Geschichte der IQ-Testung um bis zu 5 Punkten hinter denen der Männer, haben sich aber in den letzten Jahren angeglichen:[10]

“In the last 100 years the IQ scores of both men and women have risen, but women’s have risen faster.”

„In den letzten 100 Jahren sind die IQ-Werte von Männern und Frauen gestiegen, doch die der Frauen sind schneller gestiegen.“

James R. Flynn

Im Jahr 2012 lagen die Testergebnisse von Frauen – zumindest in bestimmten Ländern – erstmals knapp über den Ergebnissen der Männer (IQ-Werte zwischen 100,5 und 101,5 in Ravens Matrizentest in den vier Ländern Neuseeland, Südafrika (weiße Bevölkerung), Estland und Argentinien. In Australien lag der weibliche IQ dagegen bei 99,5 – jeweils bei einem auf 100 normierten Männer-IQ).[11]

Entwicklung nach 1984

Sundet und Kollegen (2004) studierten die Testergebnisse von zwischen Mitte der 1950er Jahre und 2002 getesteten norwegischen Wehrpflichtigen. Während bis Anfang der 1970er Jahre ein starker Zuwachs verzeichnet wurde, verkleinerte sich dieser dann, bis er Mitte der 1990er Jahre verschwand. Der durchschnittliche Zuwachs wurde hauptsächlich durch eine Abnahme niedriger Testergebnisse verursacht. Die Autoren schließen, dass der Flynn-Effekt in Norwegen ein Ende erreicht haben könnte.[12]

Laut Sundet und Kollegen (2008) ist dieses Ende des Flynn-Effekts in Norwegen nicht leicht zu erklären, möglich sei aber, dass ein höherer Anteil von Einwanderern[3] (die in den Niederlanden durchschnittlich schlechtere Ergebnisse erzielen[13]) unter den Wehrpflichtigen verantwortlich sei. Gegen diese These sprach jedoch, dass spätere Untersuchungen zu dem Ergebnis kamen, dass auch innerhalb von alteingesessenen norwegischen Familien über die Generationen hinweg der IQ sank.[14] Andere Forscher führten dies auf das Aufkommen des Privatfernsehens zurück. So sinke nach 10 Jahren Exposition mit Privatfernsehen der IQ um 1,8 Punkte.[15]

Teasdale und Owen (2005) zeigten anhand von Testergebnissen von 500.000 jungen dänischen Männern zwischen 1959 und 2004, dass der IQ Ende der 1990er Jahre einen Höchststand erreichte, von dem er seitdem wieder auf das Niveau vor 1991 zurückgefallen ist. Eine mögliche Erklärung für die sinkenden IQ-Werte in Dänemark ist laut Teasdale und Owen ein Rückgang des Anteils der 16- bis 18-Jährigen in weiterführenden Schulen. Da aus Korrelation keine Kausalität abgeleitet werden könne, seien jedoch auch andere Erklärungen möglich.[4] Ein weiterer Faktor könne Immigration sein. So zeigen niederländische Daten, dass Kinder von Immigranten schlechter bei Intelligenztests abschneiden als ethnisch niederländische Kinder.[16]

Analog zum Flynn-Effekt etablierte sich 1994, als ein Rückgang des IQ festgestellt worden war, der Begriff "umgekehrter Flynn-Effekt" für das Sinken des IQ.[14]

Neben diesen Ergebnissen aus Norwegen und Dänemark stellten auch Studien aus Australien (2005) und dem Vereinigten Königreich (2007) eine Stagnation bzw. einen Rückgang des gemessenen IQs fest. Lynn und Harvey zufolge würden dieser Entwicklung auch andere Industriestaaten folgen, sobald umweltbedingte Verbesserungen nicht mehr die dysgenischen Effekte aufgrund der negativen Korrelation zwischen Intelligenz und Fruchtbarkeit kompensieren können.[17]

Flynn stellte dagegen in seinem 2012 erschienenen Buch Are We Getting Smarter? einen weiteren Anstieg der Intelligenz fest. Deutschland verzeichne einen Anstieg von 0,35 Punkten pro Jahr, Brasilien und die Türkei fast doppelt so viel. Verändert habe sich allerdings die Art der Intelligenz. So verbessere sich vor allem das visuelle und logische Denken der Kinder, der Wortschatz hingegen nur unwesentlich.[18]

Eine Metastudie von 2015 zeigte, dass der weltweite IQ, ermittelt aus 219 Studien aus 31 Staaten im Zeitraum von 1909 bis 2013, um volle 30 Punkte gestiegen ist.[19]

2017 revidierte Flynn seine Aussagen und stellte ein Sinken des IQ in vielen westlichen Ländern fest, nachdem er erneut Daten aus verschiedenen Ländern gesammelt hatte. Er führte das auf das „Verschwinden anspruchsvoller Bücher“ und eine Zunahme an Computerspielen zurück. Dieser Umstand wirke sich negativ auf das logische Denken aus.[14]

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Earl Hunt: Human Intelligence. Cambridge University Press, 2010, ISBN 0521707811. S. 265
  2. J. R. Flynn: Massive IQ gains in 14 nations: What IQ tests really measure. PDF; 2,3 MB. In: Psychological Bulletin. Band 101 (2), 1987. S. 171–191.
  3. a b Jon Martin Sundet, Ingrid Borren, Kristian Tambs: The Flynn effect is partly caused by changing fertility patterns. PDF; 392 kB. In: Intelligence. Band 36, 2008. S. 183–191.
  4. a b T. W. Teasdale, D. R. Owen: A long-term rise and recent decline in intelligence test performance: The Flynn Effect in reverse. PDF; 111 kB. In: Personality and Individual Differences.Band 39, 2005. S. 837–843
  5. J. R. Flynn: The mean IQ of Americans: Massive gains 1932 to 1978. In: Psychological Bulletin. 1984
  6. J. R. Flynn: Massive IQ gains in 14 nations: What IQ tests really measure. In: Psychological Bulletin. 1987
  7. Michael A. Mingroni: The secular rise in IQ: Giving heterosis a closer look. In: Intelligence. Band 32 (1), 2004. S. 65–83.
  8. Michael A. Mingroni: Resolving the IQ Paradox: Heterosis as a Cause of the Flynn Effect and Other Trends. PDF; 339 kB. In: Psychological Review. Band 114 (3), 2007. S. 806–829.
  9. M. Amelang et al.: Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. Kohlhammer, Stuttgart 2006, S. 199
  10. Harriet Cooke: IQ tests: women score higher than men. The Telegraph, 15. Juli 2012, abgerufen am 7. Mai 2013.
  11. Scott Barry Kaufman: Men, Women, and IQ: Setting the Record Straight. Psychology Today, 20. Juli 2012, abgerufen am 7. Mai 2013.
  12. J. M. Sundet, D. G. Barlaug, T. M. Torjussen: The end of the Flynn effect? A study of secular trends in mean intelligence test scores of Norwegian conscripts during half a century. PDF; 213 kB. In: Intelligence. Band 32, 2004. S. 349–362
  13. J. te Nijenhuis, M.-J. de Jong, A. Evers, H. Van der Flier: Are cognitive differences between immigrants and majority groups diminishing? In: European Journal of Personality. Band 18, 2004, S. 405–434.
  14. a b c Intelligenzquotient: Wir waren mal schlauer. Die Zeit, abgerufen am 19. November 2020.
  15. Jonathan Rothwell: You Are What You Watch? The Social Effects of TV. In: The New York Times. 25. Juli 2019, ISSN 0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 1. August 2019]).
  16. Thomas W. Teasdale, David R. Owen: Secular declines in cognitive test scores: A reversal of the Flynn Effect. PDF; 252 kB. In: Intelligence. Band 36, 2008. S. 121–126.
  17. Richard Lynn, John Harvey: The decline of the world's IQ. PDF; 309 kB. In: Intelligence. Band 36, 2008. S. 112–120
  18. Generation Superhirn. In: Der Spiegel 37/2012, Seiten 128–129
  19. Jakob Pietschnig, Martin Voracek: One Century of Global IQ Gains: A Formal Meta-Analysis of the Flynn Effect (1909-2010). In: SSRN Electronic Journal. Band 10, 1. Januar 2013, doi:10.2139/ssrn.2404239 (researchgate.net [abgerufen am 21. Februar 2018]).