Seymour Parker Gilbert

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Seymour Parker Gilbert, 1931

Seymour Parker Gilbert (* 13. Oktober 1892 in Bloomfield, New Jersey; † 23. Februar 1938 in New York) war ein US-amerikanischer Anwalt, Banker, Politiker und Diplomat. Bekanntheit erlangte er als Verantwortlicher für die deutschen Reparationszahlungen, ein Amt, das er von Oktober 1924 bis Mai 1930 ausübte.

Leben

Seymour Parker Gilbert wurde am Rutgers College ausgebildet und erlangte 1915 einen LL.B.-Abschluss an der Harvard Law School. Anschließend trat er in die New Yorker Kanzlei Cravath & Henderson ein. Von 1918 bis 1920 war er als Berater für Kriegskredite im Finanzministerium der Vereinigten Staaten tätig. Im Alter von 27 Jahren wurde ihm ein Kabinettsposten in der Regierung Wilson angeboten: Als Nachfolger von Russell Cornell Leffingwell wurde er assistierender Staatssekretär für Steuerangelegenheiten im Finanzministerium (Assistant Secretary of the Treasury). Unter Wilsons Nachfolger Warren G. Harding war er dann von 1921 bis 1923 stellvertretender Finanzminister (Under Secretary of the Treasury).

Gilbert war Berater der Regierung unter drei US-Präsidenten. Die New York Times beschrieb ihn als „den herausragenden brillanten jungen Mann in Regierungsdiensten“. Gilbert sei bekannt dafür gewesen, halbe Nächte durch zu arbeiten und bekam dafür in Washingtoner Kreisen den Beinamen „The Thinking Machine“ (Die Denkmaschine).[1]

Generalagent für Reparationszahlungen

Im Vertragswerk des Dawes-Planes von 1924 war ein Transferkomitee und an dessen Spitze der Generalagent für Reparationszahlungen vorgesehen.[2] Von der Reparationskommission wurde Parker Gilbert zum Reparationsagenten ernannt. Sein Amtssitz war Berlin[3][4] und als Generalagent für Reparationszahlungen verfügte er über ein Reichsbankkonto, auf das die Reparationszahlungen in Reichsmark abzuführen waren.[5]

Der von November 1923 bis März 1930 amtierende Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht war strikt gegen Investitionen aus öffentlicher Verschuldung und stimmte in diesem Punkt mit Gilbert völlig überein: Ab 1926 beanstandete der Reparationsagent Parker Gilbert die mangelnde Sparsamkeit der öffentlichen Haushalte regelmäßig[6] und regte Haushalts- und Ausgabenkürzungen an.[7]

Am 10. März 1927 klagte Reichskanzler Wilhelm Marx gegenüber Gilbert, dass er besorgt feststelle, „daß die wirtschaftliche Lage Deutschlands im Auslande viel zu günstig angesehen und deshalb die Leistungsfähigkeit Deutschlands bedeutend überschätzt würde. Die Reichsregierung sei noch immer nicht in der Lage, allen Wünschen, die aus den verschiedenen notleidenden Bevölkerungskreisen an sie herangetragen würden, in wünschenswertem Maße zu entsprechen.“[8] Auch Stresemann äußerte im Herbst 1927 in diesem Zusammenhang außenpolitische Bedenken.[9]

vermutlich Bildmontage aus der Tagespresse

Am 20. Oktober 1927 mahnte Gilbert erneut und mit Nachdruck zu sparsamer Ausgabenpolitik (wiederum von Schacht unterstützt).[10] Als am 6. November 1927 die Mahnung des Reparationsagenten (inkl. Rechtfertigung der Regierung) veröffentlicht wurde, schloss sich der Reichsverband der Deutschen Industrie den Forderungen zu staatlicher Sparsamkeit an und setzte die Regierung hinsichtlich der Ausgabenpolitik zusätzlich unter massiven Druck.[11] Die Risiken des Transferschutzes,[12] die im Dawes-Plan enthalten waren, waren Parker Gilbert zu hoch (von FED-Präsident Benjamin Strong war Gilbert bereits vor einer deutschen Kreditkrise gewarnt)[13] und so setzte er sich ab Dezember 1927 dann für eine Revision des Dawes-Planes ein. Wichtige Eckpunkte des zu erneuernden Reparationsplanes (Young-Plan) arbeitete er bereits vor Zusammentreten der Kommissionen aus.[14] Im Hintergrund unterstützte Parker Gilbert die Durchsetzung (relevanter Bedingungen gegenüber dem an den Verhandlungen teilnehmenden Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht) des Young-Plans weiterhin.[15]

Für den rechten Rand des bürgerlichen Lagers war Gilbert die Verkörperung des Unrechts gegen das Nachkriegsdeutschland. Sie sahen in ihm ein Instrument der Versailler Verträge und des Auslands, das das Deutsche Reich wegen des verlorenen Weltkriegs „bluten“ lassen wollte.[16] In einer als „Kaiserkrönung“ deklarierten Massenveranstaltung am 27. Januar 1928, dem Geburtstag des ehemaligen Kaisers, verhöhnte der spätere Gauleiter von Brandenburg Wilhelm Kube den für die Einhaltung der Reparationszahlungen zuständigen Gilbert, indem er ihn in seiner hetzerischen Rede zum eigentlichen Kaiser Deutschlands erklärte. Die New York Times berichtete einen Tag später auf ihrer Titelseite darüber.[17]

Leitung von JPMorgan

Mit der Annahme des Young-Plans und der Schaffung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich 1930 wurde Gilberts Posten im Deutschen Reich abgeschafft. Gilbert kehrte mit mehreren Auszeichnungen europäischer Regierungen in die USA zurück und stieg 1931 als Partner in die Geschäftsführung des Bankhauses JPMorgan ein. In zahlreichen Fachartikeln kritisierte er das amerikanische Kredit- und Steuersystem, unter anderem als „das schlechteste der Welt“. Seymour Parker Gilbert starb im Alter von 45 Jahren nach einem Herzleiden an einem Herzinfarkt. Er hinterließ eine Frau und drei Kinder. Der älteste Sohn Seymour Parker Gilbert III. war in den 1980er Jahren Geschäftsführer bei Morgan Stanley. Unter seiner Leitung (bis 1990) erlebte dieser Finanzkonzern den größten Aufschwung seiner Geschichte.[18]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Die New York Times erwähnt in diesem Nachruf vom 24. Februar 1938 den Ausdruck „Brain Trust“, der ideal auf Gilbert zugetroffen hätte, der aber zu seinen Zeiten in Washington noch nicht geläufig gewesen sei.
  2. Hans Gestrich: Der Youngplan. Leipzig 1930. S. 118f: „Die Übertragung, d. h. die Umwandlung der Reichsmarkbeträge in ausländische Zahlungsmittel, entsprechend den Bedürfnissen der Reparationsgläubiger, war Sache des sogenannten Transferkomitees, dessen Vorsitzender der bekannte Agent für Reparationszahlungen war.“
  3. Helmut Coing: Dawes-Plan. In: Wörterbuch des Völkerrechts. Aachener Kongress bis Hussar-Fall. Band 1. (Hrsg. Hans-Jürgen Schlochauer) Berlin 1960. S. 316. (online)
  4. Eberhard Kolb: Deutschland 1918–1933. Eine Geschichte der Weimarer Republik. München 2010. S. 100. (online)
  5. Bernhard Spangenberg: Die Zukunft der Reparationen. Berlin 1931. S. 32. (online)
  6. Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Stuttgart 2002. S. 252 f. (online)
  7. Michael Wala: Weimar und Amerika. Botschafter Friedrich von Prittwitz und Gaffron und die deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1927 bis 1933. Stuttgart 2001. S. 161. (online)
  8. Besprechungsprotokoll vom 10. März 1927. In: Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Marx III/IV. Band 1. S. 615–617. (Das komplette Sitzungsprotokoll befindet sich im Bundesarchiv und ist hier (RTF; 16 kB) nachzulesen.)
  9. Johannes Bühler: Deutsche Geschichte. Vom Bismarck-Reich zum geteilten Deutschland. Band 6. Berlin 2013. S. 585. (online)
  10. Christian Berringer: Sozialpolitik in der Weltwirtschaftskrise. Berlin 1999. S. 116. (online)
  11. Karl Dietrich Erdmann (Hrsg.): Akten der Reichskanzlei: Weimarer Republik. Die Kabinette Marx III und IV. Band 2. Boppard 1988. S. 1094 ff. (online (Memento des Originals vom 30. Oktober 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/books.google.at)
  12. Bundeszentrale für politische Bildung: Deutsche Geschichten. Dawes-Plan:
    „Bei der Umwandlung der Jahresraten in die Währungen der Empfängerstaaten konnten die tatsächlichen Zahlungen niedriger ausfallen, wenn Deutschland infolge einer negativen Handelsbilanz über zu wenig Devisen verfügte („Transferschutz“).“
  13. Michael Wala: Weimar und Amerika. Botschafter Friedrich von Prittwitz und Gaffron und die deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1927 bis 1933. Stuttgart 2001. S. 123. (online)
  14. Ralph Blessing: Der mögliche Frieden. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutsch-französischen Beziehungen 1923–1929. München 2008. S. 361 ff, (online) insbesondere ab S. 370.
  15. Hans Gestrich: Der Youngplan. Leipzig 1930. S. 122:
    „Während der Pariser Youngplanverhandlungen hat sich infolge des vollständigen Aufhörens von Auslandskreditzuflüssen, ja sogar von ausländischen Kreditabflüssen eine derartige Lage ergeben. Der Reparationsagent hat rücksichtslos weitergekauft [Devisen]. Die Reichsbank musste intervenieren, aber Diskonterhöhung und Kreditrestriktion genügten, um die Lage am Devisenmarkt wiederherzustellen.“
  16. Bundeszentrale für politische Bildung: Versailles und Weimar. Weltwirtschaftskrise. S. 6:
    „In innenpolitischer Hinsicht wichtiger war jedoch ein Vorgang im Umfeld des Young-Plans. Die NSDAP, bei der Reichstagswahl von 1928 noch eine Splitterpartei, tat sich mit der nach rechts driftenden DNVP zusammen und setzte einen Volksentscheid gegen den Young-Plan in Gang, der auf das Zerreißen des Versailler Vertrags hinauslief. Dass am Ende nur 13,8 Prozent der Wahlberechtigten zustimmten, verdeckt die Bedeutung: Der NSDAP gelang es mit dieser Aktion, sich in den rechten Rand des bürgerlichen Lagers vorzuarbeiten und als Vorhut des „nationalen Lagers“ zu präsentieren. Radikale Agitation gegen den Versailler Vertrag war salonfähig geworden.“
  17. New York Times, 28. Januar 1928: Reich Fascisti Hail Gilbert as „Kaiser“. Page 1. (übersetzt aus dem Amerikanischen):
    „Es gab einige Buhrufe, als Herr Kube Mr. Gilbert einen Angestellten internationaler Bankiers nannte, der sein Jahreseinkommen von 190.000 Mark aus den Taschen der Deutschen zog und auf ein Personal von 103 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zurückgreifen könne, die ähnlich überbezahlt seien. Aber der Spott wandelte sich in Gelächter, als Herr Kube hinzufügte: ‚Gilbert, ein junger Mann von 32 Jahren, ist seit heute der Deutsche Kaiser. Es ist nicht weniger als angebracht, ihm als gehorsame Untertanen unsere Ehre zu erweisen. Rein persönlich ist er uns egal, wir haben nichts gegen ihn.‘ Er hielt eine Ausgabe von Mr. Gilberts letztem Bericht hoch, den er die ‚Dawes-Bibel‘ nannte, und empfahl, das Buch jedem Schulabgänger in die Hände zu drücken: Es sei ein sicheres Mittel, einen Aufstand der gesamten Nation gegen Deutschlands augenblickliche Versklavung vom Zaun zu reißen.“
  18. Sie dazu die New York Times vom 18. Mai 1990