Germanische Stammesrechte

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Germanische Stammesrechte sind ein nicht zeitgenössischer Sammelbegriff für die Rechtsaufzeichnungen in den germanischen Nachfolgereichen des Imperium Romanum von der Mitte des 5. Jahrhunderts bis ins 9. Jahrhundert. In den Germanischen Stammesrechten verschmolzen mit wechselndem Gewicht germanische, römische und christliche Rechtsvorstellungen. Die Aufzeichnungen sind auf Lateinisch verfasst und mit germanischen Ausdrücken durchsetzt.

Entstehung

Der fränkische König Chlodwig diktiert die Lex Salica. Miniatur, 14. Jahrhundert.

Die Germanen hatten über ihre Gesellschaft und ihre Rechte nichts geschrieben, sodass die ausgiebigste Quelle über ihre Lebensgewohnheiten die streitbare Schrift Germania des Geschichtsschreibers Tacitus im 1. Jahrhundert ist. Tacitus schreibt nicht nur über die Sitten und Gebräuche der Germanen, er schreibt auch über deren Könige, lässt dabei aber die segmentären Grundstrukturen erkennen. Diese Quelle gibt Anlass für Interpretationen, wenn sie mit anderen quellentechnisch gesicherten Frühformen stammesgesellschaftlichen Rechts verglichen wird. Insbesondere kannte Tacitus die Territorien der West- und Ostgermanen nicht aus eigener Anschauung.[1] Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts, in der Spätantike, entstanden in den germanischen Nachfolgereichen des Imperium Romanum dann Rechtsaufzeichnungen. Die waren stark von der Begegnung der germanisch-heidnischen Rechtskultur mit der römischen-christlichen geprägt. Aufgrund der Abfassung der Gesetze in Latein sowie der sichtbaren Wechselwirkung zwischen dem römischen Recht auf der einen und germanischem Stammesrecht auf der anderen Seite sind die Aufzeichnungen nicht als eigenständiges und ursprüngliches Recht anzusehen. Die Verwendung des Worts germanisch weist bloß auf die Entstehung der Texte unter germanischer Herrschaft hin.

Die Stämme der Wanderungszeit (Goten, Vandalen, Franken u. a.) bildeten ursprünglich keine ethnischen Einheiten, sondern waren Zweckgemeinschaften von Sippenverbänden, die sich in Zeiten des Umbruchs auch auflösen oder neu zusammensetzen konnten. Ihnen gegenüber standen als tatsächliches Staatsvolk die Römer beziehungsweise Romanen, die sich hauptsächlich als katholische Christen von den oftmals heidnischen oder arianischen Germanen getrennt verstanden. Dieser religiöse Gegensatz bedingte lange Zeit auch ein Gefühl der Fremdheit zwischen den Volksgruppen.

Die römische und die germanische Rechtskultur standen aber spätestens mit der römischen Landnahme auf germanischem Boden nicht mehr isoliert nebeneinander; die Germanen mussten sich mit dem Recht der römischen Invasoren auseinandersetzen, das ihre zunächst mündlich überlieferten Stammesrechte mehr und mehr durchdrang. Dieses war dann allerdings nicht mehr das „klassische römische Juristenrecht“, sondern das durch den spätantiken Kulturwandel entstandene Vulgarrecht, bei dem die geisteswissenschaftliche Abstraktion zugunsten vereinfachender Begrifflichkeiten preisgegeben worden war und das einige gewohnheitsrechtliche Züge angenommen hatte – was zur Adaption des Vulgarrechts durch die wesentlich gewohnheitsrechtlich geprägte germanische Stammesgesellschaft nicht wenig beitrug.

Überblicksliste

Die wichtigsten germanischen Stammesrechte sind in der Folge ihrer Entstehung:

Föderaten auf ehemals römischem Boden (Mitte des 5. bis Mitte des 7. Jahrhunderts)
Edictum Theoderici Mitte des 5. Jahrhunderts, älteste gotische und überhaupt germanische Gesetzessammlung
Codex Euricianus Um 475, auf den westgotischen Herrscher Eurich zurückgehende Vorschriften
Lex Burgundionum Zwischen 480 und 501, am Codex Euricianus und Codex Theodosianus orientiertes Recht der Burgunden
Lex Salica Zwischen 507 und 511, älteste fränkische Rechtssammlung
Edictum Rothari Um 643, langobardische Rechtsaufzeichnung
Liber Iudiciorum oder Lex Visigothorum Um 654, dauerhafte westgotische Rechtskodifizierung des Königs Reccesvinth
Süddeutsche Germanenstämme (7.–8. Jahrhundert)
Pactus legis Alamannorum 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts, älteste alemannische Rechtsaufzeichnung
Lex Alamannorum Ab 725, Neugliederung des Pactus Legis Alamannorum
Lex Baiuvariorum Nach 740, nach dem Vorbild des Codex Eurianus und der Lex Alamannorum
Fränkische Randgebiete (9. Jahrhundert)
Lex Ribuaria 802/803, Rechtssammlung der „Rheinfranken“ um Köln einschließlich der Rechte der Friesen (Lex Frisionum), Sachsen (Lex Saxonum) und Thüringer (Lex Thuringorum)

Gemäß dem germanischen Personalitätsprinzip, das im Gegensatz zum Territorialitätsprinzip davon ausgeht, dass ein Individuum demjenigen Herrschafts- bzw. Rechtssystem unterworfen ist, dem es persönlich angehört, sei es als Stammesmitglied oder als Bürger, entstanden in Ergänzung zu den Stammesrechten auch Gesetzessammlungen, die das bestehende Vulgarrecht aus der Endphase des weströmischen Reiches zuhanden der autochthonen romanischen Bevölkerung bestätigten:

Römisch-rechtliche Erlasse
Lex Romana Visigothorum oder Breviarium Alarici(anum) 506, weitestgehend römisch geprägte Gesetzessammlung des westgotischen Königs Alarich II.
Lex Romana Burgundionum Um 500 (Datierung umstritten), Auszug aus römischen Rechtsquellen

Gepräge

Das Gepräge der verschriftlichten Gesetze folgt im Wesentlichen einer Dreiteilung: Gewohnheitsrecht („Zivilrecht“) und Satzungen der jeweiligen Herrscher („Staatsrecht“), daneben Regelungen zur Stellung der Kirche („Kirchenrecht“). In den Texten wird sowohl der weltliche Machtanspruch der neuen Herrschaft wie auch der friedensstiftende Wille (Pax Romana) in Nachfolge des römisch-christlichen Kaisertums greifbar. Der Ersatz archaischer Gewohnheitsrechte wie Rache- und Fehdebräuche zwischen Individuen und Familien durch obrigkeitlich normierte Strafkataloge versteht sich als Ausdruck des zivilisatorischen Anspruchs an die germanische Führungsschicht, die eine zunehmende Romanisierung erfuhr (Übernahme des Vulgärlateins und des katholischen Glaubens). Sie waren allerdings keine Kodifikationen mit umfassendem oder gar abschließendem Charakter, sondern trafen Regelungen meist nur nach Bedarf, soweit Rechtsübertretungen eben Sanktionen oder Satisfaktionen erforderten.

Zwischen den verschiedenen germanischen Stammesrechten bestehen Berührungspunkte oder Abhängigkeiten, wobei diese und allfällige gemeinsame Ursprünge nicht völlig geklärt sind. Die Beeinflussung durch das römische Recht ist bei denjenigen Stämmen am stärksten, die als Föderaten (Bundesgenossen) innerhalb des Imperiums angesiedelt worden waren: Goten und Burgunden. Deren Heerkönige waren zugleich kaiserliche Magistrate, ihr Recht zur Gesetzgebung leitete sich aus der Reichsgewalt und damit aus römischen Rechtsnormen ab. Ähnliches gilt auch für die Franken. Zwar verließen sie niemals vollständig ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet, siedelten aber auch auf Reichsgebiet und eroberten später erhebliche Teile des ehemals römischen Galliens und schließlich Italiens, so dass sie in Gebiete eindrangen, in denen das römische Recht immer noch in erheblichem Maße galt. Die fränkischen Rechtsaufzeichnungen am Anfang des 9. Jahrhunderts bilden den Abschluss der frühmittelalterlichen Stammesrechte. Mit dem Niedergang der fränkischen Herrschaft setzt die schriftliche Überlieferung des Rechts aus und beginnt erst wieder im 12. Jahrhundert mit den Rechtsspiegeln und Stadtrechtsbüchern, die das mittlerweile territorial ausgeprägte Gewohnheitsrecht fixierten.

Die Gesetze entstanden auf Initiative der germanischen Fürsten. In Spannung dazu stand die überkommene Vorstellung, dass der Fürst das bereits gegebene Recht bewahrte und es bloß in Mitarbeit und Zustimmung der militärischen und geistlichen Elite bessern konnte; jeder germanische Fürst musste seine Herrschaft in einer Art „Gesellschaftsvertrag“ neu begründen, weswegen alle rechtlichen Vereinbarungen mehr personellen als institutionellen Charakter hatten und kaum einen Herrschaftswechsel überdauerten. In der schriftlichen Rechtsetzung manifestierte sich hingegen die von ihren germanischen Rechtsnachfolgern übernommene Einsicht der römischen Autoritäten, dass das Recht bei zunehmender gesellschaftlicher und staatlicher Verdichtung nicht nur aus dem Volk heraus als „Gewohnheitsrecht“ besteht, sondern zugleich Ausdruck institutioneller (d. h. staatlicher oder kirchlicher) Machtschöpfung ist.

Die Rechtswerke regelten das Zusammenleben von Romanen und Germanen, Kauf und Schenkung, Testamente, Darlehen, Urkunden und vieles mehr. Sie vermitteln ein facettenreiches Bild der Rechtsvorstellungen im frühen Mittelalter und sind daher eine wichtige Quelle historischer Erkenntnis. Allerdings stellen sie auch hohe Anforderungen an ihre Interpretation. Besonders in den alemannischen, burgundischen und langobardischen Texten müssen germanische Begrifflichkeiten erst erschlossen werden, und selbst hinter eindeutig römisch-rechtlichen Termini kann germanisches Rechtsdenken stehen. Zudem widerspiegeln sie nicht unbedingt die Rechtswirklichkeit und ihre normative Kraft sowie tatsächliche Wirkung sind schwer fassbar.

Begrifflichkeit

Die nachträglichen Sammelbegriffe für die germanischen Rechtsaufzeichnungen sind Teil der Wissenschafts- und Politgeschichte: Nach Beginn der Rezeption des gelehrten römischen Rechts in Europa ab dem 12. Jahrhundert sprachen die humanistischen Juristen von Leges Barbarorum (Barbarengesetze), einerseits wegen ihres – im Vergleich mit klassisch römischen Gesetzestexten – verderbten Lateins, anderseits um die Minderwertigkeit dieser Rechtskultur gegenüber derjenigen des im Hochmittelalter wiederentdeckten und maßgeblich gewordenen Corpus iuris civilis Justinians I. zu verdeutlichen. Die Wahl des Wortes barbarisch war bewusst abfällig, denn die germanischen Stämme wurden als Zerstörer des römischen Reichs und der antiken Kultur angesehen. Die aus Romantik und nationaldemokratischen Vorstellungen des Vormärz schöpfenden Germanisten der Historischen Rechtsschule des 19. Jahrhunderts (etwa Karl Friedrich Eichhorn, Jacob Grimm, Georg Beseler oder Otto von Gierke) werteten sie hingegen positiv als Germanische Volksrechte, indem ihnen „das Volk“ als Träger einer überwiegend gewohnheitsrechtlichen Rechtskultur galt.[2] Differenzierter war die gleichzeitige oder nur leicht jüngere Bezeichnung als Stammesrechte, während man im nationalsozialistischen Deutschen Reich simplifizierend von Germanenrechten sprach.

Stammesrechte existierten noch im hohen Mittelalter in Gestalt etwa des Sachsenspiegels, Schwabenspiegels und anderer Rechtsbücher.

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Uwe Wesel: Geschichte des Rechts: Von den Frühformen bis zur Gegenwart. 3. überarbeitete Auflage. C. H. Beck, München 2001, ISBN 978-3-406-54716-4. S. 265 ff. (267 ff.).
  2. Vgl. etwa Hans-Peter Haferkamp: Die Rezeption des Römischen Rechts in den Deutungen der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Claudia Lieb, Christoph Strosetzki (Hrsg.): Philologie als Literatur- und Rechtswissenschaft. Germanistik und Romanistik 1730–1870, Heidelberg 2013, S. 247–258.