Hans Giese

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Hansernst Friedrich Giese (* 26. Juni 1920 in Frankfurt am Main; † 21. Juli oder 22. Juli 1970 (aufgefunden) bei Saint-Paul-de-Vence, Frankreich) war ein deutscher Mediziner und Sexualforscher.

Leben

Hans Giese, Sohn des Staats- und Kirchenrechtlers Friedrich Giese, studierte Medizin, Philosophie und Germanistik in Freiburg im Breisgau. Seine Studien schloss er 1943 mit der Promotion zum Dr. phil. ab (Dissertation Das Polaritätsprinzip in Goethes Dichtung) ab. Am 1. Januar 1942 wurde er Mitglied der NSDAP und hörte die Vorlesungen von Martin Heidegger. Von dessen Gedanken angeregt hielt er am 28. Januar 1944 einen Vortrag zum Thema Untersuchungen zum Wesen der Begegnung, der heute als literarischer Markstein der Emanzipation der Homosexuellen gilt. Darin unternahm er einen Versuch, eine systemkonforme, männerbündische Theorie der Homosexualität (Bernd-Ulrich Hergemöller) zu entwerfen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg promovierte er zusätzlich in Medizin (Dissertation Die Formen männlicher Homosexualität – Untersuchungen an 130 Beispielen). Er gründete im April 1949 das Institut für Sexualforschung in Kronberg im Taunus. Im Oktober 1949 beteiligte er sich in Zusammenarbeit mit Kurt Hiller an der Neugründung des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees. Mit Hiller überwarf er sich allerdings schon bald. Die Universität Frankfurt lehnte seinen Antrag auf Habilitation mit Hinweis auf seine offen vertretene Homosexualität ab.

Im Jahr 1957 war er wissenschaftlicher Berater für den Spielfilm Das Dritte Geschlecht des Regisseurs Veit Harlan, der im Dritten Reich antisemitische Propagandafilme gedreht hatte. In einem Vorfilm, der in einigen Städten gezeigt wurde, führten Giese und Harlan ein Gespräch über Homosexualität.[1] Giese beabsichtigte, eine Debatte über den seit dem deutschen Kaiserreich geltenden § 175 anzustoßen, mit der zentralen Aussage: „Homosexuelle sind anders, aber keine Kriminellen“. Harlan war zwar in mehreren Spruchkammerverfahren als „entlastet“ erkannt worden, wurde aber von seinen Gegnern weiterhin heftig bekämpft. Der Film in der ursprünglichen Version wurde in Deutschland von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft verboten. Der um seine Investitionen besorgte Filmverleih ließ Szenen nachdrehen und schnitt ihn um, wobei die Tendenz verändert wurde. Als Anders als du und ich (§ 175) kam er doch noch in die Kinos.

Giese ging 1958 nach Hamburg, wo er sich doch noch habilitieren konnte und im Jahr 1965 Professor wurde. Sein Institut für Sexualforschung wurde in die Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf integriert. Er sympathisierte mit dem libertären Zweig der APO. Für den Rowohlt-Verlag gab er ab 1968 die Taschenbuchreihe rororo Sexualität heraus. Giese verunglückte im Juli 1970 während einer Bergwanderung an der Côte d'Azur tödlich. Laut Volkmar Sigusch war Giese „der einflussreichste Sexualwissenschaftler der Adenauer-Zeit“.[2]

Bibliographie (Auswahl)

  • (Hrsg.): Monographienreihe Beiträge zur Sexualforschung ab 1952, zusammen mit dem Psychiater Hans Bürger-Prinz
  • (Hrsg.): Wörterbuch der Sexualwissenschaft, Bonn: Instituts-Verlag 1952
  • (Hrsg.): Die Sexualität des Menschen. Handbuch der medizinischen Sexualforschung (1955), 2., erweiterte Auflage Enke, Stuttgart 1971, ISBN 3-432-01713-8.
  • (Hrsg. mit A. Willy): Mensch, Geschlecht, Gesellschaft. Das Geschlechtsleben unserer Zeit gemeinverständlich dargestellt. Paris: Guillaume Aldor 1954; dt. Lizenzausgabe: Frankfurt am Main: Günter Zühlsdorf 1954
  • Der homosexuelle Mann in der Welt, Stuttgart: Enke 1958; 2., überarb. Aufl. 1964
  • (Bearb., in Verbindung mit V. E. v. Gebsattel): Psychopathologie der Sexualität, Stuttgart: Enke 1962
  • (Hrsg.): Die sexuelle Perversion (historische Texte). Frankfurt am Main: Akademische Verlagsges. 1967
  • (Hrsg.): Zur Strafrechtsreform. Symposion der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung vom 13. bis 14. November 1967 in Bonn (Beitr. Sexualforsch., H. 43). Enke: Stuttgart 1968
  • (Hrsg.): Aufklärung in Illustrierten? (Beitr. Sexualforsch., H. 44). Stuttgart: Enke 1968
  • (mit Gunter Schmidt): Studenten-Sexualität. Verhalten und Einstellung. Eine Umfrage an 12 westdeutschen Universitäten. Reinbek: Rowohlt 1968

Literatur

  • Martin Dannecker: Hans Giese (1920–1970). In: Volkmar Sigusch und Günter Grau (Hrsg.): Personenlexikon der Sexualforschung. Campus, Frankfurt am Main/New York 2009, S. 226–235, ISBN 978-3-593-39049-9.
  • Bernd-Ulrich Hergemöller: Mann für Mann. Ein biographisches Lexikon. Suhrkamp, 2001, ISBN 3-518-39766-4.
  • Moritz Liebeknecht: Sexualwissenschaft als Lebenswerk. Zur Biografie von Hans Giese (1920-1970). In: Peer Briken (Hrsg.): Perspektiven der Sexualforschung (= Beiträge zur Sexualforschung. Band 108). Psychosozial-Verlag, Gießen 2019, ISBN 978-3-8379-2918-8, S. 23–46.
  • Volkmar Sigusch: Hans Giese und seine Theorie der Homosexualität. In: Zeitschrift für Sexualforschung. 10, 1997, S. 245–252.
  • Volkmar Sigusch: 50 Jahre Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung. In: Zeitschrift für Sexualforschung. 14, 2001, S. 39–80.
  • Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft. Campus, Frankfurt am Main/New York 2008, S. 409–420, ISBN 978-3-593-38575-4.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Mario Kramp: „Himmel und Hölle“: das Leben der Kölner Homosexuellen 1945–1969. 1995, S. 103
  2. V. Sigusch: Sexualitäten. Frankfurt am Main 2013, S. 190.