Fall Hilsner

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Zeitgenössische Karikatur, die eine Analogie zwischen Hilsneriade und Dreyfus-Affäre herstellt

Der Fall Hilsner, auch bekannt als Hilsneriade war eine Serie von antisemitischen Gerichtsverfahren in Österreich-Ungarn gegen Leopold Hilsner aus Böhmen. In der Affäre, die damals großes Medieninteresse erregte, trat Tomáš Masaryk, der spätere tschechoslowakische Präsident, öffentlich gegen die Ritualmordanschuldigungen auf.

Hergang

Tatort im Wald mit einem Heiligenbild

Anežka Hrůzová, ein 19-jähriges katholisches Mädchen, das in Malá Věžnice lebte, wurde am 29. März 1899 im Umland der Stadt Polná ermordet. Drei Tage später wurde ihre Leiche in einem Wald gefunden. Es war ihr die Kehle durchgeschnitten worden. In der Nähe wurden jedoch nur wenige Blutspuren gefunden. Ziemlich bald geriet der jüdische Schuster Leopold Hilsner, (auch Hülsner,[1] 1876–1928) in Verdacht, einen Ritualmord begangen zu haben.

Durch die öffentliche Vorverurteilung bei unausgesetzter Bearbeitung des Volkes[2] und auch weil er kein eindeutiges Alibi vorweisen konnte, wurde Hilsner durch das Gericht als schuldig erkannt und am 16. September 1899 zum Tode verurteilt.[3] In der Verhandlung brachte der Vertreter der Nebenklage, der Landtagsabgeordnete Karel Baxa wiederholt das Motiv des Ritualmordes ein und sorgte so für die mediale Verbreitung der Ritualmordlegende und eine Steigerung des antisemitischen Ressentiments in Mähren.[4]

Am 25. April 1900 wurde vom Prager Kassationshof das Urteil aufgehoben und ein neues Verfahren angeordnet.[5] Am 14. November 1900, dem 17. Verhandlungstag am Geschworenengericht Písek, wurde Hilsner zwar von der direkten Mitschuld am Mord von Anežka Hrůzová freigesprochen, jedoch als Mitschuldiger[6] an dem (zwei Jahre zuvor geschehenen) Mord an Marie Klimova zum Tod durch den Strang verurteilt.[7] Das Urteil wurde vom Obersten Gerichtshof in Wien bestätigt.

Symbolisches Grab von Anežka Hrůzová nahe Polná

Versuche zur Rehabilitation unternahm auch der Philosophieprofessor und Soziologe Tomáš Masaryk, dessen in Wien erschienene Schrift Die Nothwendigkeit der Revision des Polnaer Processes[8] im tschechischen Teil Böhmens konfisziert wurde.[9] Im herrschenden antisemitischen Klima verlor Masaryk an der Prager Universität seinen Lehrauftrag. Auf seinen Druck hin, sowie dem aus Paris und Berlin, wandelte am 11. Juni 1901 Kaiser Franz Joseph I. das Todesurteil in lebenslange schwere Haft um. Einen Großteil der Haft verbüßte Hilsner in Stein in Niederösterreich.

Am 2. Juli 1917 erließ Kaiser Karl I. aus Anlass des Namenstages seines Sohnes Otto eine Politische Amnestie,[10] die Interpellationen zugunsten von Hilsner Auftrieb gab.[11] Am 19. März 1918 wandte sich eine Abordnung der Österreichisch-Israelitischen Union unter Führung von Julius Ofner (1845–1924) an Justizminister Hugo von Schauer (1862–1920) und bat um die Begnadigung Hilsners.[12] Am 24. März 1918 konnte Leopold Hilsner die Strafanstalt Stein verlassen. Er wurde jedoch gemäß einer aus 1916 stammenden oberstaatsanwaltschaftlichen Verfügung zur Bezirkshauptmannschaft Krems überstellt und in Polizeiarrest genommen, wo über seine Tauglichkeit für den Militärdienst kommissionell befunden werden sollte. Hilsner, sichtbar geschwächt durch jahrelange Unterernährung, wurde nach Wien gebracht, wo er die Musterung abzuwarten hatte.[13]

Noch 1918 wurde Hilsner Protagonist des stummen Kurzfilms Das Drama eines unschuldig Verurteilten / Der Fall Hilsner.[14] Das Werk wurde umgehend behördlich zensuriert und nach seiner (verzögerten) Veröffentlichung 1920 nur im jüdischen Bezirk von Wien gezeigt. 1922 änderte Hilsner, beruflich Handelsreisender, seinen Familiennamen auf Heller.[15]

Hilsner lebte ab 1918 in Wien, Prag sowie am Heimatort seiner Familie, Velké Meziříčí. Am 8. Jänner 1928 starb er in Wien im Rothschild-Spital. Begraben ist er auf dem Wiener Zentralfriedhof, jüdischer Teil, Tor 4, Gruppe 10a, Reihe 8, Grab Nr. 4.[16]

Einer seiner Unterstützer war der Floridsdorfer Bezirksrabbiner Joseph Samuel Bloch, der schon zu Hilsners Lebzeiten Rehabilitierungsversuche unternahm und sowohl ihn als auch dessen Familie finanziell unterstützte.

Gedenktafel für Hilsner in Wien

Während 100 Jahre später in der Tschechoslowakei Gedenkveranstaltungen stattfanden, wurde in Österreich das Thema kaum erwähnt. Auch das Grab am Zentralfriedhof konnte erst durch eine Privatinitiative wieder renoviert werden. 2002 wurde in Wien-Leopoldstadt eine Gedenktafel angebracht. Am 14. November 2008 wurde Hilsner von der damaligen österreichischen Justizministerin Maria Berger (SPÖ) in einer feierlichen Zeremonie auf dem Wiener Zentralfriedhof symbolisch rehabilitiert.[16]

Siehe auch

Literatur

  • Frank Hadler: Hilsner-Affäre. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 3: He–Lu. Metzler, Stuttgart/Weimar 2012, ISBN 978-3-476-02503-6, S. 43–46.
  • T(omáš) G(arrigue) Masaryk: Die Bedeutung des Polnaer Verbrechens für den Ritualaberglauben. H. S. Herrmann, Berlin 1900. – Volltext online.
  • Max Grunwald: Zur Psychologie und Geschichte des Blutritualwahnes. Der Prozess Simon von Trient und Leopold Hilsner. Vortrag. Calvary, Berlin 1906. – Volltext online.
  • Arthur Nussbaum: Der Polnaer Ritualmordprozess. Eine kriminalpsychologische Untersuchung auf aktenmässiger Grundlage. Mit einem Vorwort von Franz von Liszt. Hayn, Berlin 1906. – Volltext online.
  • Maximilian Paul-Schiff: Der Prozess Hilsner. Aktenauszug. Rosner, Wien 1908, OBV.
  • Zdenko Auředníček: Materiale zum Prozess gegen Leopold Hilsner. Vorgelegt der k.k. General-Prokuratur. Selbstverlag, Wien 1910, OBV.
  • Peter Zimmermann: Die Nacht hinter den Wäldern. Roman. Deuticke, Wien 2000, ISBN 3-216-30525-2.
  • Georg R. Schroubek: Der „Ritualmord“ von Polná. Traditioneller und moderner Wahnglaube. In: Rainer Erb, Michael Schmidt (Hrsg.): Antisemitismus und jüdische Geschichte : Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Berlin : Wissenschaftlicher Autorenverlag 1987, S. 149–171
  • Hilsner Case. In: Encyclopaedia Judaica, 1972, Band 8, Sp. 496 f.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ein neues Volkslied. In: Deutsches Volksblatt / Deutsches Volksblatt. Radikales Mittelstandsorgan / Telegraf. Radikales Mittelstandsorgan / Deutsches Volksblatt. Tageszeitung für christliche deutsche Politik, Morgen-Ausgabe, Nr. 4091/1900 (XII. Jahrgang), 24. Mai 1900, S. 5, unten links. (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/dvb.
  2. Zum Proceß in Písek (Memento vom 22. April 2014 im Internet Archive). In: Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 2. November 1900, Nr. 44/1900 (XVII. Jahrgang), ZDB-ID 2177107-8, S. 777 f.
  3. Vom Tage. Der Unkulturprozeß. In: Arbeiter-Zeitung, Morgenblatt, Nr. 256/1899 (XI. Jahrgang), 17. September 1899, S. 1. (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/aze.
  4. Albert Lichtblau: Die Debatten über die Ritualmordbeschuldigungen im österreichischen Abgeordnetenhaus am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Rainer Erb (Hrsg.): Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, Berlin 1993, S. 267–292, hier S. 270 f.
  5. Gerichtssaal. Prozeß Hilsner. In: Arbeiter-Zeitung, Morgenblatt, Nr. 115/1900 (XII. Jahrgang), 28. April 1900, S. 7, Mitte rechts. (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/aze.
  6. Aus Anlass des Gerichtsurtheiles von Písek wird nachstehende Preis-Ausschreibung erneuert: 5000 Gulden ö(sterreichischer) W(ährung) Belohnung (Memento vom 22. April 2014 im Internet Archive). In: Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 16. November 1900, Nr. 46/1900 (XVII. Jahrgang), ZDB-ID 2177107-8, S. 817 und 823 f.
  7. Prozeß Hilsner. (…) Siebzehnter Verhandlungstag. In: Prager Abendblatt, Nr. 261/1900, 15. November 1900, S. 3 Mitte. (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/pab.
  8. Tomáš Garrigue Masaryk: Die Nothwendigkeit der Revision des Polnaer Processes. Verlag „Die Zeit“, Wien 1899, OBV.
  9. Die Nothwendigkeit der Revision des Polnaer Prozesses (Memento vom 22. April 2014 im Internet Archive). In: Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 17. November 1899, Nr. 46/1899 (XVI. Jahrgang), ZDB-ID 2177107-8, S. 870, Mitte rechts.
  10. Österreich. Amnestie für politische Verbrechen. In: Politische Chronik der österreichisch-ungarischen Monarchie, Jahrgang 1917, Heft 7, S. 370 f. (Online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/pch.
  11. Ein Gnadenakt seiner Majestät des Kaisers. Zur Befreiung Leopold Hilsners (Memento vom 22. April 2014 im Internet Archive). In: Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 6. Juli 1917, Nr. 26/1917 (XXXIV. Jahrgang), ZDB-ID 2177107-8, S. 441 f.
  12. Die Begnadigung Hilsners@1@2Vorlage:Toter Link/www.compactmemory.de (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. . In: Die Wahrheit, 5. April 1918, Nr. 7/1918, ZDB-ID 2176231-4, S. 4 f.
  13. Korrespondenzen. Die Begnadigung Hilsners (Memento vom 22. April 2014 im Internet Archive). In: Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift, 12. April 1918, Nr. 14/1918 (XXXV. Jahrgang), ZDB-ID 2177107-8, S. 218 f.
  14. Das Drama eines unschuldig Verurteilten in der Internet Movie Database (englisch).
  15. Petr Vašíček: Polná Ritual Murder 1899. (englisch). In: Albert S. Lindemann (Hrsg.), Richard S. Levy (Hrsg.): Antisemitism. A history. Band 1: A–K. Oxford University Press, Oxford 2005, ISBN 1-85109-439-3, S. 558, online.
  16. a b Freitag: Gedenkveranstaltung für Leopold Hilsner am Zentralfriedhof. Ansprachen von Justizministerin Maria Berger und IKG-Präsident Ariel Muzicant. In: ots.at, 10. November 2008, abgerufen am 6. April 2014.