Issyk-Baktrien-Schrift

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Als Issyk-Schrift oder unbekannte baktrische Schrift oder unbekannte Kuschana-Schrift, bei einigen Autoren auch sakische Schrift, wird eine (oder mehrere) selten überlieferte Schrift(en) bezeichnet. Sie ist einerseits aus einem Grabhügel eines sakischen Fürsten aus dem 4./3. Jahrhundert v. Chr. bei Jessik (Issyk), nahe Almaty in Südost-Kasachstan, bekannt. Andererseits wurde sie in zehn Inschriften gefunden, die aus der historischen Region Baktrien (Nord-Afghanistan und Nachbargebiete Tadschikistans und Usbekistans) von der Zeit des Griechisch-Baktrischen Reiches (3.–2. Jahrhundert v. Chr.) bis zur Zeit des Kuschanareiches (2.–3. Jahrhundert n. Chr.) stammen.

Sie ist bis heute nicht allgemein anerkannt entziffert. Zahlreiche Entzifferungsvorschläge werden von Fachleuten als „mit Vorsicht zu behandeln“ und „zweifelhaft“ bezeichnet. Im Griechisch-Baktrischen Reich und im Kuschanareich war diese unbekannte Schrift nicht die einzige verwendete Schrift und Sprache. Sehr viel häufiger sind Inschriften in baktrischer Sprache oder griechischer Sprache, beides in griechischer Schrift, oder in mittelindischen Prakrit-Sprachen mit Kharoshthi-Schrift.

Issyk-Inschrift

Silberschale von Issyk
Schriftzeichen auf der Silberschale

Bei der Ausgrabung eines Grabhügels sakischer Nomaden aus dem 4./3. Jahrhundert v. Chr. bei Jessik (Issyk) nahe Almaty wurde 1969 neben Goldbeigaben auch eine Silberschale gefunden, auf deren Unterseite unbekannte Schriftzeichen eingeritzt waren, die sogenannte „Issyk-Inschrift“.

Seit ihrer Entdeckung bis heute stellten zumeist turksprachige Forscher immer wieder Ähnlichkeiten mit den allerdings 900–1000 Jahre jüngeren alttürkischen Orchon-Runen fest und versuchten sie als alttürkische Inschrift zu lesen, was in der sonstigen Fachwelt aufgrund des zeitlichen Abstands und der widersprüchlichen Ergebnisse der Entzifferungsversuche mehrheitlich auf Ablehnung stößt. Weil jeder dieser etwa zehn Versuche einen völlig anderen Inhalt in die Inschrift hineinlas,[1] können sie nicht als erfolgreich gelten. Es gibt auch keine Hinweise in überlieferten Namen, dass Alttürkisch 900–1000 Jahre vor den Orchon-Runen in dieser Region gesprochen wurde, und der extreme zeitliche Abstand macht Zusammenhänge unwahrscheinlich, zumal die meisten von ihnen die Inschriften aus Baktrien in derselben Schrift außer Acht ließen, wo definitiv kein Alttürkisch nachweisbar ist.

Einige Experten vermuten, die Ähnlichkeit mit den Orchon-Runen beruhe auf der gemeinsamen Herkunft von der reichsaramäischen Schrift, die in Mittelasien verbreitet war und mit der beide Schriften Ähnlichkeit besitzen.[2] Die Tatsache, dass alle in Mittel- und Südasien entstandenen Schriftsysteme auf das Vorbild der reichsaramäischen Schrift zurückgehen und ihr anfangs noch ähnlich sahen, den Zeichen allerdings verschiedene Bedeutungen gaben, macht die Identifikation der Sprache und Entzifferung der Issyk-Inschrift kompliziert.

Nicht entzifferte Inschriften in Baktrien

Der sowjetisch-russische Iranist Wladimir Liwschiz wies darauf hin, dass diese Schrift von Issyk Ähnlichkeit mit späteren, ebenfalls nicht entzifferten Inschriften aus dem Kuschanareich im 2.–3. Jahrhundert n. Chr. in der historischen Region Baktrien hat, darunter Inschriften in Surkh Kotal,[3] Ai Khanoum (aus griechisch-baktrischer Zeit),[4] eine Trilingue vom Fundplatz Dascht-e Nawor[5] (in den Sprachen Baktrisch mit griechischer Schrift, indisches Prakrit in Kharoshthi-Schrift und in dieser unbekannten Sprache und Schrift),[6] sowie sieben weiteren kurzen Inschriften.[7] Liwschiz und sein georgischer Kollege Rtweladse schlugen vor, diese Schrift als „sakische Schrift“ zu bezeichnen, weil sie in der Zeit sakischer Nomaden erstmals auftaucht und offenbar später von den sakischen Nomadenverbänden, die sich den siegreichen Yuezhi anschlossen, weiterverwendet wurde, auch nachdem diese Yuezhi das Kuschanareich gegründet hatten.[8] Allerdings hat nur ein Teil der baktrischen Inschriften fast identische Buchstaben zur Issyk-Inschrift, andere zeigen leichte Abweichungen, weshalb der französische Iranist Gérard Fussman diskutierte, ob es sich um mehrere Schriftsysteme handeln könnte.[9]

Von der Hypothese einer sakischen Schrift von Liwschiz und Rtweladse ausgehend, schlug der ungarische Linguist und Historiker János Harmatta, ein angesehener Experte der antiken Geschichte des eurasischen Steppenraums in skythisch-sakischer und hunnisch-awarischer Zeit, im Jahr 1999 eine Entzifferung der Inschriften von Issyk, Dascht-e Nawor und Ai Khanoum durch Analogien zur khotansakischen Sprache vor und durch Ähnlichkeiten der Buchstaben mit der Kharoshthi-Schrift.[10] In der Fachwelt stieß aber auf Skepsis, dass die im 5.–3. Jahrhundert v. Chr. in der nordindischen Region Gandhara entstandene Kharoshthi-Schrift schon zur Entstehungszeit über 1000 km nördlich Einfluss gehabt haben soll und dass die kombinierte Laut-Silbenschrift (Abugida-Schrift) Kharoshthi von Harmatta als komplette Silbenschrift gelesen wurde, weshalb der Vorschlag „mit Vorsicht zu behandeln“ sei. Auch die Zuordnung als „sakische Schrift“ stieß auf Bedenken, weil sie nur auf der Silberschale von Issyk beruht, die aber vielleicht auch ein Beute- oder Importgut aus Baktrien gewesen sein könnte. Es existieren ein weiterer Entzifferungsvorschlag von dem deutschen Iranisten Helmut Humbach, der die Inschrift von Surkh-Kotal als mithraistische Inschrift lesen wollte, den er später selbst verwarf, und ein Entzifferungsvorschlag der Inschriften in Dascht-e Nawor und Rabātak von Nicholas Sims-Williams, den Fussman als „übermäßig spekulativ“ ablehnte.[11]

Der Mehrheit der Fachwelt gilt die aus Issyk und Baktrien bekannte Schriftform weiterhin auch in jüngster Zeit (2014) als „nicht entziffert“.[12]

Einzelnachweise

  1. Einen kurzen Überblick über die meisten Entzifferungsversuche der Issyk-Inschrift gibt die Tabelle am Ende dieser (nicht fachwissenschaftlichen) Seite.
  2. В. А. Лившиц: О происхождении древнетюркской рунической письменности. Археологические исследования древнего и средневекового Казахстана. Алма-Ата, 1980. (W. A. Liwschiz: Über den Ursprung der alten türkischen Runenschrift. Archäologische Forschungen des antiken und mittelalterlichen Kasachstans.) Alma-Ata 1980.
  3. Einsehbar bei Gérard Fussman: Documents épigraphique Kouchans. in: Bulletins de l'École française d'Extrême-Orient. Nr. 61 (1974), S. 1-76, im Anhang, Planche VII (=Tafel VII) als Rekonstrukruktionszeichnung und Planche XXVIII als Foto.
  4. Einsehbar bei Paul Bernard et al.: Campagne de fouille 1978 à Aï Khanoum (Afghanistan). in: Bulletins de l'École française d'Extrême-Orient. Nr. 68 (1980), S. 1-104, Zeichnung S. 83 als Rekonstrukruktionszeichnung.
  5. Einsehbar bei Gérard Fussman: Documents épigraphique Kouchans. in: Bulletins de l'École française d'Extrême-Orient. Nr. 61 (1974), S. 1-76, im Anhang, Planche V (=Tafel V) als Rekonstrukruktionszeichnung und Planche XXIII–XXVII als Fotos, nur die Kolumnen DN III und DN V sind in der unbekannten Schrift verfasst.
  6. Gérard Fussman: Dašt-e Nāwor. in: Encyclopædia Iranica, letzter Absatz.
  7. Vgl. Aufzählung von J. Harmatta im Unterkapitel „An unknown language in an unknown script“ S. 417–422, im Kapitel J. Harmatta: Languages and Literature of the Kushan Empire. in: Ahmad Hasan Dani, János Harmatta et al.: History of Civilisations of Central Asia. Vol. II., Delhi 1999, hier S. 417.
  8. В. А. Лившиц: О происхождении древнетюркской рунической письменности. Археологические исследования древнего и средневекового Казахстана. Алма-Ата, 1980. (W. A. Liwschiz: Über den Ursprung der alten türkischen Runenschrift. Archäologische Forschungen des antiken und mittelalterlichen Kasachstans.) Alma-Ata 1980.
  9. Gérard Fussman: Dašt-e Nāwor. in: Encyclopædia Iranica, letzter Absatz.
  10. Veröffentlicht in: J. Harmatta im Unterkapitel „An unknown language in an unknown script“ S. 417–422, im Kapitel J. Harmatta: Languages and Literature of the Kushan Empire. in: Ahmad Hasan Dani, János Harmatta et al.: History of Civilisations of Central Asia. Vol. II., Delhi 1999.
  11. Nicholas Sims-Williams, Harry Falk: Kushan Dynasty II: Inscriptions of the Kushans. in: Encyclopædia Iranica, vierter bis siebenter Absatz.
  12. Nicholas Sims-Williams, Harry Falk: Kushan Dynasty II: Inscriptions of the Kushans. in: Encyclopædia Iranica, letzter Satz im ersten Absatz.