Jüdisches Leben in Bochum

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Das jüdische Leben in Bochum lässt sich ab dem 17. Jahrhundert nachweisen. Bochum ist heute Sitz der jüdischen Einheitsgemeinde Jüdische Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen.

Geschichte

Der Beginn jüdischen Lebens in Bochum

1616 wurden in einer Bochumer Stadtrechnung zwei jüdische Familien namentlich erwähnt. Ob Bochum bereits früher jüdische Einwohner oder sogar eine Synagoge hatte, ist unsicher. 1736 wurden bereits neun Familien gezählt. Zu ihnen gehörte Dr. Coppilia Pictor, der erste studierte und promovierte Arzt in der Stadt. Die anderen Familienvorstände waren Krämer, Schlächter, Kaufleute, Geldverleiher.

1812 trat das Preußische Judenedikt in Kraft, dass den 74 zu der Zeit in Bochum lebenden Juden unter anderem größere Freiheit bei der Wahl des Wohnsitzes gewährte. 1828 wurde eine jüdische Volksschule gegründet. 1852 gab es bereits 201 Juden in Bochum.

Die Bestattungen fanden an fünf Stellen im Stadtgebiet von Bochum und der ehemaligen Stadt Wattenscheid statt. Heute sind nur der Friedhof in Wattenscheid und der Friedhof an der Wasserstraße in Bochum erhalten. In Bochum-Stiepel befand sich ein Begräbnisplatz an der Straße Am Brunen, bei dem die letzte Bestattung um das Jahr 1880 erfolgt sein soll.[1]

Gründung der Synagogengemeinde Bochum

1854 entstand die Synagogengemeinden Bochum. Ebenso entstanden Gemeinden in den Nachbarstädten Hattingen und Witten. Sie waren als Körperschaft öffentlichen Rechts organisiert, was ihnen eine gewisse organisatorische Sicherheit verlieh. Die Gemeinde wählte aus ihrer Mitte sogenannte Repräsentanten, die den Gemeindehaushalt festsetzten und kontrollierten.

Alte Synagoge in der Wilhelmstraße

1863 wurde die Alte Bochumer Synagoge an der damaligen Wilhelmstrasse (heute Huestrasse) eingeweiht. Aus diesem Anlass fanden große Feierlichkeiten statt, an denen die allgemeine Bevölkerung teilnahm.

1895/96 musste die Synagoge erweitert werden. Damals lebten etwa 800 Juden in Bochum, überwiegend als Kaufleute und Handwerker, später auch als Rechtsanwälte und Ärzte. Einige Mutige investierten in neue Erfindungen und zukunftsträchtige Branchen: Jakob Goldstaub gründete 1910 Bochums größtes und modernstes Kino, Bendix Bloch war Inhaber der ersten Werbeagentur in Bochum. Das bürgerliche Leben in Bochum wurde zu der Zeit gleichermaßen von Juden und Nicht-Juden gestaltet und geprägt. Jüdische Männer und Frauen waren Mitglieder und Vorsitzende vieler Bochumer Vereinigungen. Die Aktivitäten der Vereine, die innerhalb der jüdischen Gemeinde bestanden, waren Bestandteil des Bochumer Lebens.

1918 entstand der jüdische Friedhof an der Wasserstraße.

1932 hatte die Bochumer jüdische Gemeinde 1152 Mitglieder und war damit die drittgrößte in Westfalen.

Zeit des Nationalsozialismus

Nach der Machtergreifung wurden die Juden in Bochum verfolgt. Jüdische Geschäfte wurden anfangs boykottiert, später nahezu entschädigungslos zwangsenteignet — dieses durch geldgierige Bürger aus Bochum oder durch die von Nationalsozialisten beherrschte örtliche Behörden. Juden, die bei Nichtjuden angestellt waren, wurden oder mussten von diesen entlassen werden. Die jüdische Minderheit wurde so drangsaliert, dass sie sich kaum mehr ernähren konnte. Manche Juden schafften es, bis 1938 auszuwandern. Vorher verloren sie durch behördliche Maßnahmen die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen. Dann mussten sie vor der Auswanderung durch extra dafür erfundene Sondersteuern Teile ihres Vermögens an den deutschen Staat abliefern. Ende Oktober wurden im Rahmen der Polenaktion viele ehemalige aus Polen stammende Juden von einem auf den anderen Tag in einer Zwangsaktion nach Bentschen an der Grenze zu Polen deportiert. Zigtausende Juden mussten daraufhin dort im Freien campieren, weil Polen sich weigerte seine eigenen Staatsbürger aufzunehmen. Als daraufhin der aus Hannover stammende und schon vorher aus Deutschland geflüchtete Herschel Grynszpan einen deutschen Diplomaten in Paris erschoss, veranstalteten die Deutschen den Novemberpogrom, bei dem in ganz Deutschland hunderte Menschen ums Leben kamen und nahezu alle religiösen Gebäude der Juden abgebrannt wurden oder anderweitig zerstört. Die Männer der Bochumer jüdischen Familien wurden dabei ins KZ Oranienburg interniert und dort unter anderem von SS-Leuten misshandelt. Die Juden wurden nach mehreren Monaten erst entlassen, nachdem sie zugesichert hatten, in Kürze aus dem Deutschen Reich auszureisen. Bei den folgenden Ausreisen verloren die Betroffenen durch verschärfte Sonderangaben fast ihr ganzes noch existierendes Vermögen. Vor allem durch diese Verfolgungsmaßnahmen sank die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde von 1932 bis 1941 von 1134 auf 253 Menschen. Eine sehr große Zahl der Juden aus Bochum kam in der Shoa um. Für die Deportationen hatte der Nordbahnhof Bochum eine zentrale Funktion.[2]

Das Warenhaus der Gebr. Alsberg AG wurde „arisiert“ und in Kaufhaus Kortum umbenannt. Zu den Profiteuren der Zerschlagung des Kölner Alsberg-Konzerns zählte der spätere Milliardär Helmut Horten.

Die Lehrerin Else Hirsch half, Kindertransporte ins Ausland organisieren. Sie selbst verblieb als einzige jüdische Lehrperson bei den zurückgebliebenen Schülern an der jüdischen Schule in Bochum, bis sie im September 1941 aufgelöst wurde. Ende Januar 1942 wurde Else Hirsch zusammen mit einigen ihrer Schüler ins Rigaer Ghetto deportiert, etwa 1943 kam sie dort um.

Der Rechtsanwalt und Notar Carl Rawitzki erhielt 1933 Berufsverbot, ging nach Berlin und dann nach Großbritannien. Verarmt kehrte er 1949 nach Bochum zurück und vertrat Opfer in Entschädigungsfragen.

Siegmund Schoenewald, Jurist und Notar sowie Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, erhielt 1933 Berufsverbot. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde er ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Er wurde dort einen Monat lang festgehalten. Er ging in die Niederlande, wohin ihm seine Frau im März 1939 folgte. Zusammen emigrierten sie am 28. August 1939 nach Großbritannien. Er verstarb dort einen Tag später, am 29. August 1939.[3]

Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg

Dennoch gab es einige wenige, die nach dem Ende des Terrorregimes wieder in ihre Heimatstadt Bochum zurückkehrten. Im Februar 1946 lebten 33 Juden in Bochum, die sich darum bemühten, wieder eine lebendige Gemeinde zu schaffen und zu erhalten. Im September 1947 stellte die Stadt Bochum den Mitgliedern im Haus Brückstrasse 33 b einen Raum als Betsaal zur Verfügung, in dem schon im Oktober die erste jüdische Hochzeit nach dem Krieg stattfand.

Aufgrund der geringen Mitgliedzahlen schlossen sich 1953 die Gemeinden Bochum, Herne und Recklinghausen zusammen und wurden als Körperschaft des öffentlichen Rechts unter dem Namen Jüdische Kultusgemeinde Bochum-Herne-Recklinghausen anerkannt. Der größte Teil des Gemeindelebens fand nun in Recklinghausen statt, wo bereits 1955 die neue Synagoge eingeweiht wurde.

Begründet durch das Abkommen zwischen der ehemaligen Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland konnten ab 1990 Menschen jüdischen Glaubens in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln. Dadurch entwickelte sich die Mitgliederzahl derart positiv, dass sich die Gemeinde Bochum-Herne-Recklinghausen Anfang 1999 teilte; es entstanden die Gemeinden Jüdische Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen und die Jüdische Gemeinde Recklinghausen.

Seit 2004 werden im Rahmen des Gedenkens an den Holocaust Stolpersteine in Bochum verlegt.

Neue Bochumer Synagoge, eingeweiht 2007

Am 14. November 2005 legte Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, in Anwesenheit von über 500 Besuchern den Grundstein für die Neue Synagoge Bochum. Die Synagoge wurde am 16. Dezember 2007 eröffnet.[4] Die Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen hatte 2011 1122 Mitglieder,[5] 2014 waren es 1.065 Mitglieder. Sie ist die zweitgrößte Gemeinde in Westfalen. Vorsitzender der Gemeinde wurde Grigory Rabinovich. Die Arbeit der Gemeinde umfasst die Durchführung von religiösen Veranstaltungen, Feiern und Religionsunterricht. Daneben bietet sie den Mitgliedern soziale Betreuung, Teilnahme an diversen Clubs und Weiterbildungen an und führt sportliche und kulturelle Veranstaltungen für alle Mitbürger sowie Kinder- und Jugendveranstaltungen durch.

2017 beschlossen die Mitglieder der Gemeinde, in der Öffentlichkeit keine Kippa mehr zu tragen, da sie immer wieder Beschimpfungen ausgesetzt seien, sobald sie auf der Straße als Jude zu erkennen sind. Ein Großteil dieser Attacken komme von muslimischen Jugendlichen, meinen Vertreter der Gemeinde.[6]

Siehe auch

Literatur

  • Ingrid Wölk: Vom Boykott bis zur Vernichtung. Leben Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden in Bochum und Wattenscheidt 1933–1945. Ein Quellen – und Arbeitsbuch. Hg. Stadtarchiv Bochum, Essen 2002 ISBN 978-3-89861-047-6
  • Ingrid Wölk: Ortsartikel Bochum, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, hg. von Frank Göttmann, Münster 2016, S. 197–226 Online-Fassung der Historischen Kommission für Westfalen.
  • Hubert Schneider: Leben nach dem Überleben: Juden in Bochum nach 1945. Schriften des Bochumer Zentrums für Stadtgeschichte. Klartext, Essen 2014
  • Ingrid Wölk: Leo Baer. 100 Jahre deutsch-jüdische Geschichte. Schriften des Bochumer Zentrums für Stadtgeschichte. Klartext, Essen 2016[7]
  • Manfred Keller: Im jüdischen Bochum : Spurensuche auf dem Stelenweg. Gimmerthal, Bochum 2019, ISBN 978-3-00-063500-7 Deutsche Nationalbibliothek
  • Henry Wahlig: Bochums vergessene Fußballmeister. Die jüdische Sportgruppe Bochum 1925-1938. In: Bochumer Zeitpunkte, Heft 19, 2007, S. 36–44 (online)
  • Henry Wahlig: „Wunden aller Art“. Die jüdische Gemeinde Bochum 1945/46 im Spiegel der ersten Gemeindegründungen nach dem Holocaust. In: Bochumer Zeitpunkte, Heft 20, 2007, S. 39–47 (online)
  • Ernst-Albrecht Plieg: Moritz Lindau - ein jüdischer Radsportler aus Bochum 1877-1942 (?). In: Bochumer Zeitpunkte, Heft 22, 2008, S. 3–10 (online)
  • Hubert Schneider: Jüdische Familien in Bochum – ihre Bedeutung für die Entwicklung der Stadt. In: Bochumer Zeitpunkte, Heft 23, 2009, S. 3–24 (online)
  • Hubert Schneider: Schicksale der Ärzte jüdischer Herkunft aus Bochum. In: Bochumer Zeitpunkte, Heft 27, 2011, S. 3–27 (online)
  • Hubert Schneider: Dr. Carl Rawitzki (1879-1963), der vergessene Ehrenbürger der Stadt Bochum. In: Bochumer Zeitpunkte, Heft 30, 2013, S. 34–57 (online)
  • Hubert Schneider: Es begann 1933: Die Verfolgung der Bochumer Juden. Das Beispiel des Rechtsanwalts Dr. Siegmund Schoenewald und seiner Ehefrau Ottilie, geb. Mendel. In: Bochumer Zeitpunkte, Heft 34, 2015, S. 3–18 (online)
  • Hubert Schneider: November 1938. Jüdische Männer werden in Konzentrationslager und Polizeigefängnisse verschleppt. Das Beispiel Bochum. In: Bochumer Zeitpunkte, Heft 36, 2016, S. 26–41 (online)
  • Hubert Schneider: Deportation Bochumer Juden, das Schicksal jüdischer Familien, dargestellt an Beispiel des Transportes X/1 Dortmund -Theresienstadt. In: Bochumer Zeitpunkte, Heft 41, 2020, S. 76–88 (online)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Gisela Wilbertz: Jüdische Friedhöfe im heutigen Bochumer Stadtgebiet. Brockmeyer Bochum, 1988
  2. Zitat Hanke nach Coolibri, 2015
  3. Hubert Schneider: Es begann 1933. Die Verfolgung der Bochumer Juden. Am Beispiel des Rechtsanwalts Dr. Siegmund Schoenewald und seiner Ehefrau Ottilie, geb. Mendel. In: Bochumer Zeitpunkte, Nr. 34, August 2015, S. 3–18.
  4. http://www.juedische-allgemeine.de/gemeinden/bochum
  5. http://www.zentralratdjuden.de/de/topic/59.html?gemeinde=50
  6. Die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Bochum tragen öffentlich keine Kipa mehr. Radio Bochum, 16. November 2017, archiviert vom Original am 19. November 2017; abgerufen am 25. November 2017.
  7. Leo Baer, geb. 22. Mai 1889 in Bochum, gest. 18. März 1984 in Toronto. 1938 KZ Sachsenhausen. 1939 Emigration mit der Familie nach Frankreich, Fremdenlegion in Algerien, Résistance in Frankreich, dann nach Kanada