Katharsis (Literatur)

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Die Katharsis (altgriechisch κάθαρσις kátharsis „Reinigung“) bezeichnet nach der Definition der Tragödie in der aristotelischen Poetik die „Reinigung“ von bestimmten Affekten. Durch das Durchleben von Jammer/Rührung und Schrecken/Schauder (von griechisch éleos und phóbos, von Lessing auch mit Mitleid und Furcht übersetzt) erfährt der Zuschauer der Tragödie als deren Wirkung eine Läuterung seiner Seele von diesen Erregungszuständen (Poetik, Kap. 6, 1449b26).

Katharsis war ein Begriff aus der Sphäre des Sakralen und bezeichnete die kultische Reinigung.[1] In der medizinischen Fachliteratur, z. B. bei Hippokrates, wurde das Wort für purgierende Ausscheidungen des Körpers verwendet.[2]

Interpretation und Wirkungsgeschichte

Die Katharsis-Konzeption von Aristoteles gehört zu den wirkungsmächtigsten Ideen der Dichtungstheorie. Sie erfuhr in der Folgezeit verschiedenste Interpretationen und Fortschreibungen, die im Folgenden exemplarisch dargestellt werden sollen.

Erziehung zu einer stoischen Haltung gegenüber dem Schicksal

Diese Vorstellung wurde von Martin Opitz im 17. Jahrhundert entwickelt und bezieht sich einerseits auf die Philosophie der Stoiker sowie der ursprünglich griechischen Tragödie, in der der Mensch einem zerstörenden Schicksal ausgeliefert ist, aber die Größe besitzt, dieses von den Göttern verhängte Schicksal auf sich zu nehmen (bspw. Ödipus). Durch die Tragödie und die aus der Präsentation entstehende Katharsis sollte auch der Zuschauer zu einer stoischen Haltung angeleitet werden. Diese Vorstellung passte zu christlichen Vorstellungen des 17. Jahrhunderts und zu dem von Opitz aufgestellten ästhetischen Grundsatz, dass die Poesie, indem sie ergötze, zugleich nützen und belehren müsse. Mit diesem Grundsatz legt er sich auf eine der drei Varianten fest, die bereits von Horaz in der Ars poetica formuliert worden waren, dass nämlich Dichter entweder belehren oder ergötzen wollen oder beides zugleich.[3]

Die Reinigung von Leidenschaften in der Seele des Zuschauers durch Mitleid und Furcht

Diese Vorstellung wurde ursprünglich von Pierre Corneille (17. Jahrhundert) entwickelt. Der Konflikt zwischen Leidenschaft und Pflicht wird vom heroischen Willensmenschen ganz im Sinne der Ethik von René Descartes zugunsten der Pflichten entschieden. Auch Gotthold Ephraim Lessing vertrat in seiner Hamburgischen Dramaturgie das Konzept der Reinigung durch Furcht und Mitleid, um die moralische Erziehung des Publikums zu unterstützen; denn der moralischste Mensch sei der mitleidende Mensch, der das Schicksal für sich selbst fürchtet. Der Zuschauer leidet mit dem Helden mit (bspw. in Horace) und reinigt sich so von seinen eigenen Leidenschaften. So wird es ihm erleichtert, selbst ethisch zu handeln.

Ausgleich statt Reinigung

Goethe (18. Jahrhundert) bezieht die Katharsis nicht mehr auf den Zuschauer, sondern auf die Personen des Stückes und sieht in ihr ein Ausgleichen der Leidenschaften. Im Sinne der Harmonie und Humanität wird im Sinne der Ideale der Klassik eine Vereinbarkeit von „Pflicht“ und „Neigung“ (Vernunft und Gefühl) angestrebt, die keine Menschenopfer kostet (bspw. Iphigenie auf Tauris).

Weitere Entwicklung

Die bis ins 18. Jahrhundert vorherrschende moralisierende Interpretation der Katharsis versteht also die psychische Veränderung vor allem als Vorbereitung für eine moralische Verbesserung. Modernere psychologisierende Deutungen geben der Veränderung eher den Sinn eines Abbaus psychischer Spannungen. Im Psychodrama nach Jacob Levy Moreno soll moralisch wertfreier die Katharsis nach der Maxime „Jedes wahre zweite Mal ist wie das erste Mal“ zu einer Neuorientierung der Lebensgrundsätze sowohl bei Zuschauern wie auch Protagonisten des psychodramatischen Spiels führen.

In Bezug auf die Entwicklung des deutschen Theaters polemisierte vor allem Bertolt Brecht in seiner Theatertheorie (episches Theater) gegen die Katharsis und forderte einen distanzierten Zuschauerblick. (Post-)modernes Theater ist zunehmend geprägt von fragmentarischen Katharsis-Effekten, die allerdings auf keinen dramaturgischen oder moralischen Nenner mehr zurückzuführen sind.

Auch Augusto Boal, Erfinder des Theater der Unterdrückten, das die Unterscheidung Zuschauer-Schauspieler aufzuheben sucht, hält die Katharsis „für etwas sehr Schädliches“. „Auch in mir, und in jedem anderen, steckt Veränderungskraft. Diese Fähigkeiten will ich freisetzen und entwickeln. Das bürgerliche Theater unterdrückt sie.“[4]

Siehe auch

Literatur

  • Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorien der Antike. Aristoteles – Horaz – 'Longin'. Eine Einführung. 2. Auflage. Darmstadt 1992, S. 89–110.
  • Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödienansatzes. In: ders.: Hellas und Hesperien I. 2. Auflage. Zürich / Stuttgart 1970.
  • Matthias Luserke (Hrsg.): Die aristotelische Katharsis: Dokumente ihrer Deutung im 19. und 20. Jahrhundert. o. V., Hildesheim 1991.
  • G. E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie. (1768/69).
  • F. Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. 1792.
  • H. Michels: Reinigt die Welt, sie braucht es! Kathartische Theatralität in Manifesten und Programmen der klassischen Avantgarde. o. V., Berlin 2006.
  • Martin Vöhler, Dirck Linck (Hrsg.): Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud. de Gruyter, Berlin 2009, ISBN 978-3-11-020624-1.
  • Gottfried Fischborn: Katharsis als sozialistische Wirkungsstrategie. Beobachtungen und Hypothesen aus einem Jahrzehnt DDR-Dramatik. In: Horst Nalewski, Klaus Schuhmann (Hrsg.): Selbsterfahrung als Welterfahrung. DDR-Literatur in den siebziger Jahren. Aufbau, Berlin/ Weimar 1981, DNB 820831808.
  • Der Briefwechsel. (zwischen Peter Hacks und Gottfried Fischborn). In: Gottfried Fischborn, Peter Hacks: Fröhliche Resignation. Eulenspiegel-Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-359-01684-7, S. 109–142.
  • Michael Thiele: Die Negation der Katharsis – zur Theorie des aristotelischen Begriffs als ästhetisches Phänomen. Phil. Diss. Düsseldorf 1982, DNB 880462361.
  • R. Lüthe: Katharsis. In: P. Prechtel, F.-P. Burkard (Hrsg.): Metzler Verlag Philosophie Lexikon. Metzler, Stuttgart 2004, ISBN 3-476-90085-1.
  • H. Biermann, B. Schurf: Texte, Themen und Strukturen. Cornelsen, o. O. 2006, ISBN 3-464-61639-8.

Einzelnachweise

  1. Contemplation et vie contemplative selon Platon. Paris, J. Vrin, 1936; réimp. 1975. (Bibliothèque de philosophie). ISBN 2-7116-0242-7, S. 123 ff. Siehe Georg Picht: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969, S. 133.
  2. Kindlers Literaturlexikon. Band 1, S. 700.
  3. Vgl. Hor. Ars 333f. Aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae. (Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter, oder zugleich für das Leben sowohl Erfreuliches als auch Angemessenes sagen.)
  4. Henry Thorau: Interview mit Augusto Boal, in: Augusto Boal: Theater der Unterdrückten / Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, S. 157–168, hier S. 159.