Kritischer Realismus

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Der Kritische Realismus ist eine philosophische, insbesondere (metaphysische) ontologische und erkenntnistheoretische Grundposition, die davon ausgeht, dass eine reale Welt existiert, die der sinnlichen Wahrnehmung entspricht, aber (im Gegensatz zum naiven Realismus) durch die Art und Weise der menschlichen Wahrnehmung nicht sofort und unmittelbar erkennbar ist, inwieweit sie mit den durch die menschliche Verarbeitung entstehenden Erscheinungen übereinstimmt.

Ein klassisches Beispiel für die Begrenzung der menschlichen Wahrnehmung ist der Frequenzbereich des menschlichen Hörens, in dem weder die Töne einer Hundepfeife noch der tiefen Töne, die teilweise von Elefanten erzeugt werden, enthalten sind. Der kritische Realist geht davon aus, dass die menschliche Wahrnehmungswelt die außerphänomenale Realität zwar meist relativ gut abbildet, ihr aber nicht vollkommen entspricht. 1966 verfasste Norbert Bischof für das Handbuch der Psychologie (Band 1/1, hrsg. von Wolfgang Metzger und H. Erke) den Beitrag „Erkenntnistheoretische Grundlagenprobleme der Wahrnehmungspsychologie“, die erste systematische Darlegung des Kritischen Realismus für die Psychologie der Wahrnehmung, eine bis heute auch für die erkenntnistheoretische Position der Gestalttheorie maßgebliche Abhandlung.[1]

Überblick

Der Kritische Realismus, wie er von Kritischen Rationalisten wie Hans Albert oder Alan Musgrave formuliert wird, umfasst zwei Hauptthesen:

  1. Metaphysik: Es gibt eine vom menschlichen Denken unabhängige, strukturierte Wirklichkeit.
  2. Erkenntnistheorie: Diese Wirklichkeit ist für den Menschen zumindest bis zu einem gewissen Grade erkennbar.

Der Kritische Realismus ergreift die Partei des gesunden Menschenverstands, verlässt sich aber nicht völlig auf ihn. Er unterscheidet sich als philosophisch reflektierte Konzeption vom naiven Realismus des praktischen Alltagsmenschen durch die Überprüfung anhand wissenschaftlicher Kritik. Denn die Wirklichkeit ist nicht immer so beschaffen, wie es dem Alltagsdenken zu sein scheint.

Der Erkenntnisfortschritt der Wissenschaften ist eine praktisch bestätigte Tatsache; Kritik muss an der Art und Weise der Verwertung des wissenschaftlichen Fortschritts geübt werden.

In Verbindung mit einem konsequenten Kritizismus wendet sich der Kritische Realismus gegen jedwede Art angeblicher Kritikimmunität letzter Annahmen. Darunter fällt auch die sog. „reine“ Erkenntnistheorie, wie sie etwa von Kant mit seinem transzendentalen Begründungsversuch vorgetragen worden ist. Der Prozess menschlichen Erkennens müsse vielmehr auch in der Philosophie bzw. Erkenntnistheorie realistisch aufgefasst werden und sich an den Ergebnissen empirischer Forschung messen lassen. Da auf Rechtfertigungsstrategie und Letztbegründung verzichtet wird, kann bei der wechselseitigen Kritik von Erkenntnistheorie und sozialpsychologischen Theorien der Wahrnehmung und des Erkennens kein logischer Zirkel auftreten.

Die Methodologie der Wissenschaften kann dann als sozialtechnologische Anwendung dieser empirischen Theorien bzw. als eine „rationale Heuristik“ aufgefasst werden. Nicht zu verwechseln ist der Kritische Realismus mit dem Critical Realism.

Vertreter

Als (deutschsprachige) Vertreter des Kritischen Realismus werden genannt: Nicolai Hartmann, Oswald Külpe, August Messer, Hans Driesch, Erich Becher[2], Alois Riehl, Johann Friedrich Herbart[3], Bernhard Bavink, William Stern[4], Aloys Wenzl[5] und Paul Tholey.

Hans Albert bezeichnet den Kritischen Realismus als wesentlichen Teil der erkenntnistheoretischen Position des Kritischen Rationalismus.

George Santayana gilt als einflussreicher amerikanischer Vertreter des kritischen Realismus. Daneben werden Roy Wood Sellars und Arthur Lovejoy und – in einem weiteren Sinn – Bertrand Russell und C. D. Broad genannt. Der kanadische Jesuit Bernard Lonergan entwickelte eine umfassende kritisch realistische Philosophie.

Angenommen wird auch, dass die Erkenntnistheorie des Aristoteles im Sinne des Kritischen Realismus interpretiert werden kann.[3]

Siehe auch

Literatur

  • Hans Albert: Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Perspektive (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften. Band 53). Mohr, Tübingen 1987, ISBN 3-16-945229-0.
  • Andreas Losch: Von den Ursprüngen des Kritischen Realismus. In: Andreas Losch: Jenseits der Konflikte. Eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 978-3-525-56366-3, S. 105–134.
  • Andreas Losch: Das Paradigma des Kritischen Realismus. In: Christian Tapp, Christof Breitsameter (Hrsg.): Theologie und Naturwissenschaften. De Gruyter, Berlin 2014, ISBN 978-3-11-031797-8, S. 69–94.
  • Alan Musgrave: Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus. Mohr Siebeck/UTB, Tübingen 1993, ISBN 3-8252-1740-X.

Einzelnachweise

  1. Siehe Volltext unter Weblinks.
  2. W. D. Rehfus: Einführung in das Studium der Philosophie. 2. Auflage. 1992, ISBN 3-494-02188-0, S. 35.
  3. a b K. Lorenz: Abbildtheorie. In: J. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2. Auflage. Band 1, 2005, ISBN 3-476-01372-3.
  4. William Stern: Person und Sache. System der philosophischen Weltanschauung, Band 1: Ableitung und Grundlehre. Barth, Leipzig 1906 (2. Aufl. 1923); Band 2: Die menschliche Persönlichkeit, 1918 (3. Aufl. 1923); Band 3: Wertphilosophie, 1924; Begleitwort zu Band I,II,III auf Gleichsatz.de (abgerufen am 8. Januar 2019)
  5. Klaus Hentschel: Interpretationen und Fehlinterpretationen der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie durch Zeitgenossen Albert Einsteins. Science Networks Historical Studies 6. Birkhäuser, Basel 1990, ISBN 3-7643-2438-4, S. 249–252.

Weblinks