Litauische Mythologie
Die litauische Mythologie wird wie auch bei der Sprachverwandtschaft aufgrund vieler Ähnlichkeiten mit der lettischen und altpreußischen Mythologie zu einer baltischen Mythologie zusammengefasst. Große Ähnlichkeiten bestehen ferner auch mit den Spielarten der slawischen Mythologie.
Forschungsgeschichte
Quellenlage
Offiziell erfolgte die Taufe Litauens 1387, Niederlitauens gar erst 1413. Beschwerden über Spuren heidnischer Handlungen und heidnischen Glaubens finden sich bis ins 18. Jahrhundert. Relikte der litauischen Mythologie sind im Brauchtum, Liedgut und in Erzählformen bis heute erhalten. Konkrete Quellen über die litauische Mythologie liegen dennoch nur zerstreut und aus späterer Zeit vor. Dazu zählen das Chronicon Livoniae Heinrichs des Letten (1225–1227), die Livländische Reimchronik (1290–1296), die Reiseberichte des Wiegand von Marburg und die Chronik von Peter von Dusburg (1326). Später liefern die Chronik des Simon Grunau (1519–1529), kirchliche Verordnungen und Berichte der Jesuiten detailliertere Informationen. Mit der im 19. Jahrhundert beginnenden volkskundlichen Sammeltätigkeit wuchs auch das Interesse an erzählter litauischer Mythologie. Indes hatte die Mehrheit der litauisch Sprechenden bereits ihre alte Religion aufgegeben, und die Sänger der volkstümlichen dainos wie auch die Geschichtenerzähler waren sich oft der Bedeutung des Erzählten kaum oder nur unzureichend bewusst. Die von Forschern so zusammengetragenen Volkserzählungen und -lieder ohne Erklärungen galten als Rohmaterial für Versuche einer Rekonstruktion der Mythologie. Eine wichtige Quelle ist die religiöse Lexik, Eigennamen von Gottheiten und mythischen Wesen unter Anwendung etymologischer, historisch vergleichender Sprachwissenschaft.
Forschung
Spätere Quellen sind in ihrer Rezeption bereits teilweise als Rekonstruktionsversuche anzusehen, indem die litauischen Eigenheiten nach dem Modell der Antike verstanden werden und entsprechende Namen angeführt werden – so etwa bei Jan Lasicki De diis Samagitarum... 1582. Die erste umfangreiche Rekonstruktion schuf Anfang des 19. Jahrhunderts der polnisch-sprachige litauische Historiker Theodor Narbutt. Zwei neuzeitliche Ansätze von Marija Gimbutas und Algirdas Julien Greimas sind im Westen bekannt geworden, während die Arbeiten von Norbertas Vėlius, Gintaras Beresnevičius und Wladimir Toporow eher wenig Bekanntheit erreichten. Die Rekonstruktionsmethode ist jedoch problematisch, und kein Versuch hat bisher völlige Anerkennung erreicht.
Viele Gelehrte bevorzugen daher die Rekonstruktion einer jeweils eigenen litauischen Mythologie mittels der historischen, archäologischen und ethnographischen Daten – zunehmende Spezialisierung ist hier oft kontraproduktiv.
Das Problem bei diesem Vorgehen liegt darin, dass die litauische Mythologie niemals statisch war, sondern in ständiger Entwicklung begriffen, so dass sie über längere Zeiträume, auf die sich die Ethnologen konzentrierten, nie die gleiche Gestalt beibehielt. Des Weiteren waren die Forscher oft von Vorstellungen der slawischen Mythologie oder der antiken Mythologie geprägt.
Der Zugang Narbutts und die damit verbreiteten Vorstellungen fanden künstlerische Gestalt zum Beispiel, in Adam Mickiewicz' Theaterstück Dziady.
Rekonstruktion der Mythologie
Nach Marija Gimbutas basierte die Ausgangsstruktur der litauischen Mythologie auf einem matriarchalen System von Göttinnen, die verschiedene Aspekte der Natur zum Beispiel Himmel, Erde, Mond, Wasser, Luft etc. repräsentierten. Spätere Entwicklungen liefen in eine patriarchalische Richtung, so dass zahlreiche weibliche Göttinnen ihre Macht und Bedeutung verloren. Als Dualitäten standen für Tag- und Nachthimmel: Dievas (Lichtgottheit) resp.Vėlinės (Vorsteher des Totenreiches)
(siehe auch Polytheismus).
Bezüge zu anderen Mythologien
Die litauische Mythologie hat gemeinsame Wurzeln mit der lettischen Mythologie sowie mit der Mythologie der Altpreußen. Andererseits weisen einzelne Elemente eine große Gemeinsamkeit mit anderen Mythologien, besonders mit denen benachbarter Kulturen auf.
Perioden der litauischen Mythologie
Die vorchristliche Mythologie ist hauptsächlich durch Spekulationen und Rekonstruktionen bekannt, allerdings konnten einige bekannte mythologische Elemente durch neuere Quellen wie auch durch archäologische Entdeckungen bestätigt werden.
Die nächste Periode der litauischen Mythologie begann im 15. Jahrhundert und dauert bis Mitte des 17. Jahrhunderts. Die Mythen dieser Periode berichten meist als Heldenmythen über die Gründung des litauischen Staates. Die wohl bekanntesten Erzählungen sind die vom Traum des Großfürsten Gediminas und der Gründung der litauischen Hauptstadt Vilnius, sowie von Šventaragis, die ebenfalls die Geschichte von Vilnius thematisiert. Zahlreiche Erzählungen dieser Art nehmen Bezug auf konkrete historische Ereignisse. Im Allgemeinen prägen diese Mythen das Lebensgefühl des litauischen Patriotismus.
Die dritte Periode begann mit dem wachsenden Einfluss des Christentums und dem Wirken der Jesuiten und der protestantischen Mission ungefähr seit Ende des 16. Jahrhunderts. Die einstige bilderstürmerische Annäherung an das vorchristliche litauische Erbe im Volk erwies sich als nicht mehr sinnvoll, (Hieronymus von Prag hatte einst durch das Fällen der heiligen Bäume die Auswanderung der Litauer bewirkt) und man versuchte, den Volksglauben für missionarische Aktivitäten zu instrumentalisieren. Dieses führte auch zur Einbeziehung christlicher Elemente in die mythologischen Sagen und Erzählungen.
Die letzte Periode der litauischen Mythologie begann im 19. Jahrhundert, als dem kulturellen Erbe nicht nur durch die Eliten, sondern allgemein nationaler Wert zugesprochen wurde. Die Sagen und Erzählungen dieser Periode erwiesen sich zumeist als Reflexionen früherer Mythen, nicht als reale, sondern als verschlüsselte Erfahrungen der Vergangenheit. Sie konzentrierten sich auf moralische Probleme und auf eine heroischen Sicht der Vergangenheit, einzelne Helden trugen sehr häufig nicht einmal einen Eigennamen, sondern hießen „Führer“ oder „Schlossherr“.
Elemente der litauischen Mythologie
Gott und Natur
Die mythologischen Erzählungen, Lieder und Legenden befassen sich mit den natürlichen Gesetzmäßigkeiten und Vorgängen wie dem Wechsel der Jahreszeiten, den Beziehungen untereinander und mit dem Bestehen der Menschen. Das System der Natur wird häufig in Kategorien menschliche Verwandtschaftsbeziehungen dargestellt; ein wichtiges Beispiel (in zahlreichen Liedern und Erzählungen), bildet die Sonne (Saule) als Mutter, der Mond (Menuo) als Vater aber auch als Glücksbote, und die Sterne als Schwestern der Menschen.
Weiter illustrieren litauische Theonyme diese Naturverbundenheit:
- Bangputys – der über den Wellen weht
- Lauko sargai – Hüter des Feldes
Die Götterwelt
In der Baltischen Mythologie rangiert oben der furchterregende Patollo, der flammengekrönte Perkunas fungiert als blitzeschleudernder Gott des Feuers, Potrimpo ist ein ährenbekrönter Jüngling.
Die Laima (wörtlich „Glück“, hier in der Bedeutung von Schicksalsgöttinnen) spielen ebenso eine wichtige Rolle innerhalb der litauischen Mythologie.
Die Götterverehrung erfolgte durch Opfer, auch Menschenopfer in Form von Gefangenen, die man dem Kriegsgott widmete. Neben den öffentlichen Kulten wurden lokale Dimstipatis (=Ortsgeister) verehrt.
Als höchstes religiöses Fest galten die Nordlichtzeit um Ostern und vornehmlich die erst im Zuge der Gegenreformation verbotene Feier der Sonnenwende.
Einen eigenständigen Zweig der litauischen Mythologie stellt die Jenseitslehre dar, die indoeuropäische Elemente der Himmel- und Höllevorstellungen (veles bzw. Totengeister) aufgenommen hat.
Inneres Heldentum
Die litauischen Mythen offenbaren häufig den inneren Heroismus eines Menschen und symbolisieren dieses innere Sein in verschiedenen Szenen in mythologischen Ländern am anderen Ende der Erde oder im Himmel des Südpols; allgemein werden diese Plätze als „das Land über allen Meeren“ und „kosmisches Unterwasserkönigreich“ bezeichnet.
Gott und Moral
Mythen über moralische Fragen sind sehr verbreitet und nähern sich den volkstümlichen Fabeln, die in allen europäischen Nationen bekannt sind. Der Grundgedanke dieser Erzählungen ist häufig, dass Gott die Menschen besucht, um ihnen Fragen der Moral zu stellen, wobei die Menschen ihn aber nicht erkennen. Diesen Erzählungen gemäß sollte ein Mensch auf seine inneren Stimme der Harmonie und Gerechtigkeit hören, moralisch in der Gegenwart Gottes zu handeln, gleich wann und unter welchen Umständen er ihn sieht. Manche Gelehrte betonen den synkretistischen und vorchristlichen Charakter dieser Erzählungen.
Siehe auch
Literatur
- Norbertas Vėlius (Hrsg.): Baltų religijos ir mitologijos šaltiniai. 4 Bände. Vilnius 1996–2005.
- Norbertas Vėlius (Hrsg.): Lietuvių mitologija. 3 Bände. Vilnius 1993–2004. (Anthologie zur Forschungsgeschichte)
- Gintaras Beresnevičius: Trumpas lietuvių ir prūsų religijos žodynas. Vilnius 2001.
- Aleksander Brückner: Starożytna Litwa. Warschau 1904.
- Wilhelm Mannhardt: Letto-preußische Götterlehre. Riga 1936.
- Ph. Jouet: Religion et Mythologie des Baltes. 1989.
Weblinks
- Gintaras Beresnevičius short review of Lithuanian Mythologie. [1]
- Gintaras Beresnevičius über die Periodisierung und die Götter in der litauischen Mythologie. [2]
- Algirdas Julien Greimas: Of Gods and Men: Studies in Lithuanian Mythologie. Indiana Univ. Press, November 1992.