Mental Load

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Mental Load (deutsch etwa psychische Belastung) bezeichnet im deutschen Sprachraum vorrangig die Belastung, die durch das Organisieren von Alltagsaufgaben entsteht, die gemeinhin als nicht der Rede wert erachtet werden und somit weitgehend unsichtbar sind.

Sie greift dabei Gedankengänge der Cognitive Load Theory (CLT) auf. Über die Summe der praktischen Aufgaben hinaus beschreibt Mental Load die Last der alltäglichen Verantwortung für Haushalt und Familie, die Beziehungspflege sowie das Auffangen persönlicher Bedürfnisse und Befindlichkeiten.[1] „Nicht immer lassen sich Mental Load (die Verantwortung für den Gesamtprozess) und Aufgaben klar trennen.“[2] Gebraucht wird der Ausdruck in erster Linie, um auf die ungleichmäßige Verteilung unbezahlter Sorgearbeit[3] und die mit ihr verbundenen Belastung in persönlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Strukturen hinzuweisen.

Ursprung

Seit den frühen 1970er-Jahren wird Mental Load als Begriff für geistige Belastungserscheinungen verwendet und ihr Zusammenhang mit Stress sowie die Auswirkungen auf Vitalparameter in verschiedenen Berufsgruppen diskutiert.[4][5] Die jetzige Verwendung des Begriffs entspringt vorrangig dem gleichnamigen „feministischen“ Comic der französischen Zeichnerin Emma,[6] der durch die britische Tageszeitung The Guardian größere Bekanntheit errang.[7] In diesem wird ungleiche Aufgaben- und Rollenverteilung heterosexueller Beziehungen thematisiert, die neben der Geschlechtersegregation am Arbeitsmarkt auch die im Haushalt wiederkehrenden Aufgaben, Betreuungssituationen sowie weiche Faktoren wie die Kenntnis sozialer Konstellationen der Kinder einbezieht. Deren Aufwand wird demnach in den seltensten Fällen von beiden Partnern wahrgenommen, sodass erhebliche Freizeiteinbußen für Frauen entstehen.[8] Die Soziologin Arlie Russell Hochschild fasst Mental Load unter dem Begriff Emotional Labor (Emotionsarbeit), den sie als Kombination aus Emotions- und Lebensmanagement definiert, welche unbezahlte und unsichtbare Arbeiten umfasst, die getan werden, um das Leben der Menschen im eigenen Umfeld bequem und glücklich zu machen.[9] In Deutschland machte Patricia Cammarata das Konzept weithin bekannt.[10] 2020 wurde der Begriff im Zusammenhang mit den mentalen Belastungen durch die Folgen der COVID-19-Pandemie gebraucht.[11][12][13]

Überschneidung zu Pflegearbeit und Care-Nexus

Gender Care Gap

Kreise, die mit „Mental Load“, „Paid Work“, „Care Work“ beschriftet sind, formen Schnittmengen
Überschneidende Belastung durch Erwerbs-, Pflege- und Koordinationsarbeit

Frauen wenden in Deutschland pro Tag im Durchschnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, Hausarbeit und Ehrenamt auf als Männer.[14] Dieser Unterschied wird als Gender Care Gap bezeichnet. Er wurde im Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung[15][16] auf Basis der dritten Zeitverwendungserhebung (ZVE) des statistischen Bundesamtes berechnet und schließt auch die ungleiche Verteilung kognitiver Arbeit und der Mental Load sowie die Lücke im praktischen und theoretischen Wissen mit ein: „Weil Frauen in Haushalt und Familie die Verantwortung tragen, sind sie automatisch auch zuständig für Gesundheits- und Umweltfragen.“ Weil sie täglich einkaufen, sei es naheliegend, ihnen auch die moralische Zuständigkeit für Produktionsbedingungen und Umweltverträglichkeit aufzubürden.[17]

Eine US-amerikanischen Studie[18] zu den Auswirkungen einseitig verteilter Verantwortung für Haushalt und Familie und persönlichem Wohlbefinden kam 2019 zu dem Ergebnis, dass 88 Prozent der befragten Mütter die Termine ihrer Familie organisierten und 74 Prozent die notwendigen Haushaltsroutinen hauptsächlich allein verteilten. 78 Prozent der befragten Frauen gaben an, dass nur sie die Lehrerinnen und Erzieher ihrer Kinder kannten. „Allein dafür verantwortlich zu sein, das Familienschiff zu steuern, wirkte sich negativ auf die Lebenszufriedenheit der Frauen aus und führte bei vielen zu einem Gefühl von Leere.“[19]

Die für die Koordination von Pflegearbeit (care work) und Erwerbsarbeit (paid work) notwendige Mehraufgabenperformanz führt zu einer erhöhten Auslastung, die mit dem Split-Attention-Effekt verglichen werden kann.[20] Vereinzelt wird die Unschärfe des Mental-Load-Begriffs kritisiert und mit dem extensiv verwendeten Burnout-Syndrom verglichen.[21][22]

Verschiedene Selbsttests im Internet sollen dabei helfen, einen Überblick über die eigene Wochenarbeitszeit zu bekommen und deren Ausgewogenheit in der Beziehung zu erhalten.[23][24]

Negative Care

Elsa Dorlin merkt an, dass von Diskriminierung wie Misogynie, Rassismus oder Queerfeindlichkeit betroffene Personen im Alltag besonderen Aufwand für Selbstschutz und Community-Care aufwenden müssen. Dies gelte beispielsweise für die Planung sicherer Heimwege. Die verbundene Mehrbelastung und Mental Load bezeichnet sie als Dirty Care („schmutzige Pflege“) oder Negative Care („negative Pflege“).[25]

Siehe auch

Literatur

Comics

  • Emma (2018): Mental Load. A feminist comic. Seven Stories Press, New York, ISBN 978-1-609-80918-8; deutschsprachige Ausgaben: Ein anderer Blick. Feministischer Comic gegen die Zumutungen des Alltags, Unrast, Münster 2022, ISBN 978-3-89771-330-7 und Ein anderer Blick 2. Feministischer Comic gegen Mythen und falsche Glaubenssätze, Unrast, Münster, ISBN 978-3-89771-339-0.

Sachbücher/Ratgeber

  • Eve Rodsky (2019): Share the mental, rebalance your relationship and transform your life. London: Quercus, ISBN 978-1-529-40018-2.
  • Laura Fröhlich: Die Frau fürs Leben ist nicht das Mädchen für alles! Kösel, München 2020, ISBN 978-3-466-31146-0.
  • Patricia Cammarata: Raus aus der Mental Load-Falle: Wie gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingt. Beltz, Weinheim 2020, ISBN 978-3-407-86632-5.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Patricia Cammarata: „Mental Load hat zwei wichtige Aspekte, nämlich einmal diesen Aspekt der unsichtbaren To-dos. Also alles, was man eigentlich nicht miteinander abspricht, was aber trotzdem im Hintergrund immer geplant, bedacht und ja auch umgesetzt wird.“ In: Simone Schlosser: Mental Load. Wie gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingen kann. Deutschlandfunk Kultur, 2. März 2020, abgerufen am 3. April 2020.
  2. Patricia Cammarata: Was ist Mental Load? Abgerufen am 15. November 2020.
  3. Oxfams Studie zu sozialer Ungleichheit. 12 Milliarden Stunden Arbeit – ohne bezahlt zu werden. Oxfam Deutschland e.V., 20. Januar 2020, abgerufen am 15. November 2020.
  4. G. Mulder: Mental Load and the Measurement of Heart Rate Variability. In: Ergonomics. Band 16, Nr. 1. Groningen 1973, S. 69–83, doi:10.1080/00140137308924483.
  5. A. W. K. Gaillard: Comparing the concepts of mental load and stress. In: Ergonomics. Band 36, Nr. 9. Tilburg 1993, S. 991–1005, doi:10.1080/00140139308967972.
  6. Emma: You should’ve asked. In: Emma. Politics, things that make you think, and recreational breaks. 20. Mai 2017, abgerufen am 12. März 2020 (englisch).
  7. The genderwars of household chores. A feminist comic. In: The Guardian. 26. Mai 2017, abgerufen am 12. März 2020 (englisch).
  8. Dietmar Hobler, Christina Klenner, Svenja Pfahl, Peter Sopp, Alexandra Wagner: Wer leistet unbezahlte Arbeit? Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege im Geschlechtervergleich. Aktuelle Auswertungen aus dem WSI GenderDatenPortal. Report Nr. 35. In: Hans-Böckler-Stiftung. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), April 2017, abgerufen am 12. März 2020.
  9. Julie Beck: The Concept Creep of ‘Emotional Labor’. In: The Atlantic. 26. November 2018, abgerufen am 5. Dezember 2020 (englisch).
  10. Mental Load – Wie gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingen kann. Abgerufen am 19. Juli 2021.
  11. Esther Kogelboom: Auch Jammern über Corona ist infektiös. In: Der Tagesspiegel. 25. Oktober 2020, abgerufen am 15. November 2020.
  12. Alena Sander, Claire Grauer: Forschen und Schreiben in der Krise. Friedrich-Ebert-Stiftung, 20. August 2020, abgerufen am 15. November 2020.
  13. Leonie Schulte: Corona-Krise: Warum Familien jetzt über ihre Aufgabenteilung sprechen sollten. Redaktionsnetzwerk Deutschland, 23. März 2020, abgerufen am 15. November 2020.
  14. Bundesministerium für Familien und Senioren (BMFSFJ): Gender Care Gap – ein Indikator für die Gleichstellung. 27. August 2019, abgerufen am 18. August 2021.
  15. Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. 2017 (gleichstellungsbericht.de [PDF]).
  16. Nina Klünder: Differenzierte Ermittlung des Gender Care Gap auf Basis der repräsentativen Zeitverwendungsdaten 2012/13. 2017, doi:10.25595/1368 (genderopen.de [abgerufen am 14. August 2021]).
  17. Almut Schnerring, Sascha Verlan: Equal Care. Über Fürsorge und Gesellschaft. 2020, ISBN 978-3-7425-0526-2, S. 45.
  18. Lucia Ciciolla, Suniya S. Luthar: Invisible Household Labor and Ramifications for Adjustment: Mothers as Captains of Households. In: Sex Roles. Band 81, 22. Januar 2019, S. 467–486.
  19. Lou Zucker: "Ich habe aufgehört, ihm den Wickelbeutel zu packen": Wie Eltern sich unsichtbare Arbeit teilen. In: Der Spiegel. 26. April 2020, abgerufen am 15. November 2020.
  20. Simone Schlosser: Mental Load. Wie gerechte Arbeitsteilung in der Familie gelingen kann. In: Deutschlandfunk Kultur. 2. März 2020, abgerufen am 12. März 2020.
  21. Judith Fischer: Frauen-Burnout. So schützen wir uns vor „Mental Load“. In: Elle. Abgerufen am 12. März 2020.
  22. Anna Eube: Überlastete Frauen. Mit „Du hättest mich nur fragen müssen“ betreten Männer ein Minenfeld. In: Die Welt. Axel Springer SE, 4. Februar 2019, abgerufen am 12. März 2020.
  23. Andrea Jansen: Wieviel arbeite ich? Die Rechnung: Care Work + Paid Work + Mental Load. In: mal ehrlich. by anyworkingmom (Blog). Any Working Mom GmbH, 1. Oktober 2018, abgerufen am 12. März 2020.
  24. dasnuf: Der GROSSE Mental Load Test für Väter! In: Das Nuf Advanced. Patricia Cammarata, 7. März 2020, abgerufen am 12. März 2020.
  25. Elsa Dorlin: Selbstverteidigung Eine Philosophie der Gewalt. 1. Auflage. Berlin 2022, ISBN 978-3-518-29982-1.