Michael Andreas Barclay de Tolly

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Barclay de Tolly, Gemälde von George Dawe

Fürst Michael Andreas Barclay de Tolly (russisch Михаил Богданович Барклай-де-Толли, transkribiert Michail Bogdanowitsch Barklai-de-Tolli; * 16. Dezemberjul. / 27. Dezember 1761greg. in Pomautsch (litauisch Pamūšis), Gemeinde Scheimeln (litauisch Žeimelis), heute zu Rajongemeinde Pakruojis, Litauen; † 13. Mai 1818[1] in Insterburg, Preußen) war ein russischer Generalfeldmarschall und Kriegsminister baltendeutscher Herkunft.

Leben

Herkunft und militärischer Aufstieg

Barclay de Tolly entstammte einer deutschbaltischen Familie mit schottischen Wurzeln (Clan Barclay), die im 17. Jahrhundert in Livland ihre Heimat gefunden hatte. Michael Andreas (Michael Bogdanowitsch) wurde 1761 als Sohn von Weinhold-Gotthard Barclay (1734–1781, russische Quellen gaben ihm den Namen Bogdan) und der Margaret Elizabeth von Smitten (1733–1771), der Tochter eines Pfarrers, geboren. Michael Andreas trat bereits mit 15 Jahren in die russische Armee ein und nahm an den Kämpfen gegen die Türken (1788–1789) und gegen die Schweden und Polen (1790 und 1794) teil. Er wurde 1798 Oberst und 1799 in den Rang eines Generalmajors erhoben. Barclay de Tolly war Mitglied der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt.

Im Koalitionskrieg gegen Napoleon (1806) spielte Barclay de Tolly eine entscheidende Rolle in der Schlacht bei Pułtusk und wurde bei Preußisch-Eylau verwundet. Aufgrund seiner persönlichen Tapferkeit wurde er zum Generalleutnant befördert.

Im Russisch-Schwedischen Krieg (1808–1809) um die Vorherrschaft in Finnland eroberte er als Oberbefehlshaber der Finnischen Armee Umeå nach einem wagemutigen Marsch über den gefrorenen Bottnischen Meerbusen. Am 1. April 1809 wurde er zum General der Infanterie befördert und am 10. April zum Generalgouverneur des besetzten Finnland ernannt.

Am 1. Februar 1810 wurde er zum Kriegsminister ernannt; während dieser Zeit trug er durch Verdoppelung des Heeres und den Bau von Festungen wesentlich zur Stärkung der russischen Armee bei.

Mitte März 1812 verließ er St. Petersburg und begab sich nach Wilna, um Anfang April den Befehl über die 1. russische Westarmee zu übernehmen. Dazwischen hielt er sich am 26. März bei seinem Cousin Augustus Wilhelm Barclay in Riga auf, um die Festungsanlagen der Stadt und die dort stationierten Truppen zu inspizieren. Die Angelegenheiten des Kriegsministers wurden von seinem Stellvertreter Fürst Alexei Iwanowitsch Gortschakow zunächst in Vertretung und ab September 1812 in Person übernommen.

Der Russlandfeldzug 1812

Denkmal Barclay de Tolly in Tschernjachowsk (Insterburg)
Barclay-de-Tolly-Denkmal (B. I. Orlowski, 1837) vor der Kasaner Kathedrale, St. Petersburg

Nach dem Beginn des Russlandfeldzuges von 1812 hatte Barclay de Tolly Ende Juni 1812 neben der 1. Westarmee den nominellen Oberbefehl über die gesamte russische Armee. Die zahlenmäßig unterlegenen russischen Streitkräfte hätten anfangs in offener Feldschlacht gegen die Grande Armée der Franzosen nicht bestehen können. Barclays Strategie war es, die französische Hauptarmee unter Napoleon tief nach Russland hinein zu lassen, alle brauchbaren Magazine und Lebensmittel zu vernichten und dann aus dem Hinterhalt mit überfallartigen Gegenangriffen zu beginnen (Taktik der verbrannten Erde). Das Ausweichen und Zurückweichen sollte die russischen Truppen für die Entscheidung schlagkräftig erhalten. Ähnlich waren ein Jahrhundert zuvor die Schweden unter Karl XII. im weiten russischen Raum geschwächt und besiegt worden. Barclays Kritiker am Hof sahen in dieser Strategie jedoch keine Voraussicht, sondern ein Zeichen von Unentschlossenheit oder gar von Feigheit.[2] Insbesondere der Brand von Smolensk und der Verlust dieser alten russischen Metropole wurde Barclay von vielen Russen als Landesverrat durch einen „Deutschbalten“ ausgelegt. Zar Alexander I. wollte das bedrohte Moskau nicht ohne Kampf aufgeben und übertrug am 20. August den Oberbefehl an Fürst Michail Kutusow. Der abberufene Barclay de Tolly wurde aber aufgrund seines persönlichen Mutes und seiner Tapferkeit im Kampf weiterhin gefeiert. In der Schlacht bei Borodino am 7. September noch als Armeeführer eingesetzt, verlor er im Kampf fünf Pferde unter sich; neun seiner zwölf Adjutanten wurden getötet oder verwundet. Für seinen persönlichen Einsatz wurde er mit dem St.-Georgs-Orden 2. Klasse ausgezeichnet. Anfang Oktober 1812 musste er die Armee aber aus gesundheitlichen Gründen verlassen.

In den Befreiungskriegen

Bereits 1813 begab er sich erneut in die Dienste der russischen Armee und nahm in den Befreiungskriegen an den Kämpfen bei Thorn, Großgörschen und Bautzen teil. Nach der Schlacht bei Bautzen (20./21. Mai) wurde er erneut zum Oberbefehlshaber der russischen Truppen ernannt. Mitte Oktober 1813 führte er zusammen mit dem Grafen von Wittgenstein die russische Armee in der Völkerschlacht bei Leipzig. Schon vorher, am 25. Mai 1813, hatte ihm der preußische König Friedrich Wilhelm III. den Schwarzen Adlerorden verliehen.[3] Seine Verbände eroberten Liebertwolkwitz, versuchten am 18. Oktober erfolglos, das strategisch wichtige Probstheida zu erobern, erstürmten aber am 19. Oktober das Windmühlen- und Sandtor in Leipzig. Barclay de Tolly war auch Oberbefehlshaber der russischen Armee bei ihrem Vormarsch nach Frankreich und nahm 1814 an der Einnahme von Paris teil.

Letzte Lebensjahre

Nach Ende der Kriegshandlungen wurde er aus dem Grafenstand zum Fürsten erhoben. Er setzte sich in Livland, der Heimat seiner Frau, zur Ruhe und starb am 13. Maijul. / 25. Mai 1818greg.auf Gut Stilitzen in der Nähe von Insterburg (Preußen) auf einer Reise nach Karlsbad. Die Gerüchte, dass es sich um Giftmord handelte, haben sich als unbegründet erwiesen. Der Eintrag im Helmetschen Sterberegister nennt als Todesursache „Gallenstein“. Barclay de Tolly wurde einbalsamiert und nach Riga gebracht, wo am 30. Maijul. / 11. Juni 1818greg. eine große Trauerfeier abgehalten wurde und der Sarg bei der Kronkirche St. Jakob aufgebahrt wurde.[4]

Am 13. Julijul. / 25. Juli 1818greg. fand dann die Beisetzung[5] auf seinem livländischen Gut Beckhof (estnisch Jõgeveste), Gemeinde Helme statt.

Gedenken

1823 wurde in der Nähe des Gutes ein Mausoleum im klassizistischen Stil[6] errichtet, in dem Barclay de Tolly und seine am 17. Maijul. / 29. Mai 1828greg. verstorbene Ehefrau Helene Auguste Eleonore von Smitten (geb. 1770) beigesetzt sind. Ihm zu Ehren wurde eine Büste in der Walhalla aufgestellt; eine weitere Büste steht auf einem Denkmal des nach ihm benannten Platzes in der estnischen Stadt Dorpat. 1913 errichtete die Stadt Riga in den Parkanlagen auf der Esplanade zur Elisabethstraße hin ein Barclay-de-Tolly-Denkmal mit einem fast fünf Meter hohen Bronzestandbild des Feldmarschalls. Es war von dem deutschen Bildhauer Wilhelm Wandschneider entworfen und in der Kunstgießerei Lauchhammer gegossen worden.[7] Das Standbild ging aber bereits 1915 verloren, nachdem es vor der deutschen Besetzung aus der Stadt auf den britischen Dampfer Serbino gebracht worden war, der wiederum am 16. August durch das U-Boot SM U 9 in der Rigaer Bucht versenkt wurde. Nach einem erhaltenen Modell wurde 2002 das Standbild rekonstruiert und auf dem Originalsockel wieder aufgestellt. Auch in Tschernjachowsk (Insterburg) wurde vor einigen Jahren ein Denkmal errichtet, das ihn als Feldherrn zu Pferd darstellt.

Das 1868 veröffentlichte Weltliteratur-Werk Krieg und Frieden von Leo Tolstoi trägt eine wesentlich dazu bei, dass jahrzehntelang die Verdienste Barclay de Tollys um die Verteidigung Russlands gegen Napoleon fälschlicherweise (insbesondere in Russland) Kutusow zugeschrieben wurden. Tolstoi entsprach dabei der im 19. Jahrhundert einsetzenden Emanzipationsströmung in Russland, die zugunsten russischer Entwicklungen die Verdienste ausländischer Führungspersönlichkeiten zurückdrängen wollte (vgl. Russifizierung).

Alexander Puschkin widmete 1834 vor dem Hintergrund dieser Geschichtsrevision Barclay de Tolly sein Gedicht „Der Feldherr“ (Unglücksreicher Feldherr! Wie dein Schicksal dich so karg bedachte / Ob dein Herz dem fremden Lande Alles gleich zum Opfer brachte / ... / Jenes Volk, dem du zur Rettung von der Schande ausersehen / Wagt im frechen Übermut dein heilig Greisenhaupt zu schmähen).

Da Barclays Familie Ende des 19. Jahrhunderts auszusterben drohte, wurde der Fürstentitel auf die Familie seiner Schwester übertragen (Alexander Barclay de Tolly-Weymarn).

Die russische Fluggesellschaft Aeroflot hat einen Teil ihrer Boeing-777-Flotte nach Militärführern aus den Kriegen gegen Napolon benannt. Die Maschine mit der Kennung VP-BGD - 41681 trägt den Namen M. Barklay-de-Tolly.[8]

Literatur

  • Friedrich Wilhelm von Weymarn: Barclay de Tolly und der vaterländische Krieg 1812. Franz Kluge Verlag, Reval 1914.
  • Georg von Rauch: Barclay de Tolly, Michael Andreas Graf von. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 1, Duncker & Humblot, Berlin 1953, ISBN 3-428-00182-6, S. 583 (Digitalisat).
  • Michael Josselson, Diana Josselson: The Commander. A Life Of Barclay de Tolly. Oxford University Press, Oxford u. a. 1980, ISBN 0-19-215854-6.
  • Rein Helme: Kindralfeldmarssal Barclay de Tolly. Eesti Entsüklopeediakirjastus, Tallinn 2006, ISBN 9985-70-202-6.
  • Hans-Georg Grasemann: Barclay de Tolly. In: Zeitschrift für Heereskunde, Jg. 77 (2013), Nr. 450, S. 172–176.

Weblinks

Commons: Michael Andreas Barclay de Tolly – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Eintrag im Beerdigungsregister der Gemeinde Helmet, Estland (estnisch: Helme kogudus)
  2. Arne Mentzendorff: Baltische Lebenswege. Rätsel um Persönlichkeiten in Estland und Lettland. Neue Folge. Books on Demand, Norderstedt 2017, ISBN 978-3-7431-3284-9, S. 80.
  3. Louis Schneider: Das Buch vom Schwarzen Adler (= Die preussischen Orden, Ehrenzeichen und Auszeichnungen, Bd. 9). Duncker, Berlin 1870, S. 206
  4. Nr. 23 der Rigaischen Stadtblättern vom 4. Juni 1818 [1]
  5. Estländisches Archiv SAAGA [2], Dokumente EAA.1296.2.6 (Seite 9) und EAA.1296.2.4 (Seite 376) - Benutzer-Registrierung erforderlich.
  6. Barclay-de-Tolly-Mausoleum Archivierte Kopie (Memento vom 16. September 2016 im Internet Archive)
  7. Wilhelm Neumann: Führer durch Riga. 3., verbesserte Aufl. Fritz Würtz, Berlin 1918, S. 11.
  8. [3]